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LAUDAN UND DER RELATIVISMUS

Grundsätzliches über Relativismus und Laudans normativen Naturalismus

Im vorhergehenden Kapitel wurde gezeigt, dass das Ziel des Relativisten nicht in der Elimination jeder Rechtfertigung besteht, wie sich das der Skeptiker wünscht. Der Relativist will der empirischen Forschung zu mehr Bedeutung verhelfen. Wahre, gerechtfertigte Glauben galten auch in der Soziologie lange Zeit als Bereiche, die keiner sozialen Erklärung bedürfen. Barnes und Bloor wenden sich gegen diese These und bestehen darauf, dass alle Entscheidungen in einem sozialen Umfeld stattfinden. Selbst wissenschaftliche Entscheidungen erfolgen nicht in einem ideal abgeschirmten Raum, in dem bloß rational entschieden wird. Mehr noch, der Relativist kann auf diese Weise erklären, wieso sich Rationalitätsstandards im Lauf der Zeit ändern. Dem Relativismus zufolge, hängen unsere Rationalitätsstandards an sozialen Faktoren.

Wenn sich nun die soziale Umwelt ändert, können sich die damit verbundenen Rationalitätsstandards auch ändern.

Laudan schließt sich dem Relativisten insofern an, als er Wissenschaft ebenfalls durch ihren historischen Kontext betrachtet. Wie in Kapitel I dargestellt, schreiben viele Wissenschaftstheoretiker, wie Popper, ihrer Disziplin eine normativ korrigierende Funktion zu.

Das heißt, die wissenschaftstheoretisch fundierte Methodologie kann die bestehende wissenschaftliche Praxis kritisch evaluieren. (Vgl. Freedman, 2001: 103) Damit nimmt die Wissenschaftstheorie einen metawissenschaftlichen Standpunkt ein. Laudan wendet sich, wie bereits deutlich gemacht wurde, gegen diese Art der Wissenschaftstheorie. Er sieht die Wissenschaftstheorie auf einer Ebene mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und besteht darauf, dass wissenschaftliche Methoden innerwissenschaftlich entwickelt werden. (Vgl. Laudan, 1977: 8) In dieser Hinsicht ist er sich mit dem Relativisten einig. Wissenschaftstheorie, wie auch Methodologie, findet nicht in einem abgekapselten Raum statt, der unabhängig von wissenschaftlichen Entwicklungen bleibt. Alle wissenschaftlichen Entscheidungen werden in einem historischen Kontext getroffen und sind insofern auch der empirischen Untersuchung zugänglich. Laudan selbst, als Vertreter der IHPS (Integrated History and Philosophy of Science), betreibt deshalb Wissenschaftstheorie in einem engen Austausch mit historischen Analysen.

Ein großer Teil der Wissenschaftstheoretiker zieht die Geschichte bestenfalls als Quelle für gerade passende Anekdoten heran.30 Geschichte beeinflusst, dieser Ansicht nach, aber nicht die Art der wissenschaftlichen Methode. Wissenschaftlichkeit, so könnte man es in aller Härte ausdrücken, hängt in einem solchen Wissenschaftsverständnis nicht von der praktizierten Wissenschaft ab.

Nach Laudan zeigt uns aber gerade die Geschichte die fundamentalen Rationalitätsprinzipien der jeweiligen Epoche. Anhand dieser Rationalitätsprinzipien können dann Handlungen von Wissenschaftlern evaluiert werden. Die Geschichte wird demnach nicht darauf reduziert, Beispiele für bereits feststehende theoretische Überlegungen zu liefern. Die Geschichte liefert Daten, die für den Wissenschaftstheoretiker von Bedeutung sind.

Hier ist sich Laudan also mit dem Relativisten einig. Die wissenschaftliche Entwicklung erfolgt in einem historischen Kontext. Dieser Kontext kann empirisch erforscht werden. Kein Teil der Wissenschaft ist außerhalb der Geschichte angesiedelt. Das ist es, was Barnes und Bloor durch das symmetry principle aufzeigen wollen. Alle Bereiche der Wissenschaft sollen der empirischen Analyse gleichermaßen zugänglich sein.

