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Kollektive Gewalt und die religiöse Politisierung von Bauern in der habsburgischen Peripherie

Im Dokument Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert (Seite 164-190)

»Rabatz« und »antisemitische Exzesse« in Westgalizien, 1846–1898

Im multiethnischen Galizien, dem größten Kronland der Habsburger­

monarchie, verübten im 19.  Jahrhundert gleich zweimal jeweils mehrere tausend römisch­katholische Bauern und Landarbeiter physische Gewalt an Gruppen, die für sie soziale und religiöse Antagonisten repräsentierten. Der sogenannte »Rabatz« von 1846 richtete sich gegen christliche Elite, Adlige, Gutsverwalter und Priester und endete vielfach tödlich1. Dahingegen kam es bei den »Exzessen« von 1898 zu Übergriffen gegen Juden, vor allem Händler und Schankwirte; sie verliefen selten tödlich und nur dort, wo das habsbur­

gische Militär als dritte Partei bei der Unterbindung der Ausschreitungen widerständige Gewalttäter erschoss2. Eine solche Gewalt mag erstaunen, gilt Galizien doch häufig als Beispiel für eine weitgehend friedliche multieth­

nische Koexistenz3. Zu dieser Sichtweise haben literarische Verklärungen im Rückblick, insbesondere vor den traumatischen Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs, entscheidend beigetragen. Im Vergleich mit dem benachbarten Zarenreich war Galizien tatsächlich ein sicherer Ort, insbe­

sondere für Juden. Die Vorstellung eines harmonischen Neben­ und Mit­

einanders traditionell verhafteter Gruppen versperrt jedoch den Blick für die Spannungen und Konflikte, die die Modernisierung der (bäuerlichen) Lebenswelt mit sich brachte.

1 Siehe auch Arnon Gill, Die Polnische Revolution 1846. Zwischen nationalem Befrei­

ungskampf des Landadels und antifeudaler Bauernerhebung, Wien 1974.

2 Als »antisemitische Exzesse« beschrieben die österreichische Verwaltung und bald auch die Presse die Ausschreitungen, bei denen 18 bis 22 »Exzendenten« vonseiten der Behörden erschossen wurden. Siehe auch Daniel L. Unowsky, The Plunder.

The 1898 Anti­Jewish Riots in Habsburg Galicia, Stanford CA 2018; Marcin Soboń, Polacy wobec Żydów w Galicji doby autonomicznej w latach 1868–1914, Krakau 2011; Tim Buchen, Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um 1900, Berlin 2012.

3 Siehe auch Dietlind Hüchtker, Der »Mythos Galizien«. Versuch einer Historisie­

rung, in: Michael G. Müller / Rolf Petri (Hg.), Die Nationalisierung von Grenzen.

Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen, Marburg 2002, S. 81–107; Kerstin S. Jobst, Der Mythos des Miteinander. Galizien in Literatur und Geschichte, Hamburg 1998.

Zum einen erfasste der politische Wettbewerb durch das schrittweise ausgeweitete Wahlrecht immer weitere Kreise der männlichen Bevölke­

rung. Die konkurrierenden politischen Parteien und Angebote polarisierten noch die entlegenste Dorfgemeinschaft und überführten soziale, religiöse oder sprachliche Differenz in moderne politische Identifikationen. Zugleich band der Wettbewerb um Stimmen und die allgemeine Anerkennung der Parlamente als relevante Orte der Interessenartikulation sogar miteinander verfeindete Lager in einen gemeinsamen politischen Betrieb ein. Auch die massiven Verwerfungen im ökonomischen Leben durch die Aufwertung der Geldwirtschaft und Einbindung in überregionale Märkte als Konsequenz liberaler Wirtschaftspolitik führte zu Unsicherheiten und Konflikten. Beide hier untersuchten Gewaltwellen waren zugleich Ausdruck von Statusver­

schiebungen und Mittel der Aushandlung. Beide standen zudem in engem Zusammenhang mit der Politisierung der bäuerlichen Unterschichten durch den römisch­katholischen Klerus. Über religiöse Mobilisierung, d.h. die Ansammlung von Menschenmassen durch Priester an religiösen Orten und Feiertagen im Namen der katholischen Kirche, versuchten Priester die reli­

giöse Identifikation mit neuen sozialpolitischen Codes anzureichern. Neben Glaubenssätzen und religiösen Praktiken sollten politische Meinungen und ein verändertes Handeln im Alltag implementiert werden, um sozialen Pro­

blemen der sich modernisierenden Lebenswelt zu begegnen. Dies trug jedoch, meist ungewollt, zu einer Kanalisierung von Konfliktlagen durch physische Gewalt entscheidend bei.

