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Ergebnisse der etymologischen und geistesgeschichtlichen Analyse

Im Dokument Die Balance der Verantwortung (Seite 48-53)

4. Anthropologie menschlicher Verantwortung

4.1 Ergebnisse der etymologischen und geistesgeschichtlichen Analyse

Die Begriffsanalysen zeigen einen Entwicklungsverlauf im Verständnis menschlicher Verant-wortung. Das Verständnis durchlief einen Wandlungsprozess, wobei zwei grundlegende Interpretationsvarianten mit unterschiedlichen Entwicklungen, Merkmalen und Zusammen-hängen sichtbar werden:

y Verantwortung verstanden als Zurechnung und Rechtfertigung und y Verantwortung als existenzielles Antworten.

Abbildung 4: Interpretationslinien des Verantwortungsbegriffs

Aus etymologischer Sicht enthält der Verantwortungsbegriff beide Verständnisse. Jedoch verdeutlicht die geistesgeschichtliche Analyse, dass sich diese in ihrer Anwendung zu

unter-VERANTWORTUNG

juristische Verantwortung

ethi-scher Aspekt Verstanden als

Zurechnung und Rechtfertigung

Verstanden als

existenzielles Antworten

Frage nach Schuld und Ausgleich Frage nach Notwendigkeiten und Möglichkeiten

existenzielle Verantwortung recht-

licher Aspekt

schiedlichen Zeitpunkten entwickelt haben. Beide lassen sich auf eine gemeinsames Kernver-ständnis zurückführen: ‚Antworten’. Bei der juristischen Verantwortung bezieht sich dieses Antworten auf die Anfrage einer übergeordneten religiösen oder gesellschaftlichen Instanz.

Das Antworten versteht sich hier als Rechtfertigung. Übernimmt der Mensch juristische Ver-antwortung, so muss er sein Tun vor Gott, gegenüber einem weltlichen Gericht oder seinen Mitmenschen begründen und dazu stehen. Die juristische Verantwortung kann sich dabei auch auf Gruppen oder Organisationen beziehen. Demgegenüber richtet sich die existenziel-le Verantwortung ausschließlich an das Individuum. Die Antwort ist hier existenzielexistenziel-ler Natur.

Sie bleibt nicht bei der Zurechnung einer Handlung stehen, sondern versteht sich als einen umfassenden Anspruch an den einzelnen Menschen. Für GALLING erweist sich die Wortanalyse der Verantwortung „als Vollzugsform eines existentiellen Dialoges.“192 Wenn der Mensch existenzielle Verantwortung trägt oder übernimmt, ist er als ganze Person dazu aufgefordert zu antworten.

Bis in die Moderne wurde der Verantwortungsbegriff als Synonym für Zurechnung und Rechtfertigung gesehen. Für KRAWIETZ stellt der Begriff ‚Zurechnung’ einen terminologischen Vorläufer des Verantwortungsbegriffs dar.193 Thematisch geht es beim älteren Verständnis um Pflichten, die Erfüllung von Aufgaben und um Fragen nach Schuld und Ausgleich. Es steht im Zusammenhang mit dem antiken und mittelalterlichen Welt- und Menschenbild. Der Mensch sah sich damals eingebunden in eine größere Ordnung, die es zu erhalten galt, um Unglück und Verderben zu vermeiden. Bestimmend war ein Ur-Misstrauen gegenüber dem Menschen, der als potentieller Störer der gegebenen Ordnung angesehen wurde. Der Mensch war dann verantwortungsvoll, wenn er sich den Gesetzen von Staat und Kirche unterordnete. Das damalige Verständnis von Verantwortung schloss im Gegensatz zu heute die Freiheit aus.194 Die Frage nach der Verantwortung des Menschen wurde viel enger diskutiert. Sie zielte auf den Erhalt des Gegebenen und wenn sie sich stellte, geschah dies unter religiösen oder juristischen Vorzeichen. Auch heute wird der Begriff Verantwortung häufig in diesem Zusam-menhang gebraucht. Dieses Verständnis orientiert sich an Gesetzen und Normen. Seine Merkmale sind die zeitliche und inhaltliche Begrenztheit. Es ist vergangenheitsbezogen und begrenzt sich auf die Zuschreibung und Bewertung von Verhaltens- oder Handlungsweisen.

