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Kristallisation aus der amorphen Phase

2.1 Polymorphe und ihre Kristallisationswege

2.1.1 Kristallisation aus der amorphen Phase

Zur Kristallisation der Polymorphe kann von einer reinen amorphen Phase wie der un-terkühlten Flüssigkeit oder dem Glas der Substanz ausgegangen werden. Diese lässt sich durch Kühlung der Flüssigkeit bis unterhalb ihres Schmelzpunktes erhalten, ohne

unterkühlte Flüssigkeit

stabiler Kristall

c h e m i s c h e s P o t e n t i a l [ a . u . ]

Temperatur [a.u.]

Flüssigkeit

metastabile Phase

Abbildung 2.4:Phasendiagramm eines Systems mit unterkühlter Flüssigkeit sowie mehreren kristallinen Phasen: dargestellt ist die Tempe-raturabhängigkeit des chemisches Potentials ei-ner metastabilen (rot) und der thermodyna-misch stabilen kristallinen Phase (blau), mit Phasengrenze zwischen amorphem und kristal-linem Zustand (schwarze Linie), sowie dem Be-reich zwischen Glasübergangstemperatur (Tg) und Schmelzpunkt (Tm), in dem das Auftreten verschiedener metastabiler Phasen möglich ist (gelb).

das Kristallisation auftritt. Weitere Unterkühlung bis unter die Glasübergangstempera-tur führt zur Bildung des Glases. Weitere Methoden sind Abschrecken der Schmelze, Mahlen, Gefrier- oder Sprühtrocknung, Trocknen von kristallinen Hydraten oder die Gasphasenabscheidung [18, 36].

Die amorphe Form ist oft löslicher und dadurch besser bioverfügbar als die kristalli-nen Phasen einer polymorphen Substanz [18]. Daher werden vor allem schwer lösliche Pharmazeutika gerne in der amorphen Form eingesetzt. Da es sich aber um eine metasta-bile Phase handelt, kann früher oder später die Kristallisation auftreten. Somit ist eine genaue Kenntnis der Kristallisation aus der amorphen Phase aber auch der Kristallisa-tionsgeschwindigkeiten zur Abschätzung der Stabilität der amorphen Phase essentiell.

Die amorphe Phase kann Zugang zu verschiedenen Polymorphen bieten.

Ein Phasendiagramm für ein System mit amorphem Zustand sowie einer metastabilen und der thermodynamisch stabilen kristallinen Phase ist in Abbildung 2.4 dargestellt.

Das Auftreten metastabiler Modifikationen ist nur im gelb hinterlegten Bereich zwischen amorphem Zustand in der unterkühlten Flüssigkeit und der thermodynamisch stabilen kristallinen Modifikation zwischen der GlasübergangstemperaturTg und dem Schmelz-punktTm der Substanz möglich.

Die stark unterkühlte Flüssigkeit eines molekularen Systems kann als Präkursor für die Kristallisation metastabiler Phasen dienen. Die unterkühlte Flüssigkeit einer bestimmten Substanz ist charakterisiert durch eine hohe Viskosität und einen hohen Diffusionsko-effizienten. Bei Betrachtung des chemischen Potenzials der stark unterkühlten Flüssig-keit als Funktion der Temperatur öffnet sich üblicherweise eine große Lücke gegenüber dem Potenzial der thermodynamisch stabilen kristallinen Phase. Eine metastabile Pha-se, sofern vorhanden, wird in dieser Lücke auftreten. Über Erhöhung der Temperatur der stark unterkühlten Flüssigkeit und damit die Erleichterung der Diffusion kann ei-ne auftretende Phasenumwandlung metastabile Phasen ergeben, bevor die Bildung der thermodynamisch stabilen Modifikation beginnt.

Die Kristallisation aus der unterkühlten Flüssigkeit erfolgt über Nukleation und an-schließendes Wachstum der Kristalle. Die Kristallisationsrate einer unterkühlten Flüssig-keit hängt von der Rate der KristallnukleationJ und der Wachstumsgeschwindigkeituan der Kristallgrenzfläche ab. Das Kristallwachstum wird bestimmt von der Geschwindig-keit, mit der freie Moleküle an die Phasengrenzfläche zwischen Kristall und unterkühlter

Abbildung 2.5: Temperaturabhängigkeit der Kris-tallwachstumsrate uund translatorischer Selbstdif-fusionskoeffizientDvon O-Terphenyl, nachgedruckt mit Genehmigung aus [62]. Copyright 2012 Ameri-can Chemical Society.

