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5 Länderübergreifende Koordinierung und politikübergreifende Zusammenarbeit

Wie im vorangegangenen Abschnitt dargelegt, beruht der dezentrale Ansatz der Wirt-schaftspolitik in den Bereichen Finanz-, Be-schäftigungs- und Strukturpolitik auf soliden wirtschaftlichen Überlegungen und reflektiert den Gedanken des Subsidiaritätsprinzips. Un-geachtet dessen und in klarer Kenntnis der Vor- und Nachteile der politischen Koordi-nierung haben die Mitgliedstaaten ein dichtes Netzwerk multilateraler Verfahren entwickelt und nutzen gemeinsam eine Reihe wichtiger politischer Instrumente. Um die Kohärenz des wirtschaftspolitischen Rahmens insgesamt zu sichern, legt der EG-Vertrag die jährlichen Grundzüge der Wirtschaftspolitik als das maßgebliche Instrument für die wirtschafts-politische Koordinierung auf Gemeinschafts-ebene fest. Mithilfe dieser Grundzüge, die – in voller Anerkennung der Unabhängigkeit und des gesetzlichen Mandats der EZB – nicht

für die Geldpolitik gelten, kann der Grund-satz einer engen Zusammenarbeit (Artikel 4 Absatz 1, siehe Kasten 1) umgesetzt werden.

Sie sind richtungweisend für die allgemeine Durchführung der Wirtschaftspolitik und ent-halten gezielte Empfehlungen für einzelne Mit-gliedstaaten und die Gemeinschaft. Indem die Grundzüge der Wirtschaftspolitik die erfor-derlichen Maßnahmen in den verschiedenen politischen Bereichen, wie öffentliche Finan-zen, Strukturreformen, Besteuerung, regulier-ter Arbeitsmarkt oder Bildung und Ausbil-dung, darlegen, setzen sie den Maßstab, an dem nachfolgende politische Entscheidungen sowohl auf Länder- als auch auf Gemein-schaftsebene gemessen und hinsichtlich des-sen sie gerechtfertigt werden müsdes-sen. Die Grundzüge der Wirtschaftspolitik sind ein In-strument der „weichen“ Koordinierung, da sie nicht durch zwingende Mechanismen zur

Quelle: Europäische Kommission, DG ECFIN.

Durchsetzung der Vorgaben ergänzt werden, sondern auf Überzeugung – z. B. durch die Herausgabe von Empfehlungen und Stellung-nahmen – und dem Druck der anderen Mit-gliedstaaten beruhen, wodurch die Regierun-gen dazu veranlasst werden sollen, umgehend angemessene Maßnahmen zu ergreifen. Durch die Billigung der Staats- und Regierungschefs erhalten sie jedoch erhebliches politisches Gewicht.

Die Grundzüge der Wirtschaftspolitik tragen dank ihrer übergeordneten Stellung auch zur Förderung von politikübergreifender Kohärenz im Euroraum bei. Wie in Abschnitt 3 erläu-tert, können eigenständige Beschlüsse von po-litischen Entscheidungsträgern, zwischen de-nen Interdependenzen bestehen, unabhängig von der politischen Ebene politikübergreifen-de Auswirkungen haben. Im Lehrbuch-Mopolitikübergreifen-dell der heimischen Wirtschaft jedoch können alle externen Effekte, die möglicherweise in die-sem Zusammenhang entstehen, völlig inter-nalisiert werden, da die Entscheidungen des Finanzministers (z. B. in Bezug auf die

Steuer-und Sozialsysteme) Steuer-und die des Arbeitsminis-ters (z. B. im Hinblick auf Beschäftigungsmaß-nahmen) normalerweise ausnahmslos in ein kohärentes Politikprogramm der nationalen Regierung integriert sind. Entsprechend sol-len die Grundzüge der Wirtschaftspolitik dazu beitragen, Widersprüche zwischen den ver-schiedenen Politikbereichen zu vermeiden, in-dem sie auf Informationen des Rats der Euro-päischen Union in seinen unterschiedlichen Zusammensetzungen (z. B. Wirtschaft und Fi-nanzen, Beschäftigung und Sozialpolitik, Bin-nenmarkt) sowie auf Erkenntnisse anderer spezialisierter europäischer Einrichtungen zu-rückgreifen.

