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Leipzig und die Hochschule für Grafik und Buchkunst

I. Bernhard Heisig zwischen den Fronten der Kulturpolitik

I.1. Leipzig und die Hochschule für Grafik und Buchkunst

Die Leipziger Kunstverhältnisse 1945-1976

I.1. Leipzig und die Hochschule für Grafik und Buchkunst

a. Von Adam Friedrich Oeser zu Max Klinger: Klassizismus

und Gedankenkunst. Die Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe Die Stadt Leipzig verdankte, abgesehen von ihrer reichen Musikkultur, seit dem 17.

Jahrhundert ihre Ausstrahlung mehr dem Handel, Gewerbe und den Wissenschaften als den bildenden Künsten. Die Ansiedlung der damals in Deutschland namhaftesten Verlage und die berühmte Messe machten Leipzig zur Stadt der Bücher und des Buchhandels. Wenn

überhaupt, so interessierte sich das Bürgertum für die bildende Kunst hinsichtlich des Bildstoffes und als Buchillustration.

Die durch einen kurfürstlichen Erlaß am 6. Februar 1764 gegründete "Zeichnungs- Mahlerey- und Architektur-Academie" hatte sich von Anfang an darauf spezialisiert, zeichnerische und graphische Fertigkeiten, vor allem die Radier- und Stecherkunst, auszubilden für den Bedarf des lokalen Gewerbes und der Verlage. Der Almanach "Bibliothek der schönen

Wissenschaften" vermerkt 1769: "Die Bemühungen der Leipziger Künstler, unter Aufmunterung einsichtsvoller Buchhändler die Bücher zu verschönern, haben gleiche Verdienste um den Geschmack und um einen neuen Handelszweig."81

Ihr erster Direktor, Adam Friedrich Oeser (1717-1799), war ein führender Vertreter der Dresdener frühklassizistischen Bewegung. Er wurde vor allem bekannt als Zeichenlehrer des jungen Johann Wolfgang Goethe, dem er zwischen 1766 und 1768 theoretischen und

praktischen Privatunterricht in Leipzig erteilte. Unter Oesers Nachfolgern Johann Friedrich August Tischbein (1750-1812) und Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld (1763-1841)82, der Vater von Julius Schnorr von Carolsfeld, der seit 1814 Direktor war, konnte die Akademie nur die Bedeutung einer provinziellen Zeichenschule erlangen, die man eher nebenbei besuchte, um sich anzueignen, "was zu Ausbildung ihres Geschmacks als Kaufleute,

Fabrikanten, Manufactur-Arbeiter und bey Betreibung eines Gewerbes oder eines Handwerkes gehöre."83

Bis zum Auftreten Max Klingers machte sich Leipzig einen Namen mehr mit der grafischen Umsetzung z.B. der über 400 Zeichnungen von Adolph Menzel zu Franz Kuglers "Geschichte Friedrichs des Großen", die Eduard Kretzschmar in Holz gestochen hatte und die 1840 im Verlag der Weberschen Buchhandlung Leipzig publiziert wurden.

1876 umbenannt in "Königliche Kunstakademie und Kunstgewerbeschule", zog das Institut 1890 aus der Pleißenburg in den noch heute genutzten Gründerzeitbau an der Wächterstraße.

Der Bedarf an Graphikern, Typographen etc. für die prosperierende polygraphische Industrie wuchs ständig. Vor allem das Leipziger Buchgewerbe und die in Deutschland damals

einmalige Konzentration einer illustrierten Presse, darunter die erste deutsche Illustrierte, das

81 Zit.n. Gustav Wustmann, Der Leipziger Kupferstich im 16., 17. und 18. Jahrhundert. In: Neujahrsblätter der Bibliothek und des Archivs der Stadt Leipzig, III, Leipzig 1907, S. 102. Siehe Dieter Gleisberg, Die Druckgrafik - Wege und Wandlungen in 225 Jahren. In: Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig 1945-1989, Ausst.kat.