Dieses Kapitel untersucht den Einfluss religiöser Vorstellungen und kle­

rikaler Mobilisierungsstrategien auf die Entfesselung, den Verlauf und die Deutung der Gewaltwellen von 1846 und 1898. Es wird gefragt, welche religiösen Vorstellungen sich in den Gewalthandlungen und in sie beglei­

tenden Sprechakten äußerten4. Welche religiösen Normen rechtfertigten oder begrenzten das gewaltsame Aufbegehren gegen christliche Eliten und Juden? Welche Differenzen innerhalb des Katholizismus kamen durch die Gewaltdynamik zum Ausdruck und welche neuen entstanden? Der relativ lange Untersuchungszeitraum zeigt Kontinuitäten und Brüche im Verhält­

nis zwischen Gläubigen und kirchlichen Akteuren sowie in deren gemein­

schaftlicher Konstruktion von Feindbildern des »katholischen Volkes« auf.

Im Kontext der politischen Positionierung der katholischen Kirche sowie der Entfaltung moderner Massenpolitik in der Habsburgermonarchie nach 1867 kann die Geschichte religionsbezogener Gewalt in Galizien zugleich einen

4 Siehe zum Verhältnis von Gewalt und Sprechakten den Essay »Vom Spiel zur Hand­

lung« in Helmut Walser Smith, Fluchtpunkt 1941. Kontinuitäten der deutschen Geschichte, Stuttgart 2010, S. 132–188.

Beitrag leisten zum Verständnis der Politisierung von Religion sowie der eth­

nischen und nationalen Aufladung religiöser Differenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Nach einem kurzen Überblick über die religiösen, sozialen, politischen, ökonomischen und ethnischen Zustände Galiziens am Vorabend der Revo­

lutionen von 1848 wird im Folgenden der »Rabatz« von 1846 und seine reli­

giöse Dimension beschrieben. Der dritte Abschnitt behandelt den Umgang des galizischen Klerus mit der Gewalt und den Gewaltakteuren sowie die Formierung eines katholischen Antisemitismus in Galizien ab den 1880er Jahren. Anschließend werden der Charakter und die Bandbreite der Über­

griffe auf Juden im Jahr 1898 geschildert und nach dem Einfluss klerikaler antijüdischer Mobilisierung, wie nach den Eigenlogiken bäuerlichen Han­

delns und der religiösen Dimension der antisemitischen Exzesse gefragt.

Multiethnizität und Neo­Feudalismus im Galizien des Vormärz Das Kronland »Galizien und Lodomerien« wurde von den Habsburgern aus der Landmasse gegründet, die sie im Zuge der Ersten Teilung der polnisch­

litauischen Adelsrepublik am Ende des 18. Jahrhunderts annektiert hatten5.

Politisch, sozial und ökonomisch vorherrschend war daher der polnische Adel, der seine Position auf Grundbesitz und diverse Privilegien stützte. In der neo­feudalen Gesellschaftsordnung, die typisch für die »zweite Leib­

eigenschaft« in Ostmitteleuropa war, war die Bevölkerungsmehrheit der Bauern durch Frondienste, Landlosigkeit und eingeschränkte persönliche Freiheit vom Grundherrn abhängig. Im Westteil des Landes sprach die Mehrheit der Bauern polnisch und gehörte der römisch­katholischen Kirche an. Im Ostteil waren sie überwiegend ukrainischsprachig (bzw. ruthenisch­

sprachig) und meist Mitglieder der unierten griechisch­katholischen Kirche, die den Papst in Rom anerkannte, jedoch den orthodoxen Ritus beibehielt 6.