Laudan verfolgt noch ein weiteres Ziel, das Barnes und Bloor jedoch nicht teilen. Laudan will die Rationalität der wissenschaftlichen Forschung sichern. Rationalität hat nach Barnes und Bloor jedoch keinen Einfluss auf die Entstehung von Theorien.31 Schließlich sei Glaubwürdigkeit in der Regel von anderen Faktoren abhängig. Selbst wenn ein Glaube rational ist, dann sei er das nur relativ zu einer gewissen Gruppe von Wissenschaftlern. Eine Entscheidung zwischen verschiedenen Rationalitätsstandards könne aber nicht durch ein übergeordnet rationales Schiedsgericht erfolgen. Wie bereits ausführlich dargestellt, meint Laudan, es könne auch rationale Entscheidungen zwischen divergierenden Rationalitätsstandards geben. Er versucht zu zeigen, dass sowohl die Theoriewahl, als auch die Wahl von Rationalitätsstandards in der Wissenschaft häufig aus guten Gründen erfolgt.

Immer wieder wurde jedoch eingewendet, dass Laudans Projekt scheitere, weil es sich nicht ausreichend vom Relativismus distanzieren könne. Durch einen implizit enthaltenen Relativismus unterminiere der normative Naturalismus selbst sein Ziel, wissenschaftliche Entscheidungen auf rationale Beine zu stellen. Dabei wird vorausgesetzt, dass ein starker Relativismus nicht mit einer metamethodologischen Rationalitätstheorie in Einklang zu bringen ist. Es müssen also zwei Fragen geklärt werden:

30 Siegel vertritt die Position, man könne die korrekten wissenschaftlichen Regeln durch epistemische Einsicht erkennen. Deshalb spielen historische Untersuchungen keine große Rolle, wenn es darum geht Rationalitätsstandards zu verstehen. (Vgl. Siegel, 1990: 311) Laudan wirft deshalb Siegel „armchair methodology“ (Laudan, 1990a: 321) vor.

Der Wissenschaftstheoretiker könne nicht einfach in einem Elfenbeinturm sitzen und Wissenschaftlern ihre Arbeit erklären, ohne diese überhaupt zu kennen (vgl. Laudan, 1990a: 321).

31 Dies gilt zumindest, wenn wir Barnes und Bloor eine radikalere Position zuschreiben, wie das etwa Hadock tut (vgl. 2004: 22). Siehe hierzu S.45 in dieser Arbeit.

i) Ist Laudans normativer Naturalismus wirklich so relativistisch, wie das von den Kritikern vorgebracht wird?

ii) Wenn sich ein starker Relativismus im normativen Naturalismus findet, unterminiert er tatsächlich auch Laudans Rationalitätstheorie?

In diesem Kapitel werden diese beiden Fragen behandelt. Aber bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, sehen wir uns noch kurz das Verhältnis des normativen Naturalismus zum Skeptizismus an. Darin soll die Gefahr, die sowohl durch den Skeptizismus als auch durch den Relativismus entsteht, deutlich gemacht werden. Anschließend werden Einwände vorgebracht, die die Rationalität von Theoriewahl, Methodologie und Axiologie in Frage stellen. Ich werde argumentieren, dass sich Laudan gegen diese Einwände wehren kann.

Skeptizismus und Rationalität

Im vorhergehenden Kapitel wurde die skeptische Strategie vorgestellt. Der Skeptiker besteht darauf, man müsse wahre von falschen Theorien unterscheiden können, wenn man an eine Theorie glaubt. Anschließend argumentiert der Skeptiker, dass wir das nicht können.

Deshalb sollten weder an die Wahrheit noch an die Falschheit unserer Theorien glauben.

