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3. Trauer

3.5. Deskriptive Trauermodelle

3.5.4. Kritik am Phasenverständnis von Trauer

Aufgrund ihrer Popularität und weiten Verbreitung in professionellem wie privatem Zusammenhang, nehmen Phasenmodelle in der Trauerforschung eine besondere Stellung ein.279 Kübler-Ross‘ Modell als das mit Abstand Bekannteste findet noch heute Anwendung in der Ausbildung einiger Professionen mit entsprechendem Themenbezug, oder auch der Schulung ehrenamtlicher Trauerbegleiterinnen oder Hospizhelferinnen. Darüber hinaus finden sie Erwähnung in der Mehrheit populär- und naturwissenschaftlicher Veröffentlichungen zum Thema. Gleichzeitig scheinen Phasenmodelle als Instrument zur Darstellung, Diagnostik und Betreuung von Trauerprozessen in ihrer praktischen Anwendung ungeeignet.280 Deshalb sollten sie auch kritisch betrachtet werden.

Entscheidende Gründe für ihre dennoch ungebrochene Beliebtheit mögen in der eindeutigen Strukturierung und scheinbaren Klarheit dieser Modelle liegen, aufgrund derer sie zunächst überaus hilfreich scheinen, jedoch darüber hinaus stark vereinfacht sind. Oft fehlt es an präzisen Definitionen ausnahmslos aller durch das jeweilige Modell abgedeckten Bereiche und Aspekte. Zusätzlich existieren in der Regel bereits hinsichtlich des methodischen Vorgehens bei der Konstruktion besagter Systematiken keine ausreichenden Informationen.

278 Vgl. Shuchter et al. (1993), S. 23-43. Es gilt anzumerken, dass der Symptombegriff in dieser Auffassung etwas unglücklich gewählt zu sein scheint – im Rahmen medizinischer Diagnostik dienen die beobachteten Symptome zwar deskriptiv der Beschreibung wahrscheinlich vorliegender Krankheiten, jedoch gleichermaßen präskriptiv bei der Abwägung der Sinnhaftigkeit weiterer Behandlungsmaßnahmen.

279 Vgl. Lammer (2003), S. 187

280 Vgl. Lammer (2003), S. 198 und Wortman et al. (1993), S. 349-353

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Diese fehlende Plausibilisierung seitens der Autorinnen, beispielweise in Bezug auf

maßgebliche Charakteristika, Grenzziehungen oder die Begründung der jeweiligen, durch sie vorgenommenen Reihenfolge ihrer Trauerphasen, suggeriert eine starke Beliebigkeit der Einteilungen.281

Die Hypothese von der Notwendigkeit aktiver „Trauerarbeit“ zur erfolgreichen Bewältigung im Sinn einer Verlustakzeptanz und Vermeidung abträglicher Gesundheitskonsequenzen ist umstritten. Die Mängel dieses Trauerarbeitsverständnisses bestehen dabei ebenfalls in ungenügender Definitionsklarheit, sowie einem Mangel an soliden Beweisen und Schwierigkeiten in der Operationalisierung.282

Lindemann begründet die Notwendigkeit der „Trauerarbeit“ beispielsweise mit seinen Beobachtungen hinsichtlich ulzerativer Colitis – im Rahmen seiner Studie entwickelten 33 von 41 Patienten ihre Krankheit nach einem bedeutenden Verlusterlebnis, deren Beschwerden sich nach erfolgreicher „Trauerarbeit“ deutlich besserten.283 Laut jüngerer Veröffentlichungen ist intensives Leidempfinden als Zeichen der „Trauerarbeit“ jedoch nicht erforderlich.284 Die Trauerarbeitshypothese berücksichtigt weder geschlechts-, noch kulturspezifische Unterschiede im Umgang mit Verlusterleben oder der Trauerexpression.285

Stroebe und Stroebe definierten eigens für ihre Studie „Trauerarbeit“ als das Ausmaß

gezeigten Meide- oder Akzeptanzverhaltens. Sie fanden, dass das Durcharbeiten bei Witwern durchaus einen positiven Effekt zeigt, während bei Witwen keine Unterschiede in der

Entwicklung depressiver oder somatischer Beschwerden auftraten. Die Autorinnen führen diese scheinbar höhere Effektivität des Durcharbeitens auf geschlechterrollenspezifische Unterschiede zurück – die Verlustverdrängung würde bei Männern durch berufliche Ablenkung und gesellschaftlich sanktionierte Gefühlsexpression von vornherein deutlich stärker unterstütz als bei Frauen, die tendenziell eher zu irgendeiner Beschäftigung mit der Trauer neigten.286 In Revision ursprünglicher Geschlechterrollen spielen die Faktoren sozialer Ächtung und Berufsablenkung heute auch bei Frauen eine große Rolle – basierend auf obige

281 Vgl. Lammer (2003), S. 197 und Stroebe et al. (1999), S. 197

282 Vgl. Stroebe et al. (1999), S. 199-201

283 Vgl. Lindemann (1962), S. 13

284 Vgl. Znoj (2004), S. 5 und Wortman et al. (1989)

285 Vgl. Stroebe et al. (1999), S. 203-204

286 Vgl. Stroebe und Stroebe (1993b), S. 224-225

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Studienergebnisse könnte „Trauerarbeit“ demnach doch einen gewissen Nutzen für alle Betroffenen haben.