Ständische, religiöse und lokale Zugehörigkeit waren für das Selbstver­

ständnis von zentraler Bedeutung; nationale Kategorien spielten hingegen für die Bauern keine Rolle7. Darüber hinaus bewegten sich zwischen Adel und Bauern die ca. 10 % der Bevölkerung ausmachenden Juden. Als typische

5 Siehe auch Larry Wolff, The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Po­

litical Culture, Stanford CA 2010; Hans­Christian Maner, Galizien. Eine Grenzre­

gion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert, München 2007.

6 Zu den diversen Katholizismen in der Habsburgermonarchie und ihrem Verhältnis zu Rom siehe auch Andreas Gottsmann, Rom und die nationalen Katholizismen in der Donaumonarchie. Römischer Universalismus, habsburgische Reichspolitik und nationale Identitäten 1878–1914, Wien 2010.

7 Siehe auch Kai Struve, Bauern und Nation in Galizien. Über Zugehörigkeit und soziale Emanzipation im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005.

»middlemen society« waren sie in Branchen, wie dem Handel, Geldverleih, Transport oder Handwerk, tätig. Entsprechend waren christliche Bauern und jüdische Dienstleister wechselseitig aufeinander angewiesen, begegneten sich jedoch meist mit Distanz, weswegen Rosa Lehmann die Beziehung mit den Begriffen »Ambivalenz« und »Symbiose« charakterisiert hat 8. Herstel­

lung und Ausschank von Alkohol waren das Monopol des grundbesitzenden Adels, der aufgrund mangelnder Konkurrenzfähigkeit auf dem entstehen­

den Weltmarkt die Produktion von Branntwein über die Jahre intensivierte.

Ihre Lizenzen zum Ausschenken von Alkohol vergaben adlige Unternehmer meist an Juden9.

Kaiser Joseph II., der die Mitwirkung Österreichs an der Teilung Polen­

Litauens gegen den Willen seiner Mutter Maria Theresia durchgesetzt hatte, gedachte die neue Provinz zu modernisieren und nach seinen Idealen eines aufgeklärten Absolutismus umzugestalten. Eine zentrale Maßnahme dafür war die Etablierung einer Bürokratie, welche die Macht des Adels brechen sollte. Zu diesem Zweck wurde den Bauern unter anderem die Möglichkeit zur Beschwerde gegen schlechte Behandlung durch die Grundherren gege­

ben. Dadurch erfreuten sich der österreichische Staat und vor allem die Figur des Kaisers am Vorabend der Revolutionen von 1848 großer Beliebtheit unter den galizischen Bauern10. Ganz anders sah es unter den in ihrer Vor­

machtstellung bedrohten Adligen und demokratischen Gegnern des Abso­

lutismus aus, welche immer wieder die Wiederherstellung eines polnischen Staates durch militärische Aufstände anstrebten. Ein erster Versuch war die Erhebung unter Tadeusz Kościuszko im Jahr 1794 gewesen, die von Akteu­

ren vorbereitet wurden, die sich an der amerikanischen und französischen Revolution beteiligt hatten und Ideen und Erfahrungen in Polen einzubrin­

gen versuchten11. So versuchten sie die bäuerlichen Unterschichten mit dem Versprechen auf Abschaffung der Leibeigenschaft für eine polnische Repub­

lik zu gewinnen. Tatsächlich mobilisierten sie so Tausende im Kampf gegen die größte Teilungsmacht Russland, die mit Sensen bewaffnet der zarischen Armee zunächst eine militärische Niederlage bei Racławice beibrachten, bevor sie vollständig besiegt wurde.

8 Rosa Lehmann, Symbiosis and Ambivalence: Poles and Jews in a Small Galician Town, New York 2001.

9 Siehe auch Hillel Levine, Economic Origins of Antisemitism. Poland and its Jews in the Early Modern Period, New Haven 1993.

10 Vgl. Zbigniew Fras, Mit dobrego cesarza, in: Wojciech Wrzwsinski (Hg.), Polskie mity polityczne XIX i XX wieku, Breslau 1994, S. 139–152.

11 Vgl. Michael G. Müller, Zweite Teilung, Kościuszko­Aufstand, Dritte Teilung, in: Hans Jürgen Bömelburg (Hg.), Polen in der europäischen Geschichte, Stuttgart 2017, S. 608–618.

Galizisches Schlachten oder »Rabatz«?