Laudan stimmt dem Skeptiker in gewisser Weise zu. Um an die Wahrheit von Theorien zu glauben, muss man auch im Stande sein, einen wahren von einem falschen Glauben zu unterscheiden. Darüber hinaus teilt Laudan die Zweifel des Skeptikers, dass wir dazu nicht in der Lage sind. Nach Laudan können wir wahre und falsche wissenschaftliche Theorien nicht auseinanderhalten. Das Argument der pessimistischen Metainduktion soll genau das zeigen. Wir haben immer wieder unsere Theorien zurückgewiesen und insofern zeigt sich nicht einmal eine Wahrheitsnähe von Theorien. Laudan schließt sich deshalb dem Skeptiker an, wenn er den Glauben an die Wahrheit und Falschheit von Theorien suspendiert. (Vgl. Laudan, 1984a: 157;

1981: 20ff.)

Während der Skeptiker aber seine These auf die Suspendierung aller Überzeugungen ausweitet, besteht Laudan dennoch auf eine instrumentelle Nutzung von Theorien. Nur weil wir die Wahrheit oder Falschheit unserer Theorien nicht feststellen können, heißt das nicht, dass wir völlig auf sie verzichten müssen. Theorien können, auch wenn sie falsch sein sollten, empirisch adäquat sein oder genaue Prognosen abgeben. Theorien können auch besser oder schlechter mit unseren übrigen Überzeugungen übereinstimmen. Außerdem können sich Theorien, in dieser Hinsicht, weiterentwickeln. Das alles erfordert nicht die Wahrheit der zur Debatte stehenden Theorie.32

32 Wissenschaftliche Realisten, wie Putnam und Musgrave, gestehen zwar zu, dass die Wahrheit von Theorien nicht erforderlich ist, um eine empirisch adäquate Prognose abzugeben, jedoch sei die Wahrheit der Theorie die beste

Während der Skeptiker also die Glaubwürdigkeit einer Auffassung davon abhängig macht, ob wir die Wahrheit oder Falschheit dieser Auffassung feststellen können, bietet Laudan eine Alternative an. Der Glaube an die Wahrheit und Falschheit wird zwar ebenfalls suspendiert, dennoch gebe es andere Gründe, die einen Glauben glaubwürdig machen. So kann ein Glaube besser mit anderen Überzeugungen und Zielen zusammenpassen als ein anderer. Darin zeigt sich die Rationalität eines Glaubens. Die Rationalität sorgt nun dafür, dass wissenschaftliche Entscheidungen nicht willkürlich sind. Insofern gibt es nach Laudan bessere und schlechtere Theorien, Regeln und Ziele.

Laudan sucht also einen Ausweg aus der skeptischen Gleichwertigkeit aller Entscheidungen. Dieser Ausweg soll in der Rationalität von Entscheidungen zu finden sein.

Wenn nun aber diese Rationalität nicht haltbar sein sollte, dann befänden sich tatsächlich alle Entscheidungen auf demselben Level. Alles scheint also mit der Rationalität zu stehen, oder zu fallen. Der Relativismus-Vorwurf gefährdet Laudans Projekt auf dieselbe Weise. Wenn der Relativismus wirklich dazu führen sollte, dass wir nicht mehr zwischen Rationalitätsstandards, Theorien und Zielen rational entscheiden können, dann stehen wir abermals vor der Situation, dass alle wissenschaftlichen Entscheidungen gleichermaßen (un)gerechtfertigt sind. Im nächsten Abschnitt wird damit begonnen, das Verhältnis von Rationalität und Relativismus aufzuarbeiten.

Relativität und Rationalität

Inwiefern ist Laudans normativer Naturalismus also relativistisch? Schließlich wurde Laudan in dieser Diskussion häufig mit dem Vorwurf des Relativismus konfrontiert (vgl.