Mit der Neuzeit und den Ideen der Aufklärung verränderte sich das Menschenbild. Dieser Wandel im Menschenbild bildet den Hintergrund für die Erweiterung des

192 GALLING (Hrsg.) 1962, 669.

193 KRAWIETZ In: MÜLLER (Hrsg.) 1991, 63.

ständnisses. KANT und später KIERKEGAARD rücken das menschliche Individuum ins Zentrum ihrer Analysen und schreiben ihm dank seiner Freiheit auch eine Pflicht zur Selbstentwicklung zu. Der Mensch kann sich nicht mehr ‚nur’ an gesellschaftlichen oder religiösen Normen und Werten orientieren. Er ist dank seiner Freiheit gerufen, sich zur moralischen Person zu entwi-ckeln. Die ihm innenwohnende Vernunft verpflichtet ihn zur Aufgabe, seine Entscheidungen und sein Handeln zu verantworten. Darin liegt für KIERKEGAARD die Chance der eigenen Rettung.195

Juristische Verantwortung Existenzielle Verantwortung

Auf eine Handlung begrenzte Ant-wort eines Einzelnen, einer Gruppe oder Organisation gegenüber einer rechtlichen oder religiösen Instanz

vergangenheitsbezogen

Möglichkeit der Verweigerung und des Ausgleichs

Abbildung 5: Vergleich juristische Verantwortung – existenzielle Verantwortung

Die Ausführungen von SOKRATES, ERASMUS VON ROTTERDAM oder auch von LUTHER belegen, dass die Verantwortung des Menschen als Thema in unterschiedlichen Zusammenhängen philosophisch präsent war. Jedoch erwacht der ethische Bedeutungsgehalt des Verantwor-tungsbegriffs erst im 20. Jahrhundert. Nun verbindet sich die ethische Auseinandersetzung, für was der Mensch verantwortlich ist, mit dem Verantwortungsbegriff. Das neue ethische Be-wusstsein dieser Zeit verleiht dem Begriff einen neuen Inhalt und Stellenwert.196 Die Akzentver-schiebung öffnete den Blick für den ethischen Aspekt des Begriffs. Auf der Grundlage des erweiterten Verständnisses etabliert sich der Verantwortungsbegriff als ethische Kategorie und rückt ins Zentrum der ethischen Diskussion. Für HOLDEREGGER ist „Verantwortung ein morali-scher Begriff mit christlichem Ursprung“.197 In seiner existenziellen Deutung zählt er heute zu den Begriffen, die für die geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung von herausragender Bedeutung sind. Er hat „für das heutige Verständnis der ethischen Lebenswirklichkeit eine Art Schlüsselfunktion.“198 Inzwischen haben sich zahlreiche Philosophen und Denker mit ihm auseinandergesetzt. Gerade die Sichtung der einschlägigen Literatur nach 1945 erweckt den

195 Vgl. LÖWITH 1950, 168.

196 Vgl. DANNER 1983, 56.

197

Anschein, als habe das Interesse der Wissenschaften in dieser Hinsicht stetig zugenommen.