Bäuerliche Gewaltexzesse im Winter 1846

Im Jahr 1846 wurde abermals in der Emigration ein Aufstand vorbereitet.

Diesmal allerdings misslang die Mobilisierung der Bauern für die polnische Sache vollständig. Wie die übrigen Revolten und Revolutionen der Jahre 1846–1849 in Europa zeigen sollten, waren die Monarchien aufgrund fehlen­

der Ordnungskräfte nicht in der Lage, ihre staatliche Kontrolle bei sozialen Unruhen auf dem Land durchzusetzen12. Daher ermunterten österreichische Beamte in Galizien kaisertreue Bauern, diesen erneuten nationalen Aufstand zu unterbinden, seine Unterstützer festzusetzen und ihre Waffen sicherzu­

stellen. Da sich die Position der Bauern seit den josephinischen Reformen etwas verbessert hatte und sie mit einer polnischen Herrschaft eine Ver­

schlechterung ihrer rechtlichen und ökonomischen Lage in den Zustand vor den Teilungen befürchteten, kamen sie dem Aufruf zur Unterdrückung des Aufstands vielerorts nach13. Für geleistete Fuhrdienste sichergestellter Waf­

fen und festgenommener Aufständischer zahlte beispielsweise der Bezirks­

hauptmann aus Tarnów Joseph Breinl eine Entschädigung. Diese wurde von Bauern als eine Kopfprämie umgedeutet und motivierte unzählige Bauern, Jagd auf Adlige zu machen. Zusätzlich ermächtigten sich Bauern durch das Weitererzählen von Gerüchten, wonach der Kaiser »seinen« Bauern in amt­

lichen Zirkularen es erlaubt habe, drei Tage lang Gutshöfe zu plündern und Adlige zu ermorden14. Schnell entwickelten die Interventionen der Bauern zur Unterbindung des Aufstands eine Eigendynamik und es kam zu einer gigantischen bäuerlichen Selbstermächtigung.

Persönliche Abrechnungen mit verhassten Verwaltern und Gutsherren, das Aneignen von fremdem Besitz und der Konsum von erbeutetem Alkohol verbanden sich mit der Zerstörung von Zeichen und Symbolen ihrer pat­

riarchalischen Abhängigkeit. »Rabatz« war die verharmlosende bäuerliche Bezeichnung eines sich über Gerüchte und die Berichte Flüchtender ausbrei­

tenden Gewaltrausches mitten in der Fastenzeit, einem blutigen Karneval, in dem etablierte lokale Hierarchien und Ordnungen auf den Kopf gestellt wurden15. Zwischen 1 200 und 2 000 Menschen wurden ermordet, häufig auf brutale Weise geradezu abgeschlachtet. Die Autorität von Kaiser und Papst hingegen wurde von vielen Rädelsführern explizit bestätigt und als Legiti­

12 Siehe auch Hartmut Pogge von Strandmann / Robert John Weston Evans, The Revolutions in Europe, 1848–1849. From Reform to Reaction, Oxford 2000.

13 Siehe auch Roman Rozdolski, Untertan und Staat in Galizien. Die Reformen unter Maria Theresia und Joseph II., Mainz 1992.

14 Vgl. Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. 28.

15 »Rabacja« war die polnische Ableitung vom deutschen Begriff »Rabatz«. Vgl. Andrzej Chwalba, Historia Polski, 1795–1918, Krakau 2007, S. 302.

mation für die Bestrafung der Adligen und des Klerus angeführt. So sagte am 22. Februar zu Beginn der Gewaltwelle in Tarnów ein Bauer: »der Kai­

ser hat es befohlen, der Heilige Vater erlaubt[, die Gutsbesitzer zu töten]«16.

Für die Opfer waren die Ereignisse hingegen ein »galizisches Schlachten«17.