Doppelt, 1986, 2001; Freedman, 2001;Giere, 1985: 339; Knowles, 2002; Worrall, 1989). Deutlich seltener erscheint es allerdings, dass ein Kritiker das relativistische Schema nutzt, um zu beschreiben, was denn nun genau relativ zu was sein soll. Doppelt charakterisiert den Relativismus so: es gibt zwar Gründe, die für eine neue Theorie sprechen, allerdings gibt es auch Gründe, die gleichermaßen schwerwiegend dagegen sprechen (vgl. Doppelt, 1986: 226). Giere meint, der Relativismus komme zur Konklusion, dass kein Unterschied zwischen guter und schlechter Wissenschaft gemacht werden könne.

It would, for example, have to treat "creation theory" on a par with evolutionary theory.

(Giere, 1985: 334)

Auch Laudan selbst bezeichnete den Relativismus als die These, dass keine Theorie besser, als irgend eine andere, sei (vgl. Laudan, 1988: 117f.). Man bemerke den Unterschied zur

Erklärung für ihre empirische Adäquatheit (vgl. Musgrave, 1988; Putnam, 1975: 73).

Darstellung des Relativismus aus dem vorhergehenden Kapitel. Hier ist nicht mehr die Rede davon, dass irgendein Y relativ zu einem X ist. Auch wenn ein solcher Relativismus, wie er in Kapitel III dargestellt wurde, implizit gemeint ist, so ist es doch eher eine vermeintliche Ableitung aus einem solchen Relativismus, die die Gemüter am Meisten erhitzt. Diese Ableitung ist aber nicht selbstverständlich und innerhalb der Diskussion scheint diesem Punkt recht wenig Aufmerksamkeit zu Teil geworden zu sein. Es scheint also von größter Wichtigkeit zu sein, die relativistische These von ihren möglichen Folgen klar zu trennen. Auf diesen Punkt werden wir später noch einmal zurück kommen. Wenden wir uns nun verschiedenen Formen des Relativismus zu, die möglicherweise implizit in Laudans normativem Naturalismus enthalten sind.

Wie wir oben bereits gesehen haben, ist es die Rationalität, die Laudan zu retten versucht.

Hier wurde am häufigsten argumentiert, dass diese nicht haltbar sei, weil Laudan alle Rationalitätsstandards der potentiellen Revision aussetzt. Jede methodologische Regel, jedes Ziel und auch jede Theorie kann, dem normativen Naturalismus zufolge, ausgetauscht werden. Die Rationalität einer Entscheidung besteht nun in der Übereinstimmung mit den vertretenen Theorien, Regeln und Zielen. Rationalität, so der Einwand, bestehe also nur in einem gewissen Kontext. Laudan definiert „Kontext” so:

'contexts' here can refer to units as diverse as paradigms, cultures, linguistic communities or 'forms of life'. (Laudan, 1988: 118)

Innerhalb eines gewissen Kontexts (X) bestehen also gewisse Rationalitätsstandards (Y), die aber nicht unabhängig von X bestehen. Wenden wir den zur Debatte stehenden Relativismus auf das relativistische Schema an.

Kulturrelativismus: Rationalitätsstandards (Y) sind relativ zu einem Kontext (X).33

Man könnte meinen, die Frage, ob ein Kulturrelativismus zu vertreten ist, sei einfach empirisch zu klären. Wir könnten unterschiedliche Kontexte untersuchen und so herausfinden, ob in diesen Kontexten tatsächlich unterschiedliche Rationalitätsstandards vorherrschend sind.

Wenn dann beispielsweise alle Physiker des 14. Jahrhunderts anderen Rationalitätsstandards folgen, wie ihre heutigen Kollegen, dann könnte man so deskriptiv feststellen, dass

33 Obwohl hier von einer Relativierung zu Kontexten gesprochen wird, wurde der Relativismus „Kulturrelativismus“

genannt. „Kultur“ ist hier in einem sehr weiten Sinn zu verstehen und wurde verwendet, weil eine solche Verwendungsweise des Begriffes in der Diskussion üblich ist.