Die Grundzüge der Wirtschaftspolitik sind also das Schlüsselelement der spezielleren Koordinierungs- und Konsultationsprozesse (für Finanzpolitik, Beschäftigungspolitik, Struk-turreformen), fassen diese im Rahmen einer einheitlichen übergeordneten Struktur zusam-men und richten sie an einem einheitlichen Zeitplan aus (siehe Kasten 2). Während die grundlegende Orientierung der wirtschafts-Kasten 2

Koordinierung der Wirtschaftspolitik zwischen Mitgliedsstaaten – Grundzüge der Wirtschaftspolitik (Artikel 99)

Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft gemäß Artikel 99 Absatz 2

Finanzpolitik Haushaltspolitischer Kurs

der Mitgliedstaaten;

halbjährliche Vorlage der Angaben zu Schuldenstand

und Defizit

Stabilitäts- und Wachstumspakt Stabilitäts-/Konvergenz-programme, Verfahren bei übermäßigem Defizit (Art. 104)

„Luxemburger Prozess“

Beschäftigungspolitische Leitlinien Nationale Aktionspläne

„Cardiff-Prozess“

Multilaterale Überwachung der Wirtschaftsreformen;

Berichte der Mitgliedstaaten/

der Kommission über Reformfortschritte

„Köln-Prozess“

Beschäftigungspolitik Arbeitsmarktreformen zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit, des Unternehmergeistes, der Anpassungsfähigkeit und Chancengleichheit

Mikroökonomische Politik/Strukturpolitik Wirtschaftsreformen zur Er-höhung der makroökonomischen

Stabilität und der effizienten Funktionsweise der Waren- und

Kapitalmärkte

Makroökono- mischer Dialog

zwischen Sozialpartnern,

Regierungen, EZB, Kommission

politischen Grundzüge die wichtigsten politi-schen Aussagen enthält, die auch in die spezi-elleren Koordinierungsprozesse einfließen, erlauben Letztere eine ausführlichere Behand-lung und Analyse bestimmter Themen und eine effektive Überwachung der Umsetzung der jeweiligen Grundsatzempfehlungen durch die Mitgliedstaaten. Die aus den spezielleren Prozessen gewonnenen Erkenntnisse fließen wiederum in die Grundzüge der Wirtschafts-politik für das nächste Jahr ein. Darüber hi-naus gibt die Europäische Kommission jähr-lich einen Bericht über die Umsetzung der in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik aus-gesprochenen Empfehlungen heraus, um die ansonsten rein zukunftsorientierte grundle-gende Orientierung durch eine effektive Be-wertung des aktuellen Stands zu ergänzen.

Aufbauend auf den wirtschaftspolitischen In-strumenten des EG-Vertrags und mit dem Ziel, deren Effizienz zu steigern, haben die Mitgliedstaaten auf dem Gipfel des Europäi-schen Rats in Lissabon im März 2000 eine neue „offene Methode der Koordinierung“

beschlossen, um die Verbreitung bewährter wirtschaftspolitischer Praktiken zu fördern und die wichtigsten Ziele der Gemeinschaft zu erreichen. Die offene Methode der Koor-dinierung, in der sich eine neue Verpflichtung manifestiert, die Wirtschaftsreformen weiter voranzutreiben, umfasst (i) die Festlegung von Leitlinien mit einem jeweils genauen Zeitplan für die Umsetzung, (ii) gegebenenfalls die Festlegung globaler Indikatoren und Bench-marks zur Beurteilung des Fortschritts, (iii) die Vorgabe konkreter Ziele für die Um-setzung dieser europäischen Leitlinien auf na-tionaler und regionaler Ebene und (iv) die re-gelmäßige Überwachung und Bewertung der Ergebnisse. Durch die Anwendung des offe-nen Koordinierungsverfahrens in den ver-schiedensten politischen Bereichen wie den Rentenversicherungssystemen oder der För-derung der sozialen Integration müssen nicht nur zwischen den Einrichtungen der EU und den nationalen Regierungen, sondern auch den regionalen und lokalen Behörden, Sozial-partnern und Vertretern der Bürgergesell-schaft unterschiedliche Formen von Partner-schaften entwickelt werden.

