• Keine Ergebnisse gefunden

Lern- und Entwicklungswege

Im Dokument Die Balance der Verantwortung (Seite 100-105)

5. Pädagogische Kategorien existenzieller Verantwortung

5.2 Der Fokus auf das Kind und den Jugendlichen – Die Erziehung zur Verantwortung

5.2.2 Pädagogische Kategorien und Entwicklungswege zur Verantwortungsfähigkeit

5.2.2.4 Lern- und Entwicklungswege

Die Verantwortungsfähigkeit ist ein Prozess und der junge Mensch muss in den damit verbun-denen Anspruch schrittweise hineinwachsen. Er muss die Möglichkeit haben unterschiedliche Erfahrungen mit sich selbst, seinen Mitmenschen und der Welt zu machen. Diese Erfahrungen betreffen zwei Ebenen, die im Zusammenhang verantwortungsvoller Entscheidungen stehen:

Verstandes- und Gefühlswelt. Daraus ergeben sich zwei Entwicklungswege: Neben dem Weg der Erkenntnis muss der junge Mensch den Weg der Liebe beschreiten. Bezogen auf die Erziehung zur Verantwortung bedeutet dies, beiden Ebenen Entwicklungschancen zu bieten.

Der Erziehungs- und Bildungsprozess des jungen Menschen muss die soziale, ästhetische und kulturelle Erkenntnis gleichberechtigt zur Emotionalität und körperlichen Fertigkeit betrachten und fördern. Für HÜTHER geht es um die Schulung von Wahrnehmung, Empfindung, Erkennt-nis und Bewusstheit.361 Dabei bilden die zuvor beschriebenen pädagogischen Kategorien

‚Vertrauen’ sowie ‚Kontakt und Orientierung’ die Grundlage, auf der der junge Mensch den Erkenntnis- und Liebesweg vollziehen kann.

Um den Weg der Erkenntnis zu gehen, benötigt der junge Mensch nicht nur Informationen und Wissen. Erkenntnis lässt sich vor allem durch eigenes Erleben gewinnen. Dabei wird der Erkenntnisgewinn gesteigert, wenn das Erlebnis durch Reflexion zu einer langfristigen Erfah-rung wird.362 Ungeachtet der Möglichkeiten, beim Wissenserwerb Informationen und die Erfahrungen anderer zu nutzen, ist es für die Entwicklung der Verantwortungsfähigkeit uner-lässlich, eigene Erlebnisse und Erfahrungen zu machen. Verantwortlichsein lernt der junge Mensch vor allem dadurch, dass er selbst Verantwortung übernimmt, immer wieder, in unter-schiedlichen Situationen und Zusammenhängen, allein oder in der Gruppe. Die Basis der Intentionalität stellt für MASSCHELEIN die Notwendigkeit dar, „Stellung zu beziehen, zu antwor-ten, verantwortlich zu sein“.363 Die Verantwortungsfähigkeit baut zwar auf Wissen auf, aber sie bleibt dort nicht stehen, sondern verlangt den Vollzug der Tat. Erst dann kann der junge Mensch sich selbst, seine Mitmenschen und die Welt in ihren Möglichkeiten, Grenzen und Zusammenhängen ganzheitlich erkennen und verstehen.

361 Vgl. HÜTHER52005, 97ff.

362 Der Zusammenhang von Geschehen, Ereignis, Erlebnis und Erfahrung in dieser Arbeit verläuft in folgenden Schritten: unter dem Begriff Geschehen wird eine neutrale Gegebenheit verstanden, die sich ohne meine Kenntnis bzw. ohne mein dabei sein vollzieht. Sobald ich von dem Geschehen Kenntnis bekomme oder es wahrnehme wird es zum Ereignis. Wenn ich dieses Ereignis selbst erlebe wird es zum Erlebnis. Wird dieses

Menschliche Entscheidungen beruhen auf der Verarbeitung und Bewertung von Informatio-nen. Den ersten Filter, den die Informationen durchlaufen, stellen die Sinnesorgane dar. Aus den Sinneseindrücken entwirft der Mensch sein subjektives Bild der Wirklichkeit. Die Art der Wahrnehmung ist die Grundlage des Verhaltens. Je umfassender der junge Mensch sich selbst und seine Umwelt wahrnimmt, umso flexibler kann sich sein Verhalten ausbilden.

Wichtig erscheint daher die innere und äußere Wirklichkeit mit allen Sinnen wahrzunehmen.

So lassen sich z.B. Schmerz und Leid trotz aller Bemühungen nicht aus der Welt schaffen, aber ihre Wahrnehmungsweise lässt sich verändern. Indem der Mensch seinen Blick auf die Dinge des Lebens ändert, verändert er zugleich auch die innere Erfahrung und letztlich den Umgang damit. Neben der Wahrnehmung ist die Art des Denkens für Entscheidungen bedeutsam. Die Art und Weise, wie der junge Mensch über die Welt denkt, ist relevant für die Verarbeitung von Eindrücken und Erfahrungen. Er benötigt Kenntnis darüber, dass Denken immer eine Entscheidung bedeutet und er für die Art seines Denkens und seinen Erkenntnisprozess die Verantwortung trägt. Je breiter und flexibler sein Repertoire an Denkmustern ist, desto besser kann der junge Mensch mit unterschiedlichen Aufgaben und Herausforderungen umgehen.