Rationalitätsstandards variieren, abhängig von Kulturen, Paradigmen etc. Dies entspricht der deskriptiv relativistischen These, wie sie in Kapitel III vorgestellt wurde.34

Deskriptiver Kulturrelativismus: Rationalitätsstandards (Y) werden, relativ zu einem Kontext (X), akzeptiert.

Dieselben Rationalitätsstandards (Y) werden in mindestens einem anderen Konext (X´) nicht akzeptiert.

Sicherlich ist es eine wichtige Frage, ob sich, historisch gesehen, wirklich überhaupt keine Rationalitätsstandards über die Zeit gehalten haben. Jedoch ist die Frage, ob sich fundamentale Rationalitätsprinzipien nicht doch über die Zeit hinweg durchgesetzt haben, klar von der normativen Frage zu trennen. Diese lautet nämlich: welche Rationalitätsstandards sind die Richtigen? Welchen sollen wir folgen? Rationalitätsstandards mögen im Lauf der Zeit variieren, jedoch sind, dem normativen Relativisten zufolge, nur gewisse Rationalitätsstandards korrekt und diese verändern sich mit dem Kontext.

Normativer Kulturrelativismus: Rationalitätsstandards (Y) können nur relativ zu einem Kontext (X) korrekt oder inkorrekt sein. Dieselben Rationalitätsstandards (Y), die in (X) korrekt sind, können in einem anderen Kontext (X´) inkorrekt sein.

Es scheint offensichtlich, dass Laudan dem deskriptiven Kulturrelativismus zustimmt.

Schließlich argumentiert er immer wieder, dass sich methodologische Regeln und Ziele in der Wissenschaft radikal verändert haben. Dabei sei keine Regel vor einer potentiellen Revision geschützt. Allerdings ist es nicht der deskriptive Kulturrelativismus, der Laudan den Relativismus-Vorwurf eingebracht hat. Das Problem, das viele Wissenschaftstheoretiker sehen, liegt in der normativ relativistischen These. Wenn Rationalitätsstandards (Y) ausschließlich relativ zu einem Kontext (X) gültig sein können, aber keine übergeordnete Gültigkeit haben, dann, so der Einwand, haben wir es mit einem normativen Kulturrelativismus zu tun, der es uns nicht erlaubt, in einem absoluten Sinn, zwischen konkurrierenden Rationalitätsstandards zu entscheiden. Darin zeigt sich die Bedrohung für die Rationalität durch den normativen Kulturrelativismus.

Laudans Lösung besteht nun darin, die Übergänge zwischen unterschiedlichen Rationalitätsstandards der Rationalität zugänglich zu machen. Während Autoren wie Barnes, Bloor oder Kuhn Übergänge zwischen verschiedenen Kontexten (im Fall von Kuhn sind das

34 Das ist natürlich grob vereinfacht. Um einen solchen Relativismus empirisch festzustellen, müsste man nicht nur klären, dass es unterschiedliche Rationalitätsstandards in unterschiedlichen Kontexten gibt, sondern man müsste auch zeigen, dass diese unterschiedlichen Standards von den unterschiedlichen Kontexten abhängen. Der Relativist behauptet schließlich, dass es eine Abhängigkeitsbeziehung gibt. Diese müsste darüber hinaus belegt werden.

