4. Trauerbegleitung
4.5. Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Trauernden in der Humanmedizin
Laut Raphael sollten Angehörige der Gesundheitsberufe sicherstellen, dass ihre Praktiken und Vorgehensweisen der Trauer förderlich sind – sie sollten das Leid Betroffener nicht
verstärken oder das Risiko zur Entwicklung von Störungen erhöhen. Aufklärung und Information auf professioneller wie gesellschaftlicher Ebene, die Beleuchtung
kulturübergreifender Themen, sowie die Förderung von Empathie für und der Identifikation mit Trauernden zu einem gewissen Grad seien von erheblicher Bedeutung für die
bestmögliche Hilfe. Begleiterinnen benötigten ein Grundverständnis über die möglichen psychodynamischen Auswirkungen infolge ihres Handelns, sowie entsprechende
Fachkenntnisse und Schulungen, um normalen Trauerverläufen adäquat begegnen und solche Formen mit Bedarf an professioneller Hilfe erkennen zu können.525
Entsprechende Fachkenntnisse scheinen wichtig, da besonders das Ignorieren trauerbedingter Fassungslosigkeit aus Ahnungs- oder Hilflosigkeit zu den häufigsten Fehlern im Umgang mit Betroffenen gehöre.526 Sowohl das Fehlen universaler Strukturen, als auch starke
Individualisierung von Trauer führen zu Sprachlosigkeit.527
Das Verständnis eines universalen Kerns der Trauer scheint gerechtfertigt und sinnvoll für den adäquaten Umgang mit Betroffenen, da offenbar auch unabhängig von ethnologischen oder erlebnisbedingten Umständen prinzipielle Ähnlichkeiten in Trauerprozessen bestehen.
Trotz ihrer persönlichen Individualität, scheinen Zuwendungs- und Reflexionsbedürfnis zur Erlangung eines neuen Selbstverständnisses universell bei allen Trauernden vorhanden.
Darüber hinaus dürfte die Kenntnis aktueller Forschungsergebnisse bedeutsam sein – diese
525 Vgl. Raphael et al. (1993), S. 428-429
526 Vgl. Sittler (2008), S. 28
527 Vgl. Gering (2008), S. 143-145
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können schnell mit den traditionellen Lehren konkurrieren oder kollidieren, sowie Althergebrachtes revidieren. Gleichzeitig könnte auch lückenhaftes Wissen immer noch effektives Zuhören und Unterstützung ermöglichen. Neben allem Fachwissen sei stets die eigene Limitierung in der Fähigkeit zum Verständnis anderer Personen zu beachten.528 Laut Lammer sollten Berufsgruppen in Kontakt mit Trauernden insbesondere über den bindungstheoretischen Nutzen von Wiedervereinigungsstreben, Aggressions- und
Suchverhalten informiert sein, um die Betroffenen mit dem nötigen Verständnis begleiten, ihre Reaktionen verstehen und ihnen Gelegenheit zum Vollzug des Lernprozesses geben zu können – das sei insbesondere im Hinblick auf den Prozess von Derealisation zur Realisation des Todes und das sinnhafte Begreifen des Verlusts bedeutsam.529
Die Fähigkeit zur Identifikation pathologischer Trauerantworten zur Erkennung solcher Individuen, die möglicherweise professioneller Hilfe bedürfen, wäre eine nicht zu leugnende Hilfe für Gesundheitsprofessionen mit Kontakt zu Trauernden – gleichzeitig bedingt diese Kategorisierung hinsichtlich einer Therapiebedürftigkeit die Gefahr der Ignoranz alternativer, individueller Ansichten und Bedürfnisse in der Verlustbewältigung. Die Anerkennung dieser individuellen Variabilität ist essenziell für unvoreingenommenes, respektvolles und sensibles Handeln gegenüber Betroffenen.530
Bei der Beratung und Behandlung Trauernder sollten Symptome einer PGD angesprochen und eruiert werden.531 Darüber hinaus empfiehlt sich die Aufklärung über
Bestattungsmöglichkeiten bereits möglichst prämortal – aufgrund thematischer Verdrängung und mangelnder persönlicher Erfahrung besteht oft Hilflosigkeit im Zusammenhang mit Organisation und Umsetzung des Begräbnisses, auch in zunehmendem Lebensalter.532 Hinsichtlich des unterschiedlichen Ausmaßes der Belastung durch verschiedene Verluste stellen sich für Prävention, Therapie und Betreuung von Trauerverläufen Schlüsselfragen nach der Identifikation auslösender Variablen, sowie der Benennung spezifischer Faktoren und Umstände, die Schwierigkeit in der Trauerverarbeitung bedingen.533 Bemühungen zur Reduktion bestimmter Risikofaktoren zur frühen Erkennung, Unterstützung und Behandlung
528 Vgl. Rosenblatt (1993), S. 110-111
529 Vgl. Lammer (2003), S. 107
530 Vgl. Wortman et al. (1989)
531 Vgl. Boelen (2013)
532 Vgl. Noack (2008), S. 107-108
533 Vgl. Stroebe, Stroebe, et al. (1993a), S. 13
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müssten insbesondere hinsichtlich maladaptiver Bewältigungsstrategien infolge individueller Dispositionen534 und durch die Erfassung vollständiger Historien mit besonderer Beachtung früherer Verluste und aktueller Belastungen verstärkt werden.535
Trotz ihrer vielbetonten Bedeutsamkeit scheint das Netzwerk für Trauerbegleitung im medizinischen Bereich nur ungenügend ausgebaut. Es scheint Notwendigkeit zu Verbesserungen in verschiedenen Punkten zu bestehen.