Zur Übernahme existenzieller Verantwortung benötigt er ein vernetztes und ganzheitliches Denken. Der junge Mensch muss Sachverhalte aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten können, um das Für und Wider seiner Entscheidungen und seines Handelns abzuwägen. Für erfolgreiches Lernen scheint es notwendig zu sein, das Wissen und die Erfahrungen immer wieder aufs Neue in andere Zusammenhänge zu verorten. Wissen und Erfahrungen schaffen Perspektiven und eröffnen Möglichkeiten der Entwicklung. Sie beinhalten die Chance, Alterna-tiven zu entwickeln. Auf der Grundlage eines breiteren Erkenntnishorizontes kann der junge Mensch Herausforderungen anders und vielleicht auch besser bewältigen. Dabei muss in ihm die Erkenntnis wachsen, dass mit Lernen und Entwicklung auch seine Verantwortung wächst, weil sich dadurch Möglichkeiten zu Entscheidungsalternativen ergeben.

Um als Mensch den Weg der Erkenntnis zu beschreiten, ist es wichtig und notwendig, Infor-mationen über die Zusammenhänge des Daseins zu erhalten. Neben der Erfahrung geht es auch um die Vermittlung und Reflexion der unter Kapitel 4 vorgestellten Zusammenhänge und Begründungen menschlicher Verantwortung. Zur Entwicklung der Verantwortungsfähigkeit bedarf es der Erkenntnis der eigenen Verbundenheit und Eingebundenheit ebenso wie der eigenen Fähigkeiten und Grenzen. Ohne eine Wissen darüber, dass die Verantwortung in Bezug zu seiner Existenz mit anderen Menschen und Geschöpfen steht, sie aber auch mit seiner Freiheit und Macht zusammenhängt, wird ihm die Bedeutung des Verantwortungsphä-nomens im Unklaren bleiben. Schließlich muss der junge Mensch die in der Verantwortung

die Verantwortung die Verwirklichung seiner Existenz geschenkt bekommt, schafft die Voraus-setzungen um ein ‚Interesse an’ der Verantwortung zu entwickeln.

Bei allem Erkenntnisgewinn darf das Staunen und sich Wundern nicht verloren gehen. Der junge Mensch braucht ein Verständnis dafür, dass er nicht alles wissen muss und nicht alle Erlebnisse machen kann. In Anbetracht des aktuell herrschenden Überangebots an Wissen und Erlebnismöglichkeiten ist dies ein notwendiger Schutz vor Überforderung und Enttäu-schung. Aus der Unerklärlichkeit erwächst die Demut und Erfurcht vor dem Größeren. Neben der Unerklärlichkeit führt der Weg der Erkenntnis auch über Irrungen und Fehleinschätzungen.

„Wer nicht selbstständig geirrt hat, weiß nicht, was sicheres Wissen ist.“364 Hier zeigt sich ein Zusammenhang zum Begründungsaspekt von Freiheit und Macht. Indem der junge Mensch seine Begrenztheit erfährt, lernt er mit seiner Freiheit und Macht verantwortungsvoll umzuge-hen. Nur wenn der junge Mensch das Leben und die Welt kennen und verstehen lernt, wird er bereit sein dafür, die Verantwortung zu übernehmen. Für den jungen Menschen ist es wichtig zu erkennen, dass er erst mit der Übernahme von Verantwortung etwas verändern kann. Dann kann er erkennen, dass die Entscheidungen, die er trifft, sein Leben bestimmen. Anstatt sein Leben und sein Schicksal zu beklagen, kann er sich fragen, was er daraus lernen kann.

Die Erkenntnis entfaltet im Menschen dann ihre sinnstiftende Wirkung, wenn sie mit dem Weg der Liebe verbunden ist. Der Weg der Liebe zeigt sich als zweiter Entwicklungspfad des jungen Menschen zur Übernahme existenzieller Verantwortung. Im Gegensatz zum intellektu-ellen Verständnis, das auf dem Prinzip der Trennung aufbaut, meint dieser Weg die Entwick-lung eines mitfühlenden Verstehens, das durch inwendiges Schauen entsteht. Liebe ist positi-ves Denken in Reinkultur und bedeutet in letzter Konsequenz auch, seine Probleme zu lieben.