Museum der bildenden Künste Leipzig, Leipzig 1989, S. 30.

82 Vgl. Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld, Meine Lebensgeschichte, hrsg. von Otto Werner Förster, Leipzig 2000.

83 Aus einer Verordnung von 1814. Zit.n. Hans Wolff, Die Geschichte der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe zu Leipzig von 1764-1901, Leipzig o.J., S. 34. Siehe ebd., S. 31.

"Pfennig-Magazin"84, die "Leipziger Illustrierte Zeitung" und die "Gartenlaube", drängte auf eine qualifizierte Ausbildung in allen Bereichen der Buchkunst. Es entstanden zwar auch Abteilungen für Glasmalerei, dekorative und monumentale Malerei, die aber bereits 1900 wieder ausgegliedert wurden. Dementsprechend benannte man die Schule in "Königliche Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe" um.

Die ab 1901 unter dem Rektorat von Max Seliger (1865-1920) eingeleitete

Ausbildungsreform orientierte sich an der von John Ruskin und William Morris propagierten Aufhebung der Trennung von bildenden und angewandten Künsten. Neben den traditionellen Werkstätten für Holzschnitt, Lithographie und Radierung, kam zur 1893 eingerichteten Abteilung Fotografie eine mit neuesten Apparaten zur Reproduktionstechnik ausgestattete

"Abteilung für fotografische Vervielfältigungstechnik". Das durch Max Seliger begründete Ansehen der Hochschule konnte in den zwanziger Jahren unter dem Rektorat des international angesehenen Schriftkünstlers Walter Tiemann (1921-1941) ausgebaut werden. Zu den neuen Lehrkräften gehörten u.a.: Hugo Steiner-Prag (1880-1945), bekannt geworden durch

Lithographien zu Gustav von Meyrinks "Der Golem", Radierungen zu E.T.A. Hoffmann und Heinrich Heine; Hans Alexander Müller (1888-1962) gab der Leipziger Holzstichtradition neue Impulse, die Karl Georg Hirsch (geb. 1938) bis in die Gegenwart fortführt; Willi Geiger (1878-1971), von dessen expressiven Realismus sein Schüler Ernst Hassebrauk, der 1927 aus Dresden nach Leipzig kam, geprägt wurde. Diese drei Lehrer mußten aus politischen und rassistischen Gründen unter der Naziherrschaft die Schule verlassen. Ob es Tiemann, der bis 1941 der Schule vorstand und sie dann verlassen mußte, gelang, humanistische Werte zu wahren oder "ob der Rückzug in die Pflege klassischer Buchgestaltung von den

Nationalsozialisten nicht auch als Alibi für ihre geistige Bewegung vereinnahmt wurde", ist bisher noch nicht untersucht worden.85

Leipzig war kein Zentrum der modernen Malerei. Max Beckmann, 1884 in Leipzig geboren, verließ mit seiner Mutter bereits 1894 für immer die Stadt.86 Der 1904 in Leipzig geborene Hans Hartung studierte immerhin neben seiner Ausbildung an den Kunstakademien Leipzig und Dresden 1924-26 auch Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Leipzig,

84 Seit dem 4.5. 1833 erschien Deutschlands erste Illustrierte, das "Pfennig-Magazin der Gesellschaft zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse" wöchentlich, jeweils am Samstag, und war auf acht Seiten im

Quartformat pro Heft mit vier bis sechs Holzstichen illustriert. Vgl. Reprint "Das Pfennig-Magazin 1833/1834", Delphi 1011, Nördlingen 1985.

85 Peter Pachnicke, Traditionslinien der Hochschule. In: Leipziger Schule, Ausst.kat. Staatliche Kunsthalle Berlin, hrsg. von der HfGB Leipzig und Ludwig-Institut für Kunst der DDR, Oberhausen 1990, S. 14.