Paradigmen) als irrationale Angelegenheit betrachten, gibt Laudan gute Gründe an, warum sich Rationalitätsstandards ändern können. Er nennt etwa das Beispiel über die Entwicklung von Doppelblindstudien bei Medikamententests. Während etwa zuvor Einfachblindstudien zur Testung durchgeführt wurden, zeigte sich durch empirische Tests, dass Doppelblindstudien weitaus akkuratere Ergebnisse über die Wirkungsweise von Medikamenten lieferten. Auf diese Weise wurde die Regel „Bei Medikamententests sind Einfachblindstudien anzuwenden“, durch die Regel „Bei Medikamententests sind Doppelblindstudien anzuwenden“ ersetzt. Der Übergang zwischen den beiden methodologischen Regeln war, folgt man Laudan, rational. So wurde es zu einem Rationalitätsstandard Doppelblindstudien anzuwenden. Laudan wendet sich demnach gegen den soziologischen Kulturrelativismus:

Soziologischer Kulturrelativismus: Rationalitätsstandards (Y) sind nur relativ zu einem Kontext (X) korrekt oder inkorrekt und Rationalitätsstandards können nicht selbst Gegenstand des rationalen Diskurses sein.

Durch Laudans Dreiteilung von Theoriewahl, Methodologie und Axiologie soll geklärt werden, wie sich wissenschaftliche Inhalte rational ändern können. Diese Rationalität soll auch dann gegeben sein, wenn der normative Kulturrelativismus zutrifft. In unterschiedlichen Kontexten wurden zwar unterschiedliche Rationalitätsstandards vertreten, jedoch konnten genau diese Standards völlig rational ausgetauscht werden. Laudans Stärke soll nun gerade darin liegen, dass sich auch die Rationalitätsstandards selbst noch weiter verbessern können, ohne sich selbst ihrer Autorität zu berauben. Selbst wenn sich Methoden (Rationalitätsstandards) ändern, kann dennoch ein höheres Maß an Rationalität gegeben sein als zuvor. Auch wenn sich all unsere Regeln, Theorien und Ziele im Lauf der Zeit geändert haben, kann diese Entwicklung, Laudan zufolge, zu einem gewissen Grad rational gewesen sein. So kann etwa eine neue methodologische Regel mit dem übrigen Überzeugungssystem besser zusammen passen als eine zuvor vertretene Regel. Im selben Maß können neue Theorien besser mit unseren restlichen Überzeugungen zusammen passen als bereits länger etablierte Theorien. In diesen rationalen Veränderungen zeigt sich der wissenschaftliche Fortschritt.

Fassen wir das Gesagte zusammen. Laudan akzeptiert die deskriptiv relativistische These, dass in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Rationalitätsstandards vertreten werden.

Darüber hinaus scheint Laudan aber auch die weitaus stärkere These des normativen Relativismus zu vertreten. Rationalitätsstandards variieren nicht nur in gewissen Kontexten, sie gelten auch nur innerhalb dieser Kontexte. In einem Kontext mag es rational sein, dieser und jener Regel zu folgen, während das in einem anderen Kontext möglicherweise ganz und gar nicht

rational ist. Hintergrundtheorien, andere methodologische Regeln und Ziele bestimmen, ob eine neue Regel rational ist. Auf die Frage, ob Laudan also Relativist ist, muss geantwortet werden, dass er das in gewisser Weise schon ist. Er folgt sowohl dem deskriptiven, als auch dem normativen Kulturrelativismus. Allerdings lehnt er ab, dass aus seinem normativen Kulturrelativismus ein soziologischer Kulturrelativismus folgt.

Sehen wir uns noch ein Beispiel an. Während viele Wissenschaftler lange Zeit unbeobachtbare Entitäten als unwissenschaftlich zurückwiesen, wurde die Regel „avoid theories which postulate unobservable entities“ (Laudan, 1987a: 23) mit der Zeit fallen gelassen. Dies geschah, weil man von bestehenden Theorien überzeugt war, die offensichtlich unbeobachtbare Entitäten enthielten. (Vgl. Laudan, 1984b: 53ff) Um also ein kohärentes wissenschaftliches Bild zu zeichnen, musste man die Regel, unbeobachtbare Entitäten auszuschließen, fallen lassen.

