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Kulturen des Entscheidens in der Sowjetunion seit 1917

Wie unterschied sich das Entscheiden in der Sowjetunion und den ›staatssozia-listischen Diktaturen‹ vom Entscheiden in westlichen Systemen? Der Anspruch,

›rationale‹ Entscheidungen zu fällen und diese mit dem Label der ›Wissenschaft-lichkeit‹ zu versehen, findet sich in beiden Systemen. Während sich im Westen aber das politische System an demokratischen Strukturen orientierte, war das sowjetische als Diktatur einzuordnen. Bevor sich im Übergang zu den 1930er Jahren Iosef Vissarionovič Stalins persönliche Diktatur festigte, sprach man von der ›Diktatur des Proletariats‹. Von daher muss dem Entscheiden an der Spitze besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Ausprägung einer spezifischen Entscheidungskultur in der Sowjetunion vollzog sich bis Anfang der 1930er Jahre. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese im Prozess der

›Sowjetisierung‹ auf die Blockstaaten in Ostmitteleuropa übertragen.1

Der in beiden Systemen zu findende Anspruch auf ›Rationalität‹ geht auf gemeinsame Wurzeln zurück. Auch der Kommunismus entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der westlichen Moderne.2 Auf Vladimir Ilič Lenins Initiative hin erfolgte in den 1920er Jahren der Aufbau eines Planungs-apparats, der die Sowjetunion zur rationalen Entscheidungsfällung und plan-mäßigen Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft befähigen sollte. Dieser hielt Lenin nicht davon ab, nach der Machterlangung durch den Oktoberumsturz seine Herrschaft diktatorisch auszuüben.

Die Untersuchung der ›Kulturen des Entscheidens‹ muss aufklären, wie sich der Anspruch rationaler Lenkung mit der gewaltsamen Ausübung von Herr-schaft verband. Was bedeutete es, dass nach anfänglich recht freien Arbeits-möglichkeiten auch die Planer seit Ende 1927 Druck und Terror ausgesetzt wa-ren? Wieso hielt Stalin daran fest, die von ihm konzipierte und implementierte Kommandowirtschaft weiterhin als ›Planwirtschaft‹ zu bezeichnen? Dieser Rationalitätsanspruch suggerierte eine trügerische Nähe des Entscheidens zu westlichen Systemen. Zugleich darf nicht übersehen werden, dass aus der Sicht des Diktators der Begriff ›rational‹ seine Bedeutung wandelte. Für Stalin war

1 Stephan Merl, Sowjetisierung in Wirtschaft und Landwirtschaft, in: Institut für Europäi-sche Geschichte (Hg.), EuropäiEuropäi-sche Geschichte Online, Mainz 2011, http://www.ieg-ego.

eu/merls-2011-de (Stand: 25.6.2019).

2 Ders., Russland und Osteuropa, in: Friedrich Jaeger u. a. (Hg.), Handbuch der Moderne-forschung, Stuttgart 2015, S. 244–260.

nur das Handeln ›rational‹, das ihm erlaubte, seine Macht zu bewahren. Daraus resultierten Spannungsverhältnisse, die bis zum Ende der staatssozialistischen Diktaturen bestehen sollten: Rationale Entscheidungsverfahren standen der Ra-tionalität aus der Sicht des Diktators entgegen; der ansatzweisen Formalisierung von Entscheidungen standen willkürliche Eingriffe des Diktators gegenüber, der im Interesse seines Machterhalts bis hin zur Herrschaft Leonid Ilič Brežnevs immer wieder institutionelle Zuständigkeiten umwarf.

