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2.1 Polymorphe und ihre Kristallisationswege

2.1.2 Kristallisation aus der Lösung

Zur Kristallisation von Polymorphen kann auch von einer Lösung des Materials in ge-eigneten Lösungsmitteln ausgegangen werden. Die Nukleation und das Wachstum von Kristallkeimen aus einer homogenen, übersättigten Lösung lässt sich über die klassische Nukleationstheorie (engl. classical nucleation theory, CNT) beschreiben [73]. Die Nu-kleation stellt einen Phasenübergang erster Ordnung dar, bei dem eine feste Phase aus ihren Bestandteilen, Atomen, Ionen oder Molekülen, gebildet wird. Nach der CNT wird die Keimbildung durch das Gleichgewicht von Volumen- und Oberflächenenergie der sich formenden Phase bestimmt. Durch zufällige Stöße zwischen den gelösten Komponenten treten in der Lösung stochastische, mikroskopisch kleine Dichtefluktuationen auf. In den Bereichen mit höherer Moleküldichte entstehen aus den gelösten Molekülen Ansamm-lungen sich selbst anordnender Moleküle, supramolekulare Aggregate, die in der Lösung eine neue separate feste Phase mit genau definierter Packungsanordnung bilden. Zur Ausbildung der Phasengrenze zwischen der Lösung und der neuen festen Phase muss die Oberflächenenergie aufgewendet werden. Beim Einbau der Monomere in das Volumen des Aggregats wird hingegen Volumenenergie frei. Beide Größen hängen von der Größe

freie

Abbildung 2.6:Schematische Darstellung der Größenabhängigkeit der freien Enthalpie eines Kristallkeimes im Rahmen der klassischen Nu-kleationstheorie mit dem kritischen Keimradi-usrkrit.

des supramolekularen Aggregats der neuen festen Phase ab. Bei Annahme einer sphä-rischen Form des supramolekularen Aggre-gats mit dem Radiusr wächst die Oberflä-che mitr2 während das Volumen mitr3 zu-nimmt, so dass sich für die entsprechenden Beiträge zur freien Enthalpie ∆GOr2 und ∆GV ∝ −r3 ergeben. Für sehr klei-ne Keime ist das Verhältnis der Oberfläche zum Volumen sehr groß. Die aufzubringen-de Oberflächenenergie überwiegt, die Keim-bildung ist energetisch ungünstig (∆G >0) und die supramolekularen Aggregate oder auch subkritischen Keime gehen wieder in Lösung. Mit zunehmender Größe fällt je-doch die freiwerdende Volumenenergie

stär-ker ins Gewicht. Erreicht das Molekülaggregat eine kritische Größe, wird es durch Wachs-tum weiter stabilisiert. Dies wird auch als kritische Keimgröße bezeichnet, bei der der Keim mit seiner Umgebung im Gleichgewicht steht und ab der die Nukleation und das weitere Wachstum einer Phase erfolgt. Die kritische Keimgröße hängt dabei von der Übersättigung der Lösung ab: je höher die Übersättigung, desto kleiner ist die kritische Keimgröße.

Die prinzipielle Einschränkung dieser Theorie liegt in der Annahme, dass alle Eigen-schaften von sehr kleinen Kristalliten, subkritischen Keimen, die gleichen sind wie in den entsprechenden Bulk-Kristallen und sich von diesen nur in ihrem relativ großen Verhältnis von Oberfläche zu Volumen unterscheiden. Das Auftreten von stabilen und metastabilen Aggregaten in der homogenen Lösung lässt sich nicht mit der klassischen Nukleationstheorie erklären. Nach der CNT würden derartige Monomer-Aggregate zu instabilen Spezies führen.

Ein nicht-klassisches Konzept der Nukleation von Gebaueret al. [74] schlägt dagegen sogenannte Pränukleationscluster als in Lösung befindliche Vorläufer der neuen Pha-se für die PhaPha-senbildung aus der unter- und übersättigten, homogenen Lösung vor.

Die Pränukleationscluster bestehen aus den Baueinheiten (Atomen, Ionen oder Mole-külen) der daraus entstehenden festen Phase, können daneben aber auch weitere chemi-sche Spezies enthalten, wie z.B. Lösungsmittelmoleküle. Nach deren Erklärungsansatz sind Pränukleationscluster kleine, thermodynamisch stabile, gelöste Spezies, so dass kei-ne Phasengrenze zwischen den Clustern und der Lösung besteht. Es handelt sich um hoch dynamische Gebilde, deren Konfiguration und Zusammensetzung sich mit einer Geschwindigkeit ähnlich von molekularen Neuanordnungen in Lösung ändern kann. Die-se Cluster bilden molekulare Vorläufer der nukleierenden PhaDie-se und sind am Prozess der Phasenseparation beteiligt. In ihnen können bereits strukturelle Motive enthalten sein, die denen der korrespondierenden kristallinen Phase entsprechen. Diese Aggregations-prozesse führen schließlich zur Ausbildung von amorphen oder kristallinen Nanophasen.