Laudan versucht zu zeigen, dass diese Änderungen in unseren Rationalitätsstandards aus rationalen Gründen erfolgen können. Unbeobachtbare Entitäten galten lange Zeit als irrational, bis neue Theorien das bestehende Überzeugungssystem änderten. Diese neuen Theorien setzten immer wieder Entitäten voraus, die nicht beobachtbar waren. Innerhalb dieses neuen Systems war es nicht mehr irrational von unbeobachtbaren Entitäten zu sprechen. Was folgte, waren ganze Wissenschaftsgebiete, die sich mit der Welt des Unbeobachtbaren auseinandersetzten.

Laudans Strategie besteht also nicht darin, die Relativität von Rationalitätsstandards zu verschiedenen Kontexten in Frage zu stellen. Wogegen sich Laudan aber wendet, ist eine vermeintliche Folge dieses Relativismus. Rationalitätsstandards mögen sich zwar mit der Zeit ändern, allerdings folgt daraus nicht, dass die Wahl zwischen diesen Standards arbiträr ist. Laudan wendet viel Mühe auf, um zu zeigen, wie die Wahl zwischen Theorien, Methoden und Zielen rational erfolgen kann. Es soll also gute Gründe geben, um zwischen neuen Theorien, Methoden und Zielen zu entscheiden.

In diesem Kapitel soll nun geklärt werden, ob es Laudan gelingt den Theoriewandel, die Methodenwahl und die Zielwahl rational erscheinen zu lassen. Mit anderen Worten: kann Laudan normativer Relativist sein und trotzdem Platz für eine rationale Wissenschaftsgeschichte lassen?

Können sich Theorien, Regeln und Ziele rational ändern, obwohl sie alle nur relativ zu einem gewissen Kontext gelten? Sehen wir uns Laudans Verteidigung wissenschaftlicher Rationalität Schritt für Schritt an.

Theoriewahl

Die Wahl der besten Theorien war und ist immer noch eine der wichtigsten Fragen in der Wissenschaftstheorie. Theorien leiten unsere empirischen Untersuchungen, sagen uns, was wir zu

erwarten haben, und vermitteln uns ein Bild, wie die Welt, in der wir leben, aussehen könnte. Wir haben gesehen, dass Laudan den realistischen Aufgabenbereich von Theorien ablehnt. Da wir nach Laudan nicht wissen können, ob unsere Theorien wahr oder falsch sind, sollten wir nicht unbedingt glauben, dass die Welt so aussieht, wie uns das unsere Theorien nahe legen. Schließlich haben sich alle bisherigen Theorien irgendwann als unbrauchbar herausgestellt. Trotzdem behalten Theorien ihre zentrale Stellung in der wissenschaftlichen Praxis. Sie sind Hilfsmittel, um Vorhersagen zu machen oder um Modelle zu entwickeln. In diesem Sinn kann nach Laudan eine rationale Wahl zwischen konkurrierenden Theorien getroffen werden. An dieser Stelle steht zur Debatte, ob die Theoriewahl unter den Voraussetzungen, die Laudan macht, tatsächlich rational

erwarten haben, und vermitteln uns ein Bild, wie die Welt, in der wir leben, aussehen könnte. Wir haben gesehen, dass Laudan den realistischen Aufgabenbereich von Theorien ablehnt. Da wir nach Laudan nicht wissen können, ob unsere Theorien wahr oder falsch sind, sollten wir nicht unbedingt glauben, dass die Welt so aussieht, wie uns das unsere Theorien nahe legen. Schließlich haben sich alle bisherigen Theorien irgendwann als unbrauchbar herausgestellt. Trotzdem behalten Theorien ihre zentrale Stellung in der wissenschaftlichen Praxis. Sie sind Hilfsmittel, um Vorhersagen zu machen oder um Modelle zu entwickeln. In diesem Sinn kann nach Laudan eine rationale Wahl zwischen konkurrierenden Theorien getroffen werden. An dieser Stelle steht zur Debatte, ob die Theoriewahl unter den Voraussetzungen, die Laudan macht, tatsächlich rational