Der Blick auf die Sowjetunion konzentriert sich auf die Besonderheiten, die hier im Vergleich zu parlamentarisch-westlichen Staaten das Entscheiden präg-ten. Auf die Unterschiede, die zwischen den staatssozialistischen Diktaturen bestanden, kann an dieser Stelle nicht speziell eingegangen werden. Die Frage nach den Kulturen legt eine Perspektive von oben nahe. Spezielle Studien zum Entscheiden liegen bisher nur für die Zeit unter Stalin und einige wenige für die Chruščev-Zeit vor.3 In die Darstellung fließen deshalb auch die vorläufigen Ergebnisse meiner Archivstudien über Entscheidungsprozesse bis in die 1980er Jahre ein.4 Auch wenn, abgesehen von Stalin, kaum ein anderer Parteiführer persönlich dem Format eines Diktators zu entsprechen schien, übten alle, bis hin zu Michail Sergeevič Gorbačev, ihre Herrschaft diktatorisch aus. Sie versuchten also, die Kontingenz der Entscheidungen aufzuheben. Es ist deshalb wichtig, von ›staatssozialistischen Diktaturen‹ zu sprechen und die Eingriffe des Dikta-tors nicht aus den Augen zu verlieren. Bereits die Kontrolle über die öffentliche Kommunikation und der Zwang, in allen Vorlagen und Berichten die offizielle Sprache zu benutzen, beeinträchtigten das Entscheiden.

Der Beitrag schaut zunächst auf die beiden Traditionslinien, die zu dieser spe-zifischen Entscheidungskultur führten: Den Fortschrittsglauben mit dem Ver-trauen auf rationale Entscheidungen, der sich im Aufbau von Institutionen zur Planung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ausdrückte, und die Grundlegung diktatorischer Herrschaft auf Basis von Gewalt (Kapitel 1). Kapitel 2 betrachtet dann theoretische Konzepte, die erst den Zugang liefern, um die Spezifik der Entscheidungskultur zu verstehen: das ökonomische Dikta-torenmodell ›stationärer Bandit‹ vermag die Logik hinter Stalins Handeln auf-zeigen. Das Konzept ›Politische Kommunikation in der Diktatur‹ unterscheidet

3 Vgl. insbesondere Arfon Rees (Hg.), Decision-Making in the Stalinist Command Eco-nomy, 1932–1937, London 1997; zusammenfassend für die Zeit unter Chruščev Stephan Merl, Entstalinisierung, Reformen und Wettlauf der Systeme 1953–1964, in: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 5: 1945–1991. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, Stuttgart 2002, S. 175–318.

4 Meine eigene Archivarbeit über das ›Entscheiden‹ (Fallstudien zur Agrar- und zur Kon-sumpolitik) bezieht sich vor allem auf die untergeordneten oder der Spitze zuarbeitenden Institutionen. Dafür steht umfangreiches Material zur Verfügung; vgl. u. a. Stephan Merl, The Soviet Economy in the 1970s – Reflections on the Relation between Socialist Moder-nity, Crisis and the Administrative Command Economy, in: Marie-Janine Calic u. a. (Hg.), The Crisis of Socialist Modernity. The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s, Göttingen 2012, S. 28–65.

verschiedene Sphären der Kommunikation und fragt, über welche Formen der Kommunikation das Regime Legitimationsglauben bezog. Kapitel 3 untersucht, was sich hinter dem Begriff ›kollektives Entscheiden‹ verbarg. Wurde in den kol-lektiven Entscheidungsgremien überhaupt inhaltlich kontrovers über Entschei-dungen gestritten? Begründeten die Beschlüsse eine kollektive Verantwortung?

Kapitel 4 geht der Frage nach, warum Entscheidungen vielfach als Aktionismus anzusehen sind und – wie die Langzeitperspektive offenbart – überhaupt nicht auf die Lösung der zugrunde liegenden Probleme zielten. Kapitel 5 wirft chrono-logisch einen Blick auf die Abläufe des Entscheidens und deren Abhängigkeit von der Persönlichkeit des jeweiligen Diktators und fragt, ob Veränderungen in der Inszenierung von Entscheidungen auch den Kern dahinter, das Entscheiden in der Sache, nennenswert veränderten. Auch in der Sowjetunion fiel die große Masse der Entscheidungen auf den unteren und mittleren Ebenen. Kapitel 6 blickt deshalb auf die unterschiedlichen Ebenen des Entscheidens: wie sah die Entscheidungsfällung unten aus, welche Verschiebungen sind hier festzustellen?