86 Erst 1990, nach dem Fall der Mauer, konnte dem großen Sohn der Stadt, dem heimlichen Übervater der 'Leipziger Schule' eine erste Retrospektive gewidmet werden, die das Städelsche Kunstinstitut im Rahmen des deutsch-deutschen Kulturabkommens zusammengestellt hatte: Max Beckmann. Gemälde 1905-1950, Ausst.kat., hrsg, von Klaus Gallwitz, Museum der bildenden Künste Leipzig 21.7.-23.9. 1990: "Von Richard Wagner und Max Klinger abgesehen, hat sich die Stadt Leipzig bis in die jüngste Vergangenheit zumeist nur halbherzig zu jenen Künstlern bekannt, die hier geboren wurden. [...] Ganz ähnlich verhielt es sich langezeit auch mit Max Beckmann. [...] In Leipzig konnte man sich allerdings erst 1932 dazu entschließen, eines seiner Hauptwerke, das 'große Stilleben mit Fernrohr', für das Museum der bildenden Künste zu erwerben. Dort befand es sich jedoch nur kurze Zeit: schon 1937 wurde es im Zuge der verhängnisvollen Aktion 'Entartete Kunst' [...] beschlagnahmt und bald darauf verschleudert. Als Bestandteil der Stiftung von Sofie und Emanuel Fohn zählt dieses Meisterwerk seit 1964 zu den Glanzstücken der Staatsgalerie moderner Kunst in München." Dem bereits von den Nazis angefeindeten Maler wurde zu seinem 50. Geburtstag in ganz Deutschland nur "aus der Feder seines damals 28jährigen Leipziger Landsmanns Erhard Göpel" in der "Neuen Leipziger Zeitung" eine öffentliche Würdigung zuteil. Erst 40 Jahre später, 1974, fand der Leipziger Maler Bernhard Heisig "wieder in dem Zeitungsbeitrag 'In Leipzig soll er nicht vergessen sein' wegbereitend offene Worte rühmenden Gedenkens für den genialen Wahlahnen, der ihm wie vielen anderen Künstlern in der DDR zum anregenden Vorbild geworden war. Für die offizielle Kunstwissenschaft hierzulande war Beckmann bis dahin nahezu tabu." (Dieter Gleisberg, Max Beckmann in Leipzig, S. 9.)

bevor er der Stadt und ab 1932 Deutschland bis an sein Lebensende den Rücken kehrte. Hier war kein Platz für die spätimpressionistische 'peinture' der Dresdner Schule und die

Ausdruckskunst der Dresdner "Brücke", gab es an der Pleiße doch so wenig die

atmosphärischen Reize, das opake Licht des Elbtales, wie ein Äquivalent zu den Moritzburger Teichen. Der Titel einer Ausstellung "Merkur und die Musen" umschreibt treffend den Genius loci, der immer geprägt war von einem nüchternen, auf die nützlichen Künste orientierten Besitzbürgertum.

Nur ein Leipziger Künstler brachte es in der Stadt zu überregionalem Ruhm: Max Klinger.87 Vom gebildeten Bürgertum zum 'prometheischen' bzw. 'faustischen' Künstlertypus stilisiert, blieb der 1857 in Leipzig geborene Künstler, der ab 1893 bis zu seinem Tod 1920 in seiner Vaterstadt wohnte, eine solitäre Figur. Seine Berufung zum Professor an die Akademie 1897 hinterließ dennoch keine Schule. Insbesondere blieb seine Malerei und Skulptur im Vergleich zu seinen graphischen Zyklen folgenlos. Einen gewissen Einfluß bis in die Gegenwart wird seiner 'Gedankenkunst', seinem Hang, angeregt z.B. von der Lektüre Arthur Schopenhauers, philosophische Ideen über Tod und Leben in Bilder umzusetxen, nachgesagt. Ludwig Zeitler bemerkte 1924 über den "Leipziger Genius", er komme "leicht ins Spintisieren [...] zerdröselt sich gerne im Philosophischen, Theosophischen, Anthroposophischen" und "versandet nicht selten in der Darstellung einer abstrusen und konfusen Ideenwelt."88