Abbildung 2.7: Lichtmikroskopische Aufnahmen aufgezeichnet während der lösungsvermittelten polymorphen Phasenumwandlung derα-Form in dieβ-Form von L-Glutaminsäure, nachgedruckt mit Genehmigung aus [55]. Copyright 2004 American Chemical Society.

Bei der Kristallisation verschiedener anorganischer, aber auch organischer Substanzen lassen sich Hinweise für das Auftreten von Pränukleationsclustern finden, darunter die Bildung von Calciumcarbonat [75] und -phosphat [76], Eisen(oxy)(hydr)oxiden [77] und Siliciumdioxid [78], aber auch bei Aminosäuren [79].

Die relativen Gleichgewichtslöslichkeiten von Polymorphen sind direkt proportional zur Differenz der freien Enthalpie zwischen den Polymorphen [1]. Nach Ostwalds Stufen-regel wird eine metastabile Form mit einer höheren Löslichkeit als erstes aus der Lösung auftreten [45]. Die Kristalle der metastabilen Form gehen schließlich wieder in Lösung, während eine stabilere Form mit geringerer Löslichkeit nukleiert. Die Auflösung der metastabilen Form und Kristallisation der stabileren Form erfolgen dabei gleichzeitig.

Die molekulare Neuanordnung der Moleküle wird durch den Kontakt zur übersättigten Mutterlauge ermöglicht. Der Prozess der lösungsvermittelten Phasenumwandlung wird bestimmt über die relativen Geschwindigkeitskonstanten des Kristallwachstums und der Auflösung der jeweils beteiligten Polymorphe.

Bei einigen lösungsvermittelten polymorphen Phasenumwandlungen kann eine sekun-däre Nukleation beobachtet werden [55–57]. Bei diesem Nukleationsmechanismus nu-kleiert ein zweites Polymorph auf der Oberfläche von zuerst gebildeten Keimen eines anderen Polymorphs der gleichen Substanz. Das sekundäre Polymorph weist eine hö-here thermodynamische Stabilität als die initiale Form auf. Im folgenden wachsen die Kristalle der stabileren Phase weiter, während die Keime der metastabilen Phase beim Umwandlungsprozess simultan wieder vollständig in Lösung gehen. Dieser Mechanismus folgt also der Ostwaldschen Stufenregel [45]. Bei Kristallisation von L-Glutaminsäure erfolgt die Nukleation des sekundären β-Polymorphs dabei auf definierten Kristallflä-chen der Keime des primärenα-Polymorphs [55, 56] (s. Abbildung 2.7). Möglich ist dies auf Kristallflächen, an denen die molekulare Erkennung nicht sehr spezifisch ist und eine Wechselwirkung der im Kristall eingebauten Moleküle mit Molekülen in anderer Konformation ermöglicht [55]. Bei diesem Phasenumwandlungsprozess ist die sekundäre Nukleation der bestimmende kinetische Faktor.

Verschiedene Ansätze beschäftigen sich mit der gezielten Kristallisation einer spe-zifischen Form aus der Lösung. Diese wirken jedoch meist sehr systemspezifisch und

erfordern umfassende Kenntnisse des polymorphen Systems und der jeweiligen Einfluss-faktoren. Zum Teil lässt sich die Kristallisation über die Wahl des Lösungsmittels [80–82]

oder den pH-Wert [83] beeinflussen. Bei Iso-Nicotinamid beispielsweise führen spezifische Lösungsmittel auch zu spezifischen Polymorphen [80]. Verschiedenste Additive kommen ebenfalls zum Einsatz, darunter Polymere [84], Polymer-Heterokeime [85, 86], Salze [87]

und maßgeschneiderte Additive [88–91] wie auch Co-Crystallisatoren bzw. supramoleku-lare Heterosynthone [92–94]. Das Einbringen definierter Oberflächen als Templat kann ebenfalls zur kontrollierten Kristallisation bestimmter Polymorphe führen [95, 96]. Auch rein physikalische Faktoren wie die Größe des Ansatzes oder das Rühren der Lösung können einen Einfluss auf das Resultat der Kristallisation haben [55, 97].