Das Resümee fasst stichwortartig die wichtigsten Ergebnisse zusammen und greift die Frage nach Differenzen zu den westlichen Demokratien auf.

1. Wodurch wurden die Kulturen des Entscheidens in der Sowjetunion wesentlich geprägt?

1.1 ›Sozialistische Moderne‹: Fortschrittsglaube, Rationalität, Planmäßige Lenkung

Die Vorstellungen der ›westlichen‹ Moderne entwickelten sich in der Frühaufklä-rung zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch in engem Kontakt mit Russland. Die Weiterentwicklung der Modernevorstellungen im Westen, insbesondere die wichtige Öffnung zum Individuum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vollzog Russland nur bedingt mit. Auch die ›sozialistische Moderne‹ erweist sich noch stark von den Vorstellungen der Frühaufklärung beeinflusst. Ent-scheidend erschien der rationale Gestaltungswille des Herrschers: der Wille, seine unmündigen Untertanen zu zivilisierten Bürgern zu machen. Die Früh-aufklärer zeigten Nachsicht, als etwa Peter der Große angesichts dieser Aufgabe zu Zwangsmitteln griff.5 Dieses Element der ›Erziehungsdiktatur‹ ist auch im Stalinismus noch deutlich zu erkennen.

Die sozialistische Moderne hielt an der Erwartung der Frühaufklärung fest, wonach der Fortschritt vom Menschen gestaltbar und wissenschaftlich planbar sei, der Mensch die Dinge zum Besseren wenden und erkannte Probleme lösen könne. Selbst die Überzeugung, dass der moderne, rational denkende Mensch ein Wesen höherer Ordnung sei, wurde bewahrt. »In der Überspitzung vertrat die sozialistische Moderne eine grenzenlose Machbarkeit und Veränderbarkeit

5 Merl, Russland und Osteuropa (wie Anm. 2), S. 250.

der Welt durch den subjektiven Willen des Menschen.«6 Ebenso wurde sie vom Glauben an beständigen Fortschritt geprägt. Eine schnelle technologische Ent-wicklung faszinierte Politiker wie ›Planer‹, die übereinstimmend dazu neigten, auch sehr weitreichende Projekte zur Eroberung des geographischen Raumes und zur sozialen Umstrukturierung der Gesellschaft (social engineering) zu verfolgen, etwa Stalins Projekt zur »Umgestaltung der Natur«.

Träger des Fortschrittsglaubens wurden Teile der Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland entstehenden Bildungselite. Sie erwies sich aufgeschlossen gegen-über Evolutionstheorien, die versprachen, Russland könne aus seiner Rück-ständigkeit zum Ausgangszeitpunkt in einem künftigen Entwicklungsstadium zu den fortgeschrittenen Nationen aufschließen und diese  – aufgrund einer angenommenen Überlegenheit der russischen Kultur – sogar übertreffen.7 Ei-nige erblickten ihre Aufgabe darin, das ›Volk‹ in die richtige Zukunft zu führen.

»Diese die Volksmassen bevormundende Haltung verfestigte sich sogar noch mit dem marxistischen Projekt, das die Bildungselite als ›Avantgarde‹ der Arbei-terklasse sah. Als Mitglieder der Partei erlangten sie die Aufgabe, das einfache Volk auf dem ›wissenschaftlich fundierten‹ und vom weisen Führer vorgezeich-neten Weg in die ›sozialistische Moderne‹ zu führen.«8 Sie fanden im Marxismus

»eine ideale Lösung für ihr empfundenes Problem der Rückständigkeit, die alles verband: westliche Herkunft, das Versprechen, das im Westen erreichte Stadium durch ein ›noch‹ fortschrittlicheres Endstadium der Gesellschaft, den Kommu-nismus, zu übertreffen und damit den paradiesischen Endzustand der Mensch-heit im Diesseits herzustellen.«9 Den im Westen verbreiteten Forderungen nach der Selbstbestimmung des Individuums stellten sie das moralisch als überlegen empfundene Kollektiv, verstanden als das Gemeinwohl, entgegen.