Klinger hat seine Überzeugung vom Primat des graphischen Schwarz-Weiß der Zeichnung und Druckgrafik, er prägte dafür das deutschtümelnde Wort "Griffelkunst", gegenüber der Farbigkeit und Sinnlichkeit der Malerei für den Ausdruck von Ideen und Weltanschauungen in seiner Schrift "Malerei und Zeichnung" (1891)89 und in Briefen theoretisch begründet: "Die Radierung dürfte mehr als Domäne die Weltanschauung gehören. [...] Schwarz und weiß, Licht und Schatten und Form - das sind die Mittel mit denen eine präcise Phantasie Alles angreifen kann."90

Als ein Vertreter des Symbolismus und der weltanschaulichen Programmalerei sah Klinger in der Farbe vorrangig ein Mittel zur Gegenstandsumschreibung ohne Eigenwert. Er lehnte daher alle Kunststile seit dem Impressionismus ab, besonders den "Farben-, Formen- und

Lichtwahnsinn"91 des Expressionismus und bestärkte so das eher konservative Kunstklima in Leipzig. Viele Künstler des späteren Sozialistischen Realismus der Leipziger Schule (Hans Mayer-Foreyt, Heinrich Witz, Gerhard Kurt Müller) setzten diese "unerquickliche Mischung

87 Zur Rezeption Klingers in Leipzig vgl. das Buch des Direktors des Museums der bildenden Künste zu Leipzig:

Julius Vogel, Max Klinger und seine Vaterstadt Leipzig. Ein Kapitel aus dem Kunstleben einer deutschen Stadt, Leipzig 1924;

Max Klinger 1857-1920, Ausst.kat. der Ausstellung zum 50. Todestag des Künstlers, hrsg. vom Museum der bildenden Künste zu Leipzig, Leipzig 1970; Max Klinger 1957-1920, Ausst.kat., hrsg. von Dieter Gleisberg, Edition Leipzig 1992. Der Katalog begleitete die Klinger-Austellung, die das Museum für bildende Künste 1992 als Gegengabe zur Max-Beckmann-Ausstellung des Städelschen Kunstinstitutes von 1990 zusammenstellte und in Frankfurt am Main zeigte.

88 Julius Zeitler, Otto Richard Bossert. In: Leipzig. Eine Monatsschrift, Leipzig, I, 1924, 1, S. 4-9. Zit.n. Karl-Heinz Mehnert, "Mich reizte die reinliche Technik dieser Kunstart...", in: Ausst.kat. Lust und Last. Leipziger Kunst seit 1945, hrsg. von Herwig Guratzsch und G. Ulrich Großmann, Stuttgart 1997, S. 18f.

89 Die Schrift ist im Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1985 unter dem Titel "Malerei und Zeichnung.

Tagebuchaufzeichnungen und Briefe", hrsg. von Anneliese Hübscher (S. 19-53), neu aufgelegt worden.

90 Max Klinger, Brief an H.H. Meier jr., Paris, den 23. 2. 1883, in: wie Anm. 89, S. 97. Vgl. auch Brief an J.

Albers, Paris, den 24. 2. 1885: "Anders liegt es mit der Zeichnung [...]. Sie ist das wahre Organ der Phantasie in der bildenden Kunst. [...] Durch diese Eigenschaften halte ich die Zeichnung von allem für das beste Feld, seine Lebens- seine Weltanschauung nieder zu legen." In: wie Anm. 89, S. 113.

91 Klinger in einem Brief vom 24. Juni 1919. Zit.n. Briefe von Max Klinger, hrsg. von H.W. Singer, Leipzig 1924.

von idealistischem Gehalt und naturalistisch-akademischer Form, die Klingers symbolistische Werke kennzeichnet"92, weltanschaulich freilich mit umgekehrten Vorzeichen und verbunden mit dem Drang zu gedanklicher Überfrachtung der Bildstoffe in epigonaler und trivialisierter Form fort.