Flüssigkeit transportiert und dann in das Kristallgitter eingebaut wer-den. Bei dem klassischen diffusion-kontrollierten Kristallwachstum wird die Kristallwachstumsgeschwindigkeit durch die Geschwindigkeit der Diffu-sion der Moleküle in der unterkühl-ten Flüssigkeit bestimmt [63]. Die klas-sische diffusionskontrollierte Kristalli-sation ist nur oberhalb der Glasüber-gangstemperatur Tg aktiv. Oberhalb dieser Temperatur ist die molekulare Mobilität der Moleküle in der unter-kühlten Flüssigkeit hoch genug, um die Anordnung der Moleküle durch Diffu-sion während der Kristallisation zu er-lauben. Nahe der

Glasübergangstem-peratur Tg ist die Viskosität der unterkühlten Flüssigkeit sehr hoch und das Kristall-wachstum entsprechend langsam und diffusionskontrolliert (vgl. Abbildung 2.5). Durch Temperaturerhöhung nimmt die Viskosität der unterkühlten Flüssigkeit ab und die Dif-fusion beschleunigt sich. Daher nimmt die Kristallwachstumsgeschwindigkeit mit stei-gender Temperatur T zu. Bei Annäherung an den Schmelzpunkt Tm wird die ther-modynamische Triebkraft für die Kristallisation, die vom Ausmaß der Unterkühlung

T =TmT abhängt, klein und folglich nimmt die Kristallisationsgeschwindigkeit wie-der ab. Aufgrund dessen weist die Wachstumsgeschwindigkeit des diffusionskontrollierten Kristallwachstums ein Maximum bei einer bestimmten Temperatur Tmax zwischen der GlasübergangstemperaturTg und dem SchmelzpunktTm auf. Tatsächlich wird solch ein Maximum in der Kristallwachstumsgeschwindigkeit u(T) experimentell gefunden [20–

22]. In vielen Fällen besteht ein Verhältnis von Tg/Tm ∼= 0.6, aber auch schon höhere Werte wurden berichtet [64].

Neben der eher langsamen klassischen diffusionskontrollierten Kristallisation kann für einige molekulare organische Glasbildner nahe und unterhalb der Glasübergangstempe-ratur ein unerwartet schnelles Kristallwachstum beobachtet werden. Da hier die Kristalle aus dem Glas der Substanz gebildet werden, wird diese Mode als Glas-zu-Kristall-Mode (GC-Mode, von engl. glass-to-crystal mode) bezeichnet. Erstmals berichteten von dieser schnellen Kristallisation 1967 Greet et al. [65] für die Kristallisation von O-Terphenyl, aber erst ab 1995 wurde das Phänomen von der Gruppe um Oguni [19] wieder aufge-griffen. Bekannte Beispiele sind O-Terphenyl [19, 65–67], die Substanz ROY [21, 22, 28], Indomethacin [20, 68, 69], Nifedipin [59] und Felodipin [25].

Die Kristallwachstumsgeschwindigkeiten dieser Kristallwachstumsmode liegen um meh-rere Größenordnungen (etwa 104) über denen des diffusionskontrollierten Wachstums.

Die Diffusion im Glas unterhalb der Glasübergangstemperatur Tg ist so stark verlang-samt, dass im Glas eigentlich keine Kristallisation auftreten dürfte. Da ihr

Kristall-wachstum nicht durch die Diffusion limitiert zu sein scheint, wird die GC-Mode als ei-ne diffusionslose Kristallwachstumsmode angesehen. Die GC-Mode wird bei Abkühlung der unterkühlten Flüssigkeit nahe des Glasübergangs aktiviert und setzt sich unterhalb der Glasübergangstemperatur Tg im Glas fort [22]. Beim Übergang tritt ein abrupter Anstieg der Kristallwachstumsrate knapp oberhalb der Glasübergangstemperatur auf (vgl. Abbildung 2.5) [20–22, 28]. Die GC-Mode ist durch deutlich höhere Kristallwachs-tumsraten und kleinere Aktivierungsenergien im Vergleich zum diffusionskontrollierten Wachstum gekennzeichnet. Des Weiteren weist sie zeitunabhängige Kristallwachstums-raten und eine Kinetik ähnlich der von polymorphen Festphasenumwandlungen auf [21].

Die Ursache dieser diffusionslosen GC-Mode ist noch nicht vollständig geklärt. In der Literatur werden verschiedene Erklärungsansätze diskutiert, von denen die geläufigeren hier kurz vorgestellt werden sollen.

Nach Sunet al.[21] handelt es sich bei der GC-Mode um einen Fest-Fest-Phasenüber-gang. Zwischen dem wachsenden Kristall und dem Glas liegt eine Phasengrenzfläche mit lokal erhöhter Molekülbeweglichkeit vor, in der die Moleküle durch lokale im Glaszu-stand vorliegende Molekularbewegungen, lokale Oszillationen, in den Kristall überge-hen. Diese Erklärung stützt sich auf die Beobachtungen, dass das GC-Kristallwachstum eine Kinetik ähnlich der von polymorphen Festphasenumwandlungen aufweist [21]. Des Weiteren wird das GC-Wachstum beim Einsetzen der strukturellenα-Relaxation in der unterkühlten Flüssigkeit bei einer bestimmten Temperatur unterbrochen, die etwa beim 1.15-fachen der Glasübergangstemperatur liegt [21, 22, 67]. Derα-Relaxationsprozess be-schreibt die molekularen Dynamiken in der unterkühlten Flüssigkeit. Auch Powellet al.