Zu den Kernpunkten der sozialistischen Moderne zählte die ›Planwirtschaft‹.

Lenin verfolgte konsequent das Ziel, die ›Marktanarchie‹ zu überwinden und Wirtschaft und Gesellschaft planmäßig zu lenken. Zur Umsetzung des staat-lichen Elektrifizierungsplans wurde 1921 eine Plankommission geschaffen, die sich in den 1920er Jahren mit großer Kompetenz ihrer Aufgabe widmete.10 Die Planer standen im Kontakt mit Spezialisten aus westlichen Ländern, etwa des

6 Ebd., S. 245 f. u. 257–259; vgl. David L. Hoffmann, European Modernity and Soviet Socia-lism, in: Ders. / Yanni Kotsonis (Hg.), Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practices, New York 2000, S. 245–260; David Hoffmann, Cultivating the Masses: Modern State Practices and Soviet Socialism, 1914–1939, Ithaca 2011.

7 Merl, Russland und Osteuropa (wie Anm. 2), S. 252; vgl. Alexander Semenov u. a., Russian Sociology in Imperial Context, in: George Steinmetz (Hg.), Sociology and Empire. The Imperial Entanglement of a Discipline, Durham 2013, S. 53–82.

8 Merl, Russland und Osteuropa (wie Anm. 2), S. 252; vgl. Hoffmann, Cultivating the Mas-ses (wie Anm.6); Semenov u. a., Russian Sociology (wie Anm. 7).

9 Merl, Russland und Osteuropa (wie Anm. 2), S. 252.

10 Ders., Handlungsspielräume und Sachzwänge in der sowjetischen Wirtschafts- und Sozialpolitik der Zwischenkriegszeit, in: Wolfram Fischer (Hg.), Sachzwänge und Hand-lungsspielräume in der Zwischenkriegszeit, St. Katharinen 1985, S. 175–229.

Berliner Konjunkturinstituts. Es handelte sich weniger um eine institutionelle Zusammenarbeit als um die Fortsetzung persönlicher Kontakte aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.11

Die Säuberung zur Unterwerfung der Plankommission durch Stalin 1927–1929 zwang wichtige Experten zur Emigration, viele wurden in den dreißiger Jahren ermordet. Zwischen 1930 und Anfang der fünfziger Jahre war deshalb die internationale Zusammenarbeit sehr eingeschränkt. Dann eröffnete der Auf-bau entsprechender Planungsapparate in den staatssozialistischen Diktaturen wieder eingeschränkte landesübergreifende Kontaktmöglichkeiten. Der Aus-tausch – auch mit dem Westen – verstärkte sich durch die von Nikita Sergeevič Chruščev 1956 gesteckte ›ökonomische Hauptaufgabe‹, die entwickelten west-lichen Industriestaaten im Rahmen der ›friedwest-lichen Koexistenz‹ zu überholen.

Die Experten sollten dazu die westlichen Wirtschaftssysteme untersuchen und entsprechende Vergleichsstudien erstellen. Vielfach wurden sie – wie bis Mitte der dreißiger Jahre auch unter Stalin – mit bestimmten Studienaufträgen auf Dienstreisen ins Ausland geschickt.12 Zu einigen Themen wurden Fachtagun-gen von Expertengruppen der staatssozialistischen Diktaturen veranstaltet. Da-bei kam es zu einem begrenzten Erfahrungs- und Ideenaustausch. Obwohl diese unter der Parole »Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen« standen, waren einzelne politische Führungen (etwa die DDR unter Walter Ulbricht) und viele Experten davon überzeugt, dass die Sowjetunion eher von ihnen lernen müsse. Das galt insbesondere für die Agrarpolitik und die Wirtschaftsreform der sechziger Jahre.13