Hinsichtlich der postulierten Trauerphasen fehlt es nicht nur kulturübergreifend und

zeitgeschichtlich an empirischer Evidenz und Validität287, sondern auch im Hinblick auf deren bloße Existenz. Der erste und einzige Beleg für die Möglichkeit einer Trennung oder

Chronologie einzelner Trauerzustände wurde bisher lediglich in der Yale Bereavement Study erbracht. Die Ergebnisse zeigen zwar, dass normale Trauer tatsächlich einen systematischen Verlauf aufweist, dennoch werden die Symptome nicht phasenweise durchlebt, sondern zeigen ihre höchste Ausprägung überlappend innerhalb der ersten sechs Monate nach dem Verlust, während die Akzeptanz während der folgenden 24 Monate zunimmt.288

Phasen- und Stressmodelle können die Vielfalt individueller Symptomausprägungen, Trauerverläufe oder Bewältigungsstrategien nicht erklären.289 Unabhängig vom jeweiligen Modell werden die Phasen als universelle Gesetzmäßigkeiten präsentiert statt als potenziell mögliche, für gewöhnlich auftretende und idealtypisch dargestellte Trauerkomponenten – das Trauerverständnis erscheint durch die Implikation unbedingter Uniformität stark

eingeschränkt.290

Neuere Forschungsarbeiten beweisen den Einfluss zahlreicher verschiedener Aspekte auf den Gesamtverlauf291 – Phasenmodelle entsprechen nicht mehr dem heutigen Verständnis von Komplexität und Diversität eines individuellen Trauerprozesses. Die unflexible

Geradlinigkeit macht das Stufenmodell mangels Repräsentation der für die Trauer charakteristischen dynamischen Prozesse realitäts- und menschenfern. Insbesondere der limitierte Fokus hinsichtlich intrapersonaler Prozesse und Gesundheitsfolgen erscheint dabei problematisch.292

Auch stellen Phasenmodelle nur schwerlich einen Zusammenhang zwischen

Lebensänderungen und konsekutiven Auswirkungen des Verlusterlebnisses auf mentale und körperliche Gesundheit her.293

287 Vgl. Stroebe et al. (1999), S. 197

288 Vgl. Maciejewski et al. (2007)

289 Vgl. Wortman et al. (1993), S. 351-352

290 Vgl. Lammer (2003), S. 198

291 siehe weiter unten

292 Vgl. Lammer (2003), S. 196-199 und Stroebe et al. (1999), S. 197

293 Vgl. Wortman et al. (1993), S. 351-352

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Obwohl Kübler-Ross, Bowlby und andere im Rahmen ihrer Modelle darauf hinweisen, dass eine Trennung einzelner Phasen nicht derart klar möglich sei, also die Möglichkeit von Überlappungen, Verflechtungen und fließenden Übergängen bestehe und jedes Individuum für einige Zeit zwischen ihnen pendeln könne, fehlen diese Informationen in der Regel im direkten Zusammenhang mit ihren Theorien und treten erst bei eingehenderer Beschäftigung in Erscheinung.294 Die Verantwortung für heutige Fehlinterpretationen kann dabei nicht allein der Umsetzung und Präsentation durch jeweilige Lehrbeauftragte zulasten gelegt werden – konsequenterweise hätten die Entwicklerinnen angesichts dieser bereits durch sie selbst erkannten Einschränkungen andere Möglichkeiten als die Gestaltung ihrer primär exemplarischen und idealtypischen Phasenmodelle ergreifen können.