Die Mitgliedstaaten haben also eine Wirt-schaftspolitik geschaffen, die die Vorteile ei-nes teilweise zentralisierten Systems – wie die Festlegung gemeinsamer Leitlinien, Zeit-pläne, Benchmarks und Indikatoren – mit ei-nem Grad an Dezentralität verbindet, den die unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen und Präferenzen der Mitgliedstaaten erfordern.

Darüber hinaus hat der Beschluss, das jährli-che Frühjahrstreffen des Europäisjährli-chen Rats dem Thema Wirtschaftsreform zu widmen, den notwendigen politischen Impuls für eine effektive Überprüfung der erzielten Fort-schritte und für mögliche Ergänzungen zum gemeinsamen Reformplan gegeben.

Die Rolle der Geldpolitik im

wirtschaftspolitischen Gesamtrahmen Wie bereits erwähnt ist die einheitliche Geld-politik eine tragende Säule des wirtschaftspo-litischen Systems im Euro-Währungsgebiet.

Da die EZB Teil des wirtschaftspolitischen Gesamtrahmens ist, sind angemessene Kanäle für einen strukturierten Informations- und Meinungsaustausch mit anderen politischen Entscheidungsträgern geschaffen worden. Dies entspricht der bewährten Praxis in modernen nationalen Strukturen, in denen eine unab-hängige Zentralbank und das Finanzministeri-um informelle Kontakte zFinanzministeri-um Austausch von Informationen über wirtschaftliche Entwick-lungen und Aussichten pflegen und sich ge-genseitig Einsicht in ihre Analysen und Ein-schätzungen der künftigen wirtschaftspoliti-schen Herausforderungen gewähren. Diese Verbindungen dürfen keinesfalls als Ex-ante-Koordinierung der geld- und finanzpolitischen Linie missverstanden werden. Entsprechend schließt der regelmäßige und strukturierte Di-alog zwischen der EZB und den Mitgliedstaa-ten klar jede Form einer Ex-ante-Abstimmung der Geldpolitik oder gemeinsame Vereinba-rungen zur Erreichung eines vorgegebenen Policy-Mix aus. In voller Anerkennung der Unabhängigkeit der EZB finden diese Kontak-te in Form von unverbindlichen wirtschafts-politischen Dialogen innerhalb der Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft statt (siehe den Beitrag „Die Beziehungen der EZB

zu den Organen und Einrichtungen der Euro-päischen Union“ im Monatsbericht Okto-ber 2000). So lässt zum Beispiel die Teilnah-me der EZB an Treffen der Eurogruppe, des Wirtschafts- und Finanzausschusses oder am

makroökonomischen Dialog einen offenen Di-alog und Meinungsaustausch sowie eine ge-meinsame Beurteilung zu, wobei den Zustän-digkeiten und Vorrechten aller Teilnehmer uneingeschränkt Rechnung getragen wird.