Änderungen im Umgang mit Trauernden durch Medizinerinnen könnten dabei ähnlich gestaltet werden wie Modifizierungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt – im Zuge der Vernachlässigung emotionaler Aspekte durch die rein medizinische Behandlung erfuhren vor allem in jüngerer Vergangenheit Hebammen und Hausgeburten erhöhte
Beliebtheit, infolgedessen ein langsames Umdenken im medizinischen Bereich angestoßen wurde.536
Hinsichtlich perimortaler Trauerbegleitung fehle es vor allem an Informationen und
Evaluation – als Konsequenz dieser strukturellen Mängel litten viele Trauernde unter direkten Folgen und anschließenden Pathologien ihrer Verlusterlebnisse. In Ermangelung eines
universalen Modells im Umgang mit Trauernden sei die Entwicklung neuer, flexibler Modelle insbesondere für diejenigen, deren Bedürfnisse durch bestehende Strukturen nicht
angesprochen werden könnten, anzustreben.537
Lammer zufolge ist Trauerbegleitung idealerweise jedem Trauernden als Regelangebot in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen institutionalisiert vorzuhalten, ebenso wie die Sterbebegleitung und Begleitung antizipatorischer Trauer. Im Vergleich der Vorgehensweisen in deutschen und US-Krankenhäusern fielen starke Unterschiede auf – dort ermöglichten strukturelle Unterschiede, wie eine dichtere Personaldecke, die engere Anbindung der
Seelsorgerinnen durch ihre direkte Anstellung im Krankenhaus, dauerhafte Anwesenheit und Erreichbarkeit vor Ort und eigene Räume für Trauernde zum Schutz vor der Öffentlichkeit, die wesentlich bessere Umsetzung perimortaler Trauerbegleitung. Begünstigend wirkten außerdem die stärkere Verknüpfung von Religion mit Gesundheits- und Therapiekonzepten ebenso, wie der wettbewerbliche Hintergrund amerikanischer Krankenhäuser – in diesem
534 Vgl. Stroebe et al. (1999), S. 198
535 Vgl. Sanders (1993), S. 255-267
536 Vgl. Averill et al. (1993), S. 90
537 Vgl. Raphael et al. (1993)
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Rahmen erreiche Seelsorge einen hohen Grad an Kundenbindung bei geringer Investitionsnotwendigkeit. Obwohl auch deutsche Krankenhäuser mit zunehmendem Wettbewerb und steigender Patientenfluktuation konfrontiert sind, ist die krankenhäusliche Seelsorge weniger etabliert oder nicht vorhanden – Schwerpunkte sich hierzulande die Kirchenkreise. Lösungsmöglichkeiten hinsichtlich dieser ungenügenden Begleitkultur bestehen laut Lammer in der schwerpunktorientierten Etablierung regelmäßiger Bereitschaftsdienste in Notaufnahme und Intensivstation, der Einrichtung zyklischer Gedenkgottesdienste, Gesprächs- und Selbsthilfegruppen, der etablierten Möglichkeit zum postmortalen rituellen Abschiednehmen, sowie dem Versenden von Kondolenz in Verbindung mit der Bereitstellung spezieller Adress- und Hilfsangebote. Dafür müsse nach dem erprobten Beispiel der Sterbebegleitung sowohl auf die Ausbildung von Ärztinnen und Pflegerinnen, als auch ihre supervisorische Begleitung hingearbeitet werden.538