Darüber hinaus hat eine Mischung aus verzerrten Daten, fehlerhafter Interpretation durch Fachfremde, eigenen Bedürfnissen und limitierten Möglichkeiten zur offenen

interdisziplinären Kommunikation zur Persistenz unrealistischer Erwartungen in Bezug auf den normalen Trauerprozess geführt.295

Neben der Frage nach ihrer Existenz im Allgemeinen, ergibt sich das Problem der praktischen Anwendung der Trauerphasen. Bereits ihre Diagnostizierbarkeit durch die entsprechenden Professionen gilt nach aktuellem Kenntnisstand nicht als gesichert.296

Shuchter und Zisook sehen die insbesondere im Rahmen psychodynamischer Prozesse vertretene These von einer folgenlosen Bewältigung (recovery) überaus kritisch angesichts des Auftretens auch wiederholt intensiver Erinnerungen anlässlich bestimmter Ereignisse, wie Jahres- oder Geburtstage. Trotz zahlreicher wissenschaftlicher Daten über eine im weiteren Zeitverlauf abnehmende Intensität, sei die Vorstellung von einem Abschluss oder anhaltender, unbewältigter Trauer als Trauerstörung ein zu stark simplifiziertes Konzept. Die

überwiegende Mehrheit der Betroffenen bewältige ihre Trauer zeitlebens nicht vollständig.

Außerdem blieben signifikante Aspekte als Reminiszenzen auch im Zuge normaler, gesunder Bewältigung selbst nach Jahren in irgendeiner Form präsent. Statt zu enden, würde Trauer vielmehr in neue Beziehungen inkorporiert.297

294 Vgl. Bowlby (1980), S. 85

295 Vgl. Wortman et al. (1989)

296 Vgl. Lammer (2003), S. 197-198 in Bezug auf Fitchett (1980)

297 Vgl. Shuchter et al. (1993), S. 23-26 und 35-40, sowie Wortman et al. (1989)

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Da Trauernde nicht zu ihrer früheren Identität und emotionalen Organisation zurückkehren, müssten nach schwerem Verlusterleben laut Weiss Charakterveränderungen erwartet werden.

Demzufolge erscheint es ihm angebrachter, anstelle einer Erholung (recovery) von Adaptation (adaption), Gewöhnung (accommodation) oder Grad des Schadens (degree of damage) zu sprechen – dabei sei „Erholung“ nur insofern angemessen, als dass sie eine Rückkehr zum früheren Normalniveau bezeichne (return of ordinary oder return to previous levels of functioning). Er betrachtet dabei verschiedene Aspekte des persönlichen und sozialen

Funktionierens zur erfolgreichen Alltagsbewältigung. Nach dieser Auffassung kann Erholung auch nur partiell oder unvollständig ausfallen.298

Auch die in den meisten Modellen vertretene initiale Schockphase wird überaus kontrovers diskutiert.

Shuchter und Zisook zufolge erleben die meisten Trauernden bei Partnerverlust im Zuge emotionaler und kognitiver Reaktionen eine initiale Schockphase, während der die Erfassung des vollständigen Ausmaßes ihres Verlustes noch nicht möglich ist. Dabei könne die Qualität dieser Erfahrung stark variieren zwischen einem eigentlichen Betäubungszustand und

erstaunlich unbeeinträchtigten Denk- und Emotionsvorgängen – mentale Prozesse seien während dieser frühen Schockphase normalerweise sehr klar, organisiert und präzise, sogar besser als gewöhnlich. Verwirrung, Konzentrationsschwierigkeiten, Vergesslichkeit und Mangel an Klarheit im Sinne eines Schockzustandes träten erst mit Durchbruch der Emotionen auf. 299

Lammer hält die These von einer Schockphase zu Beginn des Trauerprozesses für eine

unhaltbare, empirisch belegbare Fehlannahme. Die Begrifflichkeit impliziere eine anfängliche Taubheit und Erstarrung, der interpersonale Variabilität, die Möglichkeit zur Oszillation und jüngere Forschungsergebnisse über Diversität, insbesondere hinsichtlich der Intensität und Signifikanz erster Trauerreaktionen, ebenso entgegenstehen, wie ihre eigenen

Alltagserfahrungen. Vielmehr zeigten Trauernde unmittelbar nach dem Verlust eine verstärkte Aufmerksamkeit und emotionale Präsenz mit hohem Erinnerungsvermögen an die mitunter jahrelang stark affektiv besetzte Sterbesituation. Darüber hinaus könnten bereits zu Beginn des Trauerprozesses sämtliche beschriebenen Symptome auftreten. Auch aufgrund der

298 Vgl. Weiss (1993), S. 277-278

299 Vgl. Shuchter et al. (1993), S. 26-27 und S. 29

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Tatsache, dass Emotionskontrolle primär aus sozio-kulturellen Auflagen resultiere, könne keine natürliche, kontrollierte Phase zu Beginn des Trauerprozesses angenommen werden.300 Auch bei Primaten wurde im Zuge von Verlusterleben zunächst vielmehr erhöhte Aktivität mit Agitation und Rebellion beobachtet, der sich erst im weiteren Verlauf eine Phase der Depression anschloss.301 Außerdem müssen diese Niedergeschlagenheitsgefühle nicht gezwungenermaßen auftreten – neben negativen, äußern Trauernde in der ersten Zeit nach dem Verlust überraschend häufig auch positive Emotionen.302