6 Schlussbemerkungen

Der Vertrag von Maastricht hat eine umfas-sende vertragliche Grundlage für die Wirt-schaftspolitik in der Europäischen Gemein-schaft geschaffen, die der GemeinGemein-schaft zusammen mit einem funktionsfähigen Bin-nenmarkt und der erfolgreichen Einführung einer gemeinsamen Währung einen lückenlo-sen wirtschaftspolitischen Rahmen gibt. Der Rahmen weist in wichtigen Bereichen der Wirtschaftspolitik ein hohes Maß an De-zentralisierung auf, womit der Vielfalt der wirtschaftspolitischen Strukturen und Präfe-renzen in den Mitgliedstaaten des Euroraums Rechnung getragen wird. Der wirtschaftspoli-tische Rahmen führt jedoch trotzdem zu ei-ner kohärenten Politik für das gesamte Euro-Währungsgebiet, da er auf einer eindeutigen Zuweisung der politischen Zuständigkeiten basiert sowie auf der Definition der politi-schen Ziele und richtungweisenden Grund-sätze – darunter vor allem stabile Preise, ge-sunde öffentliche Finanzen und freier Wett-bewerb – und einem Netzwerk der Zusammenarbeit zwischen politischen Ent-scheidungsträgern, angefangen von mehr oder weniger einschränkenden Formen der politi-schen Koordinierung bis hin zu einem unein-geschränkten Nebeneinander konkurrieren-der Politikentwürfe. Trotz seiner besonkonkurrieren-deren Merkmale hat der wirtschaftspolitische Rah-men eine Reihe wichtiger EleRah-mente mit dem Lehrbuch-Modell der heimischen Wirtschaft gemein und unterscheidet sich nicht allzu sehr von bestehenden Strukturen föderaler Ein-heiten wie den Vereinigten Staaten.

Die in den ersten drei Jahren der WWU gesammelten Erfahrungen deuten darauf hin, dass der bestehende Rahmen angemessen an die besonderen Gegebenheiten der derzeiti-gen Entwicklungsstufe der Gemeinschaft an-gepasst ist. Der auf der Solidität der zugrunde

liegenden wirtschaftlichen Überlegungen ba-sierende wirtschaftspolitische Rahmen hat sich als funktionsfähig erwiesen. Die zahlrei-chen Kommunikationskanäle zwiszahlrei-chen den politischen Entscheidungsträgern führen auch zu einer stärkeren Sensibilisierung hinsicht-lich der durch die Währungsunion geschaffe-nen Wechselwirkungen und tragen so zur Verinnerlichung der Anforderungen der WWU bei den Entscheidungsträgern bei. Die jüngste „philosophische Konvergenz“ hinsicht-lich der Notwendigkeit struktureller Refor-men und die neue politische Dynamik hinter der zügigen Umsetzung der Lissabonner Re-formpläne zeigen außerdem, dass innerhalb des derzeitigen Rahmes wichtige politische Herausforderungen bewältigt werden können.

Trotz der obigen Ausführungen können in der Zukunft – unter voller Berücksichtigung der vertraglichen Grundlagen – bestimmte operationale Anpassungen des bestehenden Rahmens gefordert werden, sobald die Aus-wirkungen der WWU vollends zum Tragen gekommen und weitere Erfahrungen im Hin-blick auf die Verwendung von multilateralen Verfahren und des einheitlichen politischen Instrumentariums gemacht worden sind. Die derzeitigen Praktiken und Verfahrensweisen müssen auch weiterhin ständig überprüft wer-den, wodurch eine kontinuierliche Reflexion über eine Verbesserung der Architektur und Effizienz des wirtschaftspolitischen Rahmens gewährleistet ist. Die Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit des wirtschaftspolitischen Rahmens des Euro-Währungsgebiets basieren insgesamt jedoch vor allem auf der Effizienz des bestehenden zwischenstaatlichen Koor-dinierungsprozesses. Die Mitgliedstaaten kön-nen eikön-nen wesentlichen Beitrag zum Erfolg der WWU und zur Verbesserung der Außen-wahrnehmung des wirtschaftspolitischen

Sys-tems des Euroraums leisten, indem sie ihre politische Energie auf ihre jeweiligen Zustän-digkeiten konzentrieren und den Verpflich-tungen, die sie im Rahmen der derzeitigen Mechanismen übernommen haben, nachkom-men. Auf mittlere und längere Sicht wird die

künftige Entwicklung des vertraglichen Rah-mens der gesamten Europäischen Union je-doch auch Auswirkungen auf die Weiterent-wicklung des wirtschaftspolitischen Rahmens der WWU haben.