Aus der Sicht des Klerus, die hier am Beispiel des Berichts eines Priesters aufgezeigt wird, diente die Gewalt nicht der Aufrechterhaltung der kirchli­

chen und staatlichen Ordnung, sondern bedeutete vielmehr die vollständige Abkehr von einer gottgewollten gesellschaftlichen Hierarchie:

Als ich 5 Wochen nach bekannter Räubermörderei nach Laczki zurückkehrte, und das Volk nach diesen verübten Morden und Räubereien noch in solcher Verblendung fand, daß es ans Zurückkehren zur christlichen Sittlichkeit gar nicht dachte, auch seine schändlichen Thaten gar nicht bereute, ja vielmehr an diesem verbrecherischen Leben Gefallen fand, […] dem Trunke sich täglich ergab, […] so predigte ich […], was es ist und was es bald werden wird, wenn es nicht wahrhaft zu Gott zurückkehrt, und die abscheuliche eines vernünftigen Menschen unwürdige Meinung nicht verwirft, als ob die Regierung alle diese Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten anbefohlen hätte.

[…] Diese Sprache hat die Mörder und Diebe so erzürnt, daß, während einige wei­

nend ihre Verblendung erkannten, diese zu murren und zu flüstern, ja endlich laut zu rufen anfingen: »Wenn der Priester ganz bleiben will, so soll er ruhig sitzen und uns nicht schmähen«18.

Dieser Bericht steht beispielhaft für die Lage im westlichen Teil Galiziens im Winter 1846 und verdeutlicht, dass der Wunsch, den Ausnahmezustand auszukosten und zu verstetigen, indem man auf klerikale Ratschläge gar nicht erst reagierte, unter der Bauernschaft weit verbreitet war19. Tatsächlich wurden im Kontext der Unruhen sogar ephemere lokale Bauernrepubliken ausgerufen, in denen Land unter Bauern verteilt und der Anspruch einer radikaldemokratischen bäuerlichen Selbstverwaltung artikuliert wurde.

16 Zitiert nach Jan Kracik, W Galicji trzeźwiejącej, krwawej, pobożnej, Krakau 2008, S. 48.

17 Tim Buchen, Das »Galizische Schlachten« 1846. Die Ermordung Adliger durch polnische Bauern und die Rolle der Habsburgischen Herrscher im Gemälde Jan Lewickis, in: Stefanie Schüler­Springorum u.a. (Hg.), Bilder kollektiver Gewalt – kollektive Gewalt im Bild. Annäherungen an eine Ikonographie der Gewalt; für Werner Bergmann zum 65. Geburtstag, Berlin 2015, S. 243–250.

18 Priester [unbekannter Vornamen] Wrzesniewski, in: Memoiren und Actenstücke aus Galizien im Jahre 1846. Gesammelt von einem Mähren, Leipzig 1847, S. 19.

19 Siehe auch Gill, Die polnische Revolution; Krzysztof Karol Daszyk u.a. (Hg.), Rok 1846 w Krakowie i Galicji. Odniesienia, interpretacje, pamięć, Krakau 2016; Michał Śliwa (Hg.), Rok 1846 w Galicji. Ludzie, wydarzenia, tradycje, Krakau 1997. Zum Forschungsstand siehe auch Buchen, Das »Galizische Schlachten« 1846.

Auch wenn die Ordnung in Galizien nach einem massiven Militärein­

satz schließlich wiederhergestellt und mit der Abschaffung der Fronpflich­

ten durch den galizischen Statthalter 1848 befriedet werden konnte, war der blutige Februar 1846 ein einschneidendes historisches Ereignis. Es ver­

änderte die Beziehung und wechselseitige Wahrnehmung von Adel, Klerus und Bauern, spaltete die von Eliten imaginierte polnische Nation und wurde innerhalb der Stände völlig anders erinnert, wie schon die unterschiedli­

chen Bezeichnungen – »Rabatz« oder »Schlachten« – suggerieren. Die Bau­

ernschaft memorierte in Liedern und Gedichten die Selbstermächtigung als Ausweis ihrer physischen Potenz, die sich in Krisenzeiten gegen ungerechte Herrscher erheben könne. Das Singen der Lieder nutzte sie in Konfliktsi­

tuationen, um mit dem Drohpotenzial der Wiederholung der Gewalt ihre Widersacher zum Einlenken zu bewegen20. Innerhalb des Adels bedeutete 1846 ein Trauma. Zu Jahrestagen erscheinende Gedenkbücher und Gemälde erinnerten an lokale Ereignisse und die Opfer des Martyriums. Ähnlich traumatisch waren die Ereignisse für den katholischen Klerus. Er hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass sogar die eigene Sicherheit auf dem Spiel stand, wenn die bäuerlichen Wünsche und Wahrnehmungen, die hinter den Mobilisierungsgerüchten standen, öffentlich als sündhaft und unwür­

dig gebrandmarkt wurden. An Ausbruch und Verlauf der Gewalteskalation, die sich schließlich auch gegen den Klerus richtete, trugen viele Priester eine ungewollte Mitschuld.