Auf Grund der Veränderung und Erweiterung seines Bedeutungsgehalts im 20. Jahrhundert hat sich seine Stellung in Wissenschaft und Gesellschaft grundlegend gewandelt. Für HÜTTEN

hat sich der Verantwortungsbegriff inzwischen als ein „Grundbegriff unseres Jahrhundert“

etabliert.199

Damit ergeben sich erste Antworten auf die in der Einleitung gestellten Fragen. Bezogen auf die Frage 1 (vgl. S. 5) und die unterschiedliche Wahrnehmungsweisen des Themas Verant-wortung, lassen sich Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Reaktionsweisen einerseits und wissenschaftlichen Interpretationslinien andererseits ausmachen. Es wird deutlich, dass es nicht nur in der Gesellschaft sondern auch in der Wissenschaft zwei Deutungsvarianten des Verantwortungsbegriffs gibt.

Betrachtet man die juristische Verantwortung mit der Betonung der Anklage und der Mög-lichkeit des Schuldigwerdens, dann lässt sich dies mit dem Verständnispol der ‚Furcht’ in Verbindung bringen. ‚Pflichten zu haben’ oder ‚zur Rechenschaft gezogen zu werden’ sind für die meisten Menschen eher unangenehme Aspekte des Lebens. Entsprechend wird in diesem Zusammenhang ‚Verantwortung zu haben’ oder ‚zur Verantwortung gezogen zu werden’ von Menschen, die die menschliche Verantwortung in diesem Verständnis sehen vorrangig als unangenehm und unerwünscht erlebt. Mit der Verantwortung ist eine Forderung verbunden und wer Verantwortung übernimmt kann daran auch scheitern. In der Folge schrecken diese Menschen in der Tendenz davor zurück und versuchen sie zu vermeiden.

Demgegenüber werden im Verständnis der existenziellen Verantwortung neben der Pflicht und Notwendigkeit menschlicher Verantwortung vor allem Wachstums- und Entwicklungsper-spektiven betont. Hier wird die Chance zur Selbstverwirklichung und Autonomie deutlicher sichtbar. ‚Sinn zu erleben’ oder ‚die eigene Existenz zu verwirklichen’ haben für den Menschen eine elementare Bedeutung und gelten für viele als erstrebenswert. Menschen, die in der menschlichen Verantwortung diesen Verständnispol wahrnehmen, verbinden ‚Verantwortung zu übernehmen’ primär mit Interesse oder sogar mit Lust. Die Verantwortungsübernahme wird trotz aller Gefahren und Aufwendungen angestrebt. Hier zeigt sich die Nähe zum Verständ-nispol des ‚Interesses’.

Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die beiden gesellschaftlichen Interpretationsmuster

‚Furcht vor’ und ‚Interesse an’ etymologische und geistesgeschichtliche Hintergründe und Wurzeln besitzen. Menschliche Verantwortung ist Pflicht und Chance zugleich. Die Ursache für die unterschiedliche Wahrnehmung des Themas Verantwortung könnten dann unvollständige

und vor allem einseitige Interpretationen sein. Bezogen auf die von zahlreichen Autoren beschriebene Verantwortungskrise200 bedeutet dies, dass viele Menschen die existenzielle Bedeutung der Verantwortung nicht wahrnehmen. Begriffe als Informationsträger prägen die Denk- und Verhaltensweisen einer Gesellschaft und für ihre Wirkung ist ihre Interpretation maßgebend. Sofern die Verantwortungskrise als mangelnde Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung gesehen wird, könnte eine grundlegende Ursache in einem reduzierten Inter-pretationsverständnis des Verantwortungsbegriffs liegen. Menschen die vor dem Thema Verantwortung zurückschrecken haben die Bedeutungsentwicklung des Verantwortungsbegriffs nicht mitvollzogen und verstehen diesen vorrangig als Synonym für Zurechnung und Rechtfer-tigung. Die Furcht vor Schuld und Anklage lässt sie vor der Verantwortung ausweichen. Sie reagieren mit Rückzug oder Passivität und sehen die damit verbundenen Perspektiven nicht.

Notwendig erscheint eine Aufklärung und Vermittlung der im folgenden Kapitel dargestellten Merkmale und Begründungszusammenhänge.

4.2 Merkmale und Begründungen existenzieller

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