Gerhard Pommeranz-Liedtke stellte, entsprechend der kunstpolitisch erwünschten Erbfolge, Klinger als 'Wegbereiter' in die Reihe der sozial engagierten deutschen Grafik, die über Käthe Kollwitz, Otto Dix, Max Beckmann, George Grosz, Karl Hubbuch bis zum Spätwerk von Hans und Lea Grundig reichte: "Von einem Geist seines Ranges, dem das Inhaltliche so wichtig war, konnten aber auf die Dauer die heftigen Pulsschläge der sozialen Wirklichkeit nicht übersehen werden. Gereifter, greift er aus dem Strudel des großstädtischen Lebens, dessen Nacht- und Schattenseiten er kennengelernt hat, dramatische Vorgänge und Schicksale heraus und stellt sie mit anklagender Absicht und echter Anteilnahme dar. [...] Es ist die Zeit, in der der literarische Naturalismus in Deutschland Fuß zu fassen beginnt. Dessen Forderung einer genauen Beobachtung und Kenntnis des Milieus und seiner bis ins Einzelne gehenden Schilderung befolgend, bemüht sich auch Klinger in den 'Dramen' (1883, E.G.) um eine genaue Festlegung der Schauplätze und um eine sachlich-wirklichkeitsgetreue Darstellung der Handlungen. [...] Mit den 'Dramen' erreicht Klinger den Höhepunkt seines Realismus."93 In Heinz Zanders Radierfolge zu Bertolt Brechts "Anachronistischem Zug" 1960, in radierten Paraphrasen zu Thomas Manns Romanen "Der Zauberberg" und "Doktor Faustus" sowie der Radierfolge 1967/68 zu seinem eigenen Roman "Gespräche am schwarzen Tisch - eine Studierstubenapokalypse" sah Renate Hartleb erste sichtbare Zeugnisse eines direkten Einflusses auf die Leipziger Schule der sechziger Jahre, "die die Möglichkeiten des graphischen Zyklus und der Verbindung zu Literatur in vollkommener Weise umsetzten, indem er eigene Visionen mit zahlreichen Anregungen aus Literatur und Kunst zu einem immer stärker von Mythen und Archetypen geprägten Werk verband [...]."94

b. Der Aufbau der Hochschule für Grafik und Buchkunst nach 1945 als Kaderschmiede des Sozialistischen Realismus durch Kurt Massloff und Kurt Magritz

Das beim Luftangriff am 4. Dezember 1943 fast zu zwei Dritteln zerstörte Gebäude der

"Staatlichen Kunsthochschule Leipzig", deren technische Ausrüstung und Maschinen aber weitgehend erhalten blieben, kam im Juni 1945 auf Bitte der amerikanischen

Besatzungsmacht wieder in die Obhut des alten, 1941 abgesetzten Rektors Walter Tiemann (vgl. Biographie im Anhang). Nach der Übernahme Leipzigs durch die Sowjetarmee am 2.7.

1945, wird die Akademie am 9.7. von Vertretern der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) besichtigt und am 1.8. Tiemann als kommissarischer Direktor offiziell wieder eingesetzt, der in einem Brief mitteilen kann: "Unsere Werkstätten sind Gott sei Dank

einigermaßen intakt [...]. Für den Unterricht in den Belangen der freien Kunst habe ich in der Nähe der Akademie eine Reihe brauchbarer Lokalitäten mieten können, so daß wir nun am 1.

November mit dem Unterricht beginnen wollen."95

Mit seiner Rede auf der CDU-Großkundgebung am 9.11. 1945 warnte Tiemann eingedenk der

92 Henry Schumann, Leitbild Leipzig. In: Kunstdokumentation, S. 481.

93 Gerhard Pommeranz-Liedtke, Der Graphische Zyklus von Max Klinger bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zur Entwicklung der deutschen Graphik von 1880 bis 1955, Deutsche Akademie der Künste, Berlin 1956, S. XIf.