Liebe meint, sich selbst und die Welt zu akzeptieren und nicht, sie zu be- oder gar zu verurtei-len. Die Liebe kommt aus dem Herzen und meint die bedingungslose Anerkennung von sich selbst und den Mitmenschen. Für PIEPER ist „richtig verstandene Selbstliebe die Quelle aller Moral.“365 Aus ihr speisen sich Empathie und Mitgefühl366. Liebe verbindet, löst Ängste auf und schafft die Voraussetzung für nachhaltige Entwicklungs- und Lernbedingungen. Sie eröffnet den Zugang zur inneren Gefühlswelt und ermöglicht so die Nutzung aller menschli-chen Potentiale. Der junge Mensch benötigt die Erfahrung, dass die Liebe ein Phänomen des

364 Vgl. RUMPF 1985, 751.

365 PIEPER42000, 277.

366 In dieser Arbeit wird zwischen Mitgefühl und Mitleid unterschieden. Mitgefühl meint ein mitfühlendes Verste-hen und hat eine wertschätzende Grundhaltung zur Basis. Eine Person, die mitfühlt, stellt sich auf die gleiche Ebene wie die betroffene Person. Sie bleibt in einem achtsamen Kontakt und weiß um die Fähigkeit des

Lebens ist, von dem er mehr bekommt, je mehr er gibt. Nur mit der Liebe kann der junge Mensch die wirkliche Bedeutung des Lebens und seiner Existenz erfahren.

Aus der Erfahrung positiver emotionaler Zuwendung erwächst für ihn die Möglichkeit, Re-spekt und Achtung gegenüber der eigenen Person, seinen Mitmenschen und der Welt zu entwickeln. Diese Erfahrung hilft ihm, sich selbst in seiner kreatürlichen Unvollkommenheit anzunehmen und sich seiner Verbundenheit mit allen Geschöpfen und der Welt bewusst zu werden. Über den Weg der Liebe lernt er, dass alles einen unmessbaren und unberechenba-ren Wert in sich trägt und eine Würde an sich besitzt. Der Weg der Liebe führt nach innen zu sich selbst. „Wer selbst bestimmen will, muss sich [...] kennen.“367 Notwendig für die erfolgrei-che Beschreitung des Lern- und Entwicklungswegs zur Verantwortungsfähigkeit ist die Ausei-nandersetzung mit sich selbst und den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen.

Dieser Entwicklungsweg bedeutet zu lernen, auf die inneren Signale und Stimmen zu hören und sie urteilsfrei zu betrachten. Das Augenmerk liegt auf der Entdeckung der inneren Welt.

Nur wenn der junge Mensch lernt sich selbst zu begegnen, ist er dazu in der Lage, sein Leben wahrhaft zu leben und Verantwortung dafür zu übernehmen.

Die Fähigkeit, sich selbst und die Umwelt urteilsfrei zu beobachten, ist die Grundlage von Bewusstsein. Indem der junge Mensch lernt still zu sein und der eigenen inneren Welt zuzuhö-ren, erlangt er Ein-Sicht. Bewusstsein meint in jedem Augenblick dort zu sein, wo ich bin, anwesend zu sein mit meinem Körper und Geist. Es ist Ausdruck eines Lebens im Hier und Jetzt und des Gewahrseins der allumfassenden Verbundenheit aller Wesen und Geschöpfe.

Zentral erscheint eine wertschätzende und sinnhafte Sichtweise auf sich selbst und die Welt.368 Der junge Mensch braucht die Erkenntnis und das Bewusstsein, dass seine wahre Freiheit jenseits der Grenzen liegt, die er sich selbst setzt und sie in der Wahl seiner Sichtweise auf sich selbst und der Welt liegt. Durch den ausbalancierten Kontakt zwischen selbst und anderen entwickelt er seine Intuition und folgt dem eigenen Weg. Damit verbunden ist die Fähigkeit zur schöpferischen Anpassung und Bewältigung von Krisen. Er wird fähig, mit Schmerz und Leid sinnorientiert umzugehen und kann Konflikte und Widersprüche konstruktiv für seine Entwicklung nutzen. Er entwickelt ein intuitives Verständnis dafür, wo es sich lohnt, kraftvoll den eigenen Interessen zu folgen und wo es sinnvoll ist, diese zu verändern. Er lernt nicht nur die Welt zu gestalten, sondern auch sich ihr hinzugeben. Er versteht, wo es hilfreich ist, die Kontrolle aufzugeben und den Mut zur eigenen Weiterentwicklung aufzubringen, um neuen Lösungs- und Entwicklungsmöglichkeiten eine Chance zu geben.

367

Schließlich ist es für den jungen Menschen wichtig, trotz aller Anforderungen und Ansprüche in allen Lern- und Entwicklungsprozessen die Freude und den Humor nicht zu verlieren. Er braucht die Erkenntnis, dass er immer die Freiheit hat, über sich selbst zu lachen. Es geht darum zu erfahren, dass er das Leben auf eine spielerische Art leben kann, um den Imperativ der Lebenskunst zu verwirklichen: sein Leben so zu gestalten, dass es für ihn bejahenswert ist.

5.3 Der Fokus auf den Erwachsenen - Die pädagogische

Im Dokument Die Balance der Verantwortung (Seite 100-105)