Je mehr wir uns auf das rationale Entscheiden fokussieren, desto stärker schei-nen die Ähnlichkeiten zwischen den Systemen. Der Wissenschaftsanspruch beider Systeme führte ab den fünfziger Jahren wieder zu Ansätzen des inter-nationalen Austauschs der Experten. In den sechziger Jahren wurden sogar in geringem Umfang westliche soziologische Konzepte und Begriffe übernom-men. Zeitweilig hatten die verschiedenen Expertengruppen vergleichsweise große Handlungsfreiheit und die Diskussion in den Fachzirkeln und den wis-senschaftlichen Institutionen konnte sehr offen geführt werden. Die Anwend-barkeit westlicher Konzepte in den staatssozialistischen Diktaturen war aber beschränkt. Soweit soziologische Studien erstellt wurden, unterlagen die Ergeb-nisse vielfach strikter Geheimhaltung.14 Der direkte Einfluss von Ökonomen und anderen Experten auf Entscheidungen war eher gering. Die Konvergenz-Theorie

11 Ebd., S. 177–184; Friedrich Pollock, Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjet-union 1917–1927, Frankfurt a. M. 1971.

12 Merl, Soviet Economy (wie Anm. 4).

13 Vgl. ders., Sowjetisierung (wie Anm. 1).

14 Ders., Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich, Göttingen 2012; ders., Political Communication under Khrushchev: Did the Basic Modes Really Change after Stalin’s Death?, in: Thomas M. Bohn u. a. (Hg.), De-Stalinisation Reconsidered. Persistance and Change in the Soviet Union, Frankfurt a. M. 2014, S. 65–92.

erwartete in den siebziger Jahren nicht zufällig, dass ein ›technokratisches‹

Entscheiden eine Annäherung zwischen den politischen Ordnungen bewirken würde. Mit der Vorstellung, der Staat müsse den Einzelnen bevormunden, um ihn vor sozialer Unsicherheit im Alter, bei Krankheit oder dem Verlust der Arbeitsfähigkeit zu bewahren, näherte sich die ›europäische‹ Moderne nach 1945 wieder der ›sozialistischen‹ an. Nach dem Zweiten Weltkrieg prägte sich in Europa die Überzeugung aus, es könne und müsse das vorrangige Ziel des Staates sein, die soziale Not zu überwinden. William Henry Beveridges Konzept des welfare state, Karl Schillers konzertierte Aktion, und Chruščevs kommunis-tisches Modell der Bedürfnisbefriedigung trafen sich in dieser Überzeugung.

1.2 Angst vor Repressionen

Nach dem ›Oktoberumsturz‹ ging es den Bolschewiki primär um die Bekämp-fung realer oder vermeintlicher Feinde der Revolution. Ihre Vernichtung stellte die Partei-Propaganda als Voraussetzung dar, um das versprochene Ziel, den Kommunismus, zu erreichen. Sachentscheidungen wurden von der Bekämpfung vermeintlicher oder tatsächlicher Feinde überlagert. In der Regel gab der Macht-erhalt für die Partei, bzw. später für den jeweiligen Diktator, bei Entscheidungen den Ausschlag. Innerhalb der Spitzengruppe wurde zunächst nach Lenins und dann wiederum nach Stalins Tod um die Führungsrolle gekämpft, die seit Sta-lin die diktatorische Ausübung der Herrschaft beinhaltete. Die Revolutionäre betrachteten sich gegenseitig vor allem als Konkurrenten. Mit den Positionen, die sie innerhalb der ›kollektiven Führung‹ bezogen, ging es ihnen um die Aus-schaltung von Konkurrenten, nicht um die Auseinandersetzung um den besten Kurs für das Land. So stand beispielsweise in der Agrarpolitik nicht die Nutzung des bäuerlichen Entwicklungspotentials im Vordergrund, sondern die Ideologie:

Die soziale Differenzierung der Bauernschaft und der ›Klassenkampf‹ im Dorf wurden beschworen, um parteiinterne Gegner zu diskreditieren.15

Bereits Lenin schreckte nicht davor zurück, wirtschaftliche Ziele mit Ge-walt durchzusetzen. So behandelte die ›Ernährungsdiktatur‹ die Bauern als potentielle Konterrevolutionäre. Erst als diese Politik in den Bauernaufständen von 1920/1921 den Machterhalt akut gefährdete, lenkte Lenin mit einem ra-dikalen Politikwechsel ein.16 Nach dem Kronstädter Aufstand setzte er 1921 das Fraktionsverbot durch. Es sollte bis zum Ende der Sowjetunion dauer-haft verhindern, dass in den Führungsgremien inhaltliche Debatten um den

15 Stephan Merl (Hg.), Sowjetmacht und Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des »Kriegskommunismus« und der Neuen Ökonomischen Politik, Berlin 1993; Oleg Chlewnjuk, Stalin. Eine Biographie, München 2015, S. 83–157.

16 Stephan Merl, Traditionalistische Widersetzlichkeit oder politische Programmatik?

Russlands Bauern im Kräftefeld von Agrarreform und revolutionärer Mobilisierung (1856–1941), in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 65 (2017), S. 73–94.

Kurs ausgetragen oder alternative Entwicklungsvorstellungen diskutiert werden konnten. Stalin nutzte das Fraktionsverbot ab 1927 zur Ausschaltung seiner parteiinternen Rivalen. Im Sprachgebrauch der Bolschewiki verbreiteten sich für die Leitung der Wirtschaft militärische Begriffe: man sprach von »Säube-rungen«, »der Getreidefront«, der »Industrialisierungsfront«. Diese Semantik illustriert die Entgrenzung des Denkens in Bezug auf gewalttätiges Handeln.

Dass der Herrscher vor Gewalt und Repressionen nicht zurückschreckte, sollte sowohl die Planer als auch die Mitglieder der Führungsgruppe um den Diktator herum einschüchtern und daran hindern, offen ihre Meinung zu sagen.

›Kritik und Selbstkritik‹ der Leitungskader gehörten zum verlangten formali-sierten Handlungsablauf. Kritik am Kurs der Partei war dagegen unzulässig und wurde mit Sanktionen verhindert, die unter Stalin bis hin zur physischen Auslöschung reichten.

In der von Lenin ins Leben gerufenen Plankommission und in den wissen-schaftlichen Instituten arbeiteten zunächst vor allem »bürgerliche Spezialisten«.

Die Parteiführung beschränkte ihren Spielraum für wissenschaftliche Debatten bis 1927 kaum. Die Diskussion der Experten, in der es um Sachfragen ging, berührte sich nicht mit derjenigen der Parteiführer, die vorrangig auf die Aus-schaltung parteiinterner Gegner zielte. Die Planungsbehörde konnte Ende 1927 einen ersten Fünfjahrplan für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft vorlegen. Tatsächlich war der Spielraum für eine wirklich rationale Lenkung der Wirtschaftspolitik zu diesem Zeitpunkt in keinem anderen Land so groß.

Der Entwurf ermöglichte die Auswahl ökonomischer Handlungsalternativen.17 Der Spielraum wurde nicht genutzt. Vielmehr wurden zwischen 1927 und 1929 die Planer gezielt von der Gruppe um Stalin diskreditiert und entmachtet.