94 Renate Hartleb, Von Max Klinger bis zur 'Leipziger Schule'. In: Ausst.kat. Lust und Last. Leipziger Kunst seit 1945, hrsg. von Herwig Guratzsch und G. Ulrich Großmann, Stuttgart 1997, S. 43.

95 Brief vom 20.10. 1945 an Alfred Mahlau. Zit.n. Anneliese Hübscher, Die Jahre des Neubeginns: 1945-1959.

Dokumentation zur Geschichte der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. In: Leipziger Schule, Malerei.

Grafik. Fotografie, Ausst.kat., hrsg. vom Ludwig-Institut für Kunst der DDR Oberhausen und der Hochschule für Grafik und Buchkust Leipzig 1990, S. 235.

nationalsozialistischen Kunstpolitik vor jeder politischen Indienstnahme der Kunst und leitet damit im Zeichen der Politisierung aller Lebensbereiche durch die SED unfreiwillig seine Ablösung als Rektor ein: "Die künstlerische Betätigung wurde eingespannt in ein politisches Geschirr und der Freiheit ihrer Entwicklung beraubt. Der bildende Künstler wurde parteilich ausgerüstet, gleichgeschaltet, zurechtgehobelt und weltanschaulich glanzpoliert [...]. Nur ein totaler Dilettantismus konnte auch hier der Meinung sein, daß die Kunst einen neuen

Aufschwung nähme, wenn man sie in den Dienst einer politischen Aufgabe stellte, wenn man sie ausrichtete auf einen billigen, profanen und verdorbenen Geschmack."96

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Noch im gleichen Monat warnte Willy Weikert, Leiter des Photomechanischen Instituts, Mitglied der KPD und Kulturleiter des Arbeitsgebiets Süd-West der KPD, vor einer politisch neutralen, zweckfreien Kunst: "Wir Kommunisten lehnen ab, was Prof. Tiemann in einer Werbeversammlung der CDU als Referent sagte: Die Kunst sei neutral. Daß die Kunst nicht neutral ist und auch nicht sein kann, weiß jeder Marxist [...] Er und übrigens alle seiner jetzigen Künstlerkollegen lassen jeden Funken proletarischen Empfindens vermissen, das doch von Grund auf vorhanden sein muß, um die heutigen Aufgaben erfolgreich bewältigen zu können. [...] Nur gewerkschaftliche und politische Bindung garantiert für die Unterrichtung im demokratischen Geiste."97

Vorausgegangen waren mahnende Briefe an den Rektor von Will Grohmann (vgl. Biographie im Anhang), Ministerialdirektor der Zentralen Verwaltung für Wissenschaft, Kunst und Erziehung am 22.10. und vom Leiter des Volksbildungsamtes der Stadt Leipzig, Helmut Holtzhauer (vgl. Biographie im Anhang), am 31.10. 1945: "Um es rund heraus zu sagen: es ruft in den interessierten Kreisen in Leipzig mehr als Verwunderung hervor, daß zwei so ausgeprägte Künstler, wie die Herren Massloff und Schwimmer noch nicht in den Lehrkörper der Akademie berufen worden sind. Herr Prof. Grohmann hat mir in Dresden unumwunden erklärt, er habe diese Regelung für so selbstverständlich gehalten, daß er sie schon für vollzogen wähnte."98

Am 27.10. 1945 schrieb der damalige Referent für Buchhandel bei der Landesverwaltung Sachsen, Kurt Magritz (vgl. Biographie im Anhang), an Tiemann: "Ich hatte mit Ihnen vereinbart, am Mittwoch, den 24. des Monats mit Ihnen zusammenzukommen, um einen Vertrag über einen Lehrauftrag für perspektivisches Zeichnen an der Staatlichen Akademie für Grafik und Buchkunst in Leipzig abzuschließen. Wie mir heute Herr Stadtrat Holtzhauer bestätigt, hatte er mit Ministerialdirektor Dr. Grohmann eine feste Vereinbarung dahingehend getroffen, daß außer mir auch die Herren Maßloff und Schwimmer und Frau Voigt in den Lehrkörper der Akademie aufgenommen werde sollten. Aus der gestern stattgefundenen Besprechung geht jedoch hervor, daß diese Vereinbarung nicht erfüllt worden ist und ich bitte Sie deshalb, mit dem Abschluß eines Vertrages mit mir solange zu warten, bis diese