Darüber hinaus sei die Schockphase aufgrund ihrer Implikationen für die Gestaltung eines adäquaten Umgangs mit Trauernden überaus kontraproduktiv und mitunter gefährlich – das gelte vor allem für die Konzeption der Trauerbegleitung im Umfeld medizinischer

Einrichtungen.303

Unabhängig etwaiger Vorerfahrungen mit Trauerbegleiterinnen oder dem sozialen Umfeld, übten laut Lammer bereits die Phasenmodelle selbst einen unwiderlegbaren Erwartungsdruck auf die Betroffenen aus. Die dort vertretenen unrealistischen Ansichten verschärften das Gefühl der Bedrängnis bei Trauernden – das Nichterfüllen der strikten Vorgaben über den Trauerverlauf könne neben großer Unsicherheit auch die irrige Selbstwahrnehmung einer unangebrachten individuellen Trauerantwort bedingen.304

Angesichts dessen stellt sich die Frage nach der generellen Daseinsberechtigung der Phasenmodelle.

Dass Kübler-Ross bei der Formulierung ihrer Phasen unser heutiges Verständnis davon im Sinn hatte, ist zu bezweifeln. Ihr großer Beitrag besteht in der Erkennung und Beschreibung wiederkehrender Muster in variabler Abfolge und Dauer anhand ihrer Beobachtung der individuellen Vielfalt menschlicher Verlustreaktionen. Durch die Schaffung einer wichtigen Orientierungshilfe beförderte sie gegenseitiges Verständnis – die Entwicklung einer

verständnisvollen Haltung seitens Betreuender und die Kanalisation entsprechender Emotionen durch Betroffene ermöglichen Verbindung und Nähe. Darüber hinaus soll ihr

300 Vgl. Lammer (2003), S. 199-200 in Bezug auf eigene Erfahrungen erster Reaktionen Trauernder

301 Vgl. Laudenslager et al. (1993), S. 132-133

302 Vgl. Wortman et al. (1993), S. 349-353 oder Wortman et al. (1989)

303 Vgl. Lammer (2003), S. 20-22 wie auch S. 199-200

304 Vgl. Lammer (2003), S. 194-195 und Wortman et al. (1989)

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Phasenmodell als Beitrag zur persönlichen Angstbewältigung im Angesicht des eigenen Todes dienen.305

Insgesamt gehört die Schaffung eines Verständnisses von Trauer als zeit- und

energieintensivem Prozess zu den großen Verdiensten der Phasenmodelle. Über die reinen Symptomatologien hinaus haben sie ein erstes Bewusstsein für die Bedürfnisse Trauernder geschaffen und können mögliche Änderungen dieser Ansprüche im Trauerverlauf erklären.

Sie führen sowohl Möglichkeiten, als auch die Pflicht zur Unterstützung Trauernder vor Augen.306

Angesichts der Unmöglichkeit der Vorhersage individueller Reaktionen stoßen

Verhaltenstheorien oft auf Ablehnung. Tatsächlich ist striktes Modelldenken nicht möglich, andererseits reine Emotionalität nicht ausreichend effektiv und ein theoretischer Rahmen für die Entwicklung und Umsetzung effektiver Unterstützungsmaßnahmen unbedingt

notwendig.307

Trotz starker wissenschaftlicher Prägung dieser Ansicht, verfügen nicht alle Menschen über dasselbe Ausmaß an Empathie – entsprechende Schemata befähigen sie eventuell zu

wesentlich adäquaterer Hilfeleistung. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Gesundheitsberufe, gerade auf anderen als der emotionalen Ebene Unterstützung zu bieten – diese erfolgt in aller Regel bereits durch Freunde oder Familienangehörige.

Obwohl für das Verständnis menschlicher Emotionen holistische Ansätze überaus hilfreich scheinen308, tragen Phasenmodelle erheblich zu Verständnis und Akzeptanz entsprechenden Trauerverhaltens, allen voran aggressiver Mechanismen bei309 – auch im Bereich der Veterinärmedizin.310 Durch die Beschreibung spezifischer Adaptationsprozesse bei der individuellen Bewältigung erscheinen auch Bowlbys und Horowitz‘ Modelle überaus hilfreich.311

Auch wenn sie sich letztendlich als unzulänglich erwiesen, ermöglichten erst die Phasenmodelle die jüngste Entwicklung adäquaterer Trauermodelle.

305 Vgl. Kübler-Ross (2014), S. 13-15

306 Vgl. Lammer (2003), S. 198

307 Vgl. Parkes (1993), S. 91

308 Vgl. Averill et al. (1993), S. 90

309 Vgl. Lammer (2003), S. 89-81

310 Vgl. Lagoni et al. (1994), S. 37

311 Vgl. Wortman et al. (1993), S. 349-353

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