Stalin riss zu diesem Zeitpunkt die Wirtschaftslenkung an sich. Die von ihm erteilten Anweisungen verlangten, ökonomische Ziele mit Gewalt durchzuset-zen. Indem er die Repressionen gezielt gegen Funktionäre richtete, provozierte Stalin zugleich Übergriffe der lokalen Partei- und Wirtschaftskräfte gegen die Bevölkerung. Speziell die Planer wurden Zielscheibe von Drohungen und Ge-walt. Stalin unterstellte, dass sich in der Plankommission ›Feinde‹ und Konter-revolutionäre verbargen, die das Wachstum künstlich niedrig halten wollten, um den Aufbau des Sozialismus zu sabotieren. Um die Planziele zu erhöhen, wurden die Planer massiv unter Druck gesetzt. Stanislav Gustavovič Strumilin, ein bekannter Statistiker, äußerte 1929 über seine Kollegen, dass man natürlich mit entsprechendem Druck leicht die völlige Beseitigung jeglicher Vorsicht hätte erreichen können. Leider war es aber kaum rational gewesen, die Zivilcourage jener Spezialisten der Probe zu unterziehen, die es in inoffiziellen Bekenntnissen ohnehin vorgezogen hätten, für ein hohes Wachstumstempo »einzustehen« als für ein niedriges »einzusitzen«18. Von dem Ausmaß des auf die Planer

ausge-17 Merl, Handlungsspielräume (wie Anm. 10).

18 Stanislav Gustavovič Strumilin, O tempach našego razvitija, in: Planovoe Chozjajstvo 1 (1929), S. 104–116, S. 109.

übten Drucks zeugen die Veränderungen, die die Plankommission an der 1927 vorgelegten Variante des Fünfjahrplans bis zur endgültigen ›Beschlussfassung‹

im April 1929 vornahm: Statt einer auf jährlich etwa 10 % fallenden Wachs-tumsrate bei der Großindustrie sah die endgültige Variante einen allmählichen Anstieg des Wachstums auf jährlich 16–21 % vor. Die Gesamtsumme der In-vestitionen wurde von 16 auf 64,5 Milliarden Rubel angehoben, und binnen fünf Jahren sollte die Agrarproduktion nach der Optimalvariante nun sogar um 55 % steigen.19

Stalin ging es dabei um die Beseitigung von Kontingenz: Er musste unbedingt verhindern, in seiner Entscheidung von den Fachapparaten eingegrenzt oder gar abhängig zu werden. Gut begründete Vorlagen der Experten hätten selbst ihn gebunden, seine Handlungsfreiheit als Diktator eingeschränkt und ihn letztlich überflüssig gemacht. Er entschloss sich deshalb, den Planern mit der Sabotage-Kampagne die Autorität zu nehmen und die staatliche Plankommis-sion zu ›köpfen‹. Ihr Leiter, Vladimir Gustavovič Groman, und viele Experten wurden verhaftet. Gegen Groman und andere wurde 1931 ein Schauprozess durchgeführt. Um Stalins Herrschaft im Weiteren nicht zu bedrohen, wurde der Planungsapparat nun so klein gehalten, dass er die Aufgaben, die gesamte Wirtschaft planmäßig zu lenken, überhaupt nicht erfüllen konnte.20

Der Beschluss der 15. Parteikonferenz im April 1929, den endgültigen Fünf-jahrplan in Form der ›Optimalvariante‹ anzunehmen,21 ein Jahr später gefolgt von Stalins Aufruf, den Fünfjahrplan in vier Jahren zu erfüllen, beendete das Bemühen um eine planmäßige Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft. Da die Pläne den optimalen Einsatz der Ressourcen vorsahen, musste jegliche Über-erfüllung zugleich die Nichtverfügbarkeit von Ressourcen an anderer Stelle und

Der Beschluss der 15. Parteikonferenz im April 1929, den endgültigen Fünf-jahrplan in Form der ›Optimalvariante‹ anzunehmen,21 ein Jahr später gefolgt von Stalins Aufruf, den Fünfjahrplan in vier Jahren zu erfüllen, beendete das Bemühen um eine planmäßige Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft. Da die Pläne den optimalen Einsatz der Ressourcen vorsahen, musste jegliche Über-erfüllung zugleich die Nichtverfügbarkeit von Ressourcen an anderer Stelle und