Angelegenheit geklärt ist."99

Bis der 'Fachmann' Tiemann im Frühjahr 1946 den Kampf um die konzeptionelle und politische Vorherrschaft an der Schule verloren hatte, mußten sich die vier Dozenten hinter den Kulissen noch gedulden.

Inzwischen betrieb, mit der Unterstützung des Leipziger Stadtrats für Volksbildung Helmut

96 Ebd., S. 236.

97 Ebd., S. 236.

98 Helmut Holtzhauer, zit.n. Anneliese Hübscher, Die Jahre des Neubeginns: 1945-1959. Dokumentation zur Geschichte der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. In: Leipziger Schule, Malerei. Grafik. Fotografie, Ausst.kat., hrsg. vom Ludwig-Institut für Kunst der DDR Oberhausen und der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig 1990, S. 235.

99 Brief im Archiv von Maria Rüger.

Holtzhauer, der Nachfolger von Will Grohmann, Ministerialdirektor Herbert Gute (vgl.

Biographie im Anhang) von der Landesverwaltung Sachsen, hinter dem Rücken von Tiemann handfeste Personalpolitik und ernannte Kurt Massloff am 1.2. 1946 zum Leiter einer

Meisterklasse. Am 1.3. wurde Massloff mit der "lehrplanmäßigen und baulichen Aufbauarbeit der Akademie" beauftragt, worauf er noch am gleichen Tag per Anschlag am schwarzen Brett die Schule vorübergehend schließen läßt. Am 10.4. wurde er zum Professor ernannt, "dann gab es ein halbes Jahr bis Frühjahr 1947 Interimsbetrieb hinter verschlossenen Türen [...]."100 In einem Brief vom 24.3. 1946 an Ministerialdirektor Gute beklagte Prof. Tiemann sich über die Berufung von Lehrkräften (Massloff, Magritz, Schwimmer)101 hinter seinem Rücken,

"über die weder eine amtliche Mitteilung erfolgt war, noch mein Einverständnis eingeholt worden ist, und die ich nur durch die Berufenen selbst erfuhr." Dieses Vorgehen habe bei ihm den "letzten Anstoß" gegeben, "das mir vor sieben Monaten anvertraute Amt eines

kommissarischen Leiters der Akademie in die Hände der Landesverwaltung zurückzulegen.

[...] Hat man in Fachkreisen auf meine Mitwirkung am Wiederaufbau der Akademie große Hoffungen gesetzt, so kann ich nun nicht länger einer völligen Auflösung eines bewährten Lehr- und Erziehungsprogramms durch höchst fragwürdige Theorien und unsachliche Experimente zusehen."102

100 Arnd Schultheiß, Von den 'Leipziger Anfängen'... Ein Gespräch zwischen der Kunsthistorikerin Dr. Anneliese Hübscher und dem Maler und Grafiker Arnd Schultheiß. In: Ausst.kat. Lust und Last. Leipziger Kunst seit 1945, hrsg. von Herwig Guratzsch und G. Ulrich Großmann, Stuttgart 1997, S. 331.

Schultheiß, geb. 1930, war von 1946 bis 1951 Student an der HfGB. Die Kunsthandlung Engewald widmete ihm eine Einzelausstellungen mit "Radierungen aus den Jahren 1948 bis 1956", die vom 20.3.-20.4. 1957 gezeigt wurde.

101 Arnd Schultheiß: "Gegen Tiemann, eine europäische Koryphäe auf dem Gebiet der Buchkunst, hatte sich

101 Arnd Schultheiß: "Gegen Tiemann, eine europäische Koryphäe auf dem Gebiet der Buchkunst, hatte sich