[70] beobachtetet das Auftreten der GC-Mode nur unterhalb eines Schwellenwertes der strukturellen Relaxationszeit des α-Relaxationsprozesses. Durch eine höhere Mobilität der Moleküle mit steigender Fluidität der Substanz würde eine Neuordnung der Molekü-le an der Grenzfläche zwischen Kristall und Glas erfolgen, die den Festphasenprozess der GC-Mode stören würde [21]. Bestärkt wird diese Erklärung durch eine von Musumeciet al. [69] gefundene allgemeine Bedingung für das Auftreten der GC-Mode. Unabhängig vom speziellen System tritt die GC-Mode nur auf, wenn die Mobilität der Moleküle in der unterkühlten Flüssigkeit bzw. im Glas, wiedergegeben durch die DiffusionD, klein ist relativ zur Kristallwachstumsrateu. Für alle der von ihnen untersuchten Substanzen setzte das GC-Wachstum bei einer Übergangstemperatur ein, ab der D/u < 7 pm galt [69].

Hikimaet al.[19] schlagen als Mechanismus für das schnelle Kristallwachstum der GC-Mode die Koaleszenz von homogen nukleierten Kristallkeimen auf die Oberfläche eines bestehenden Kristalls vor. Sie vermuten eine Kontrolle der Rate des Prozesses durch sekundäre Relaxationsprozesse (sogenannteβ-Prozesse), die im Glas oft noch aktiv sind.

Bei diesen handelt es sich ebenfalls um lokale Molekularbewegungen im Glas [19]. Xi et al. [67] merken jedoch an, dass in getempertem O-Terphenyl die GC-Mode unter Bedingungen beobachtet wird, bei denen derβ-Prozess verschwindet.

Das Modell der spannungs-induzierten Mobilität postuliert hingegen eine diffusionkon-trollierte Wachstumsmode, bei der die Diffusion an der Grenzfläche zwischen Kristall und amorpher Phase stark erhöht ist [66]. Da der Kristall üblicherweise eine höhere Dichte als die amorphe Phase aufweist, könnte die Kristallisation durch die einhergehende

Vo-lumenkontraktion eine Dehnspannung an der Phasengrenzfläche erzeugen. Durch diese stünde den Partikeln um den Kristall freies Volumen zur Verfügung, sozusagen negati-ver Druck, was ihre Mobilität erhöhen und damit die weitere Kristallisation unterstützen würde [66]. Paeng et al. [62] belegten eine um etwa 104 erhöhte Molekülbeweglichkeit etwa 10 µm vor einem wachsenden Kristall in der unterkühlten Flüssigkeit nahe der Glasübergangstemperatur.

Auf der exponierten Oberfläche des amorphen Bulkmaterials kann die Kristallwachs-tumsgeschwindigkeit sogar noch um eine oder zwei Größenordnungen schneller als die der GC-Mode im Bulkmaterial sein [23]. Diese Oberflächen-Wachstumsmode wird ge-legentlich auch als oberflächen-verstärktes (engl. surface-enhanced) Kristallwachstum bezeichnet [23]. Bisher wurde sie für Indomethacin [24, 71], Nifedipin [23] und Felodipin [25] berichtet. Die Ursache dieser Mode könnte eine erhöhte Beweglichkeit der Molekü-le an der Oberfläche des Materials sein [23, 24, 26, 27]. Zhu et al. [27] wiesen an der Oberfläche des Bulkmaterials von Indomethacin eine um 106 schnellere Diffusion als im Bulk selbst nach. Bei Indomethacin erheben sich die lateral wachsenden Oberflächen-Kristalle deutlich über die Oberfläche des Glases, ohne sich aber tief in den Bulk des Materials fortzusetzen [26]. Das oberflächen-verstärkte Kristallwachstum lässt sich durch eine dünne Beschichtung der freien Oberfläche mit Gold oder Polyelektrolyten auf die Wachstumsgeschwindigkeit der GC-Mode im Bulkmaterial reduzieren [23, 71, 72].

Die schnellen, diffusionslosen Kristallisationsmoden führen zu einer Kristallisation auch unterhalb des GlasübergangsTgund schränken dadurch die Stabilität der amorphen Phase gegenüber Kristallisation stark ein. Die beiden diffusionslosen Kristallisationsmo-den sind potenziell interessant, da schnelles Kristallwachstum einen Zugang zu anderen metastabilen Polymorphen darstellen könnte. Generell ist die Untersuchung von verschie-denen Wegen zur Isolation von verschieverschie-denen Polymorphen einer chemischen Substanz eine wichtige Fragestellung.