Es ist in der allgemeinen, auf nationale und soziale Fragen fokussierten Geschichtsschreibung weitgehend unbemerkt geblieben, dass der »Rabatz«

eine wichtige religiöse Dimension besaß. Seit dem Frühjahr 1845 hatten Priester nämlich massenhaft Wallfahrten veranstaltet, auf denen Bauern öffentlich dem Alkohol oder zumindest dem Wodka abschworen21. Damit suchten sie nicht nur ein zentrales Übel des sprichwörtlichen »galizischen Elends« zu bekämpfen, sondern griffen zugleich tief in die ökonomischen und sozialen Beziehungen und Strukturen der agrarischen Lebenswelt ein.

Die Nüchternheitsbewegung des katholischen Klerus operierte auch mit anti­

jüdischen Stereotypen, wonach die Juden die Bauern zum Trinken verführ­

ten und sie mit Alkohol manchmal tagelang in ihren Schenken »festhielten«

und somit sowohl physisch als auch moralisch von der Kirche fernhielten22.

20 In einem populären Lied lautete es: »Erinnerst du dich mein Herr, an das Jahr 46?

Wie dich die Bauern mit Stockschlägen verjagten?«, zitiert nach Roy F. Leslie, The History of Poland since 1863, Cambridge 1980, S. 8.

21 Siehe auch Kracik, W Galicji trzeźwiejącej.

22 So auch in den zur Nachahmung auch in Buchform publizierten »Predigten gegen die Trunksucht« eines Priesters aus Tarnów; Michał Król, Kazania przeciw pijaństwu przed zaprowadzeniem towarzystwa wstrzemięźliwości  – w tarnowskiéj katedrze, Tarnow 1845.

Die Wallfahrten mit Abstinenzgelöbnissen fanden eine fulminante Reso­

nanz. Sie bedienten ein weit verbreitetes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit für die soziale Lage der Bauern und Veränderung ihrer schwierigen Situation.

Damit verkörperten sie den tiefgreifenden Wandlungsprozess der dörflichen Lebenswelt und trugen zu deren allmählicher Einbindung in politische Dis­

kurse und Entwicklungen bei23. Während die öffentliche Wirksamkeit und repräsentative Bedeutung der Nüchternheitsbewegung unbestreitbar sind, waren die Folgen jedoch höchst unterschiedlich und lokal divers. Einerseits führten viele Gelöbnisse in der Tat zu nachhaltiger Abstinenz; das Abschwö­

ren wurde fester Bestandteil einer neuen, religiös begründeten Identifikation als verantwortliche Bauern. Andererseits begannen viele nach kürzester Zeit erneut sich regelmäßig heftig zu betrinken. Häufig richteten sie den im Zitat beschriebenen Zorn und Widerwillen gegen Priester, die sich weiterhin um Nüchternheit bemühten und Rückfällige öffentlich denunzierten. So ent­

standen Bruchlinien innerhalb von Dorfgemeinschaften, in Verächter und Befürworter der Abstinenzbewegung. In aller Kürze zeigt sich hierin das von Abigail Green beschriebene Phänomen der Politisierung der Religion im 19. Jahrhundert 24. Glaubensgemeinschaften verwandelten sich in Meinungs­

gemeinschaften. Das Verhältnis zu Alkohol und traditionellen dörflichen Trinkgewohnheiten wurde zu einem neuen religiösen und zugleich sozial­

politischen Code.

Vor dem Hintergrund dieser neuen Identitäts­ und Konfliktpotenziale um Alkoholkonsum vor Ort und nicht in abstrakten, der Dorfwelt frem­

den nationalen Kategorien, interpretierten viele Bewohner Westgaliziens die Gerüchte um den bevorstehenden Aufstand im Winter 1846. Da die Schenke ein etablierter Ort des Informationsaustausches war, sich dort aber überwie­

gend Gegner der Abstinenzbewegung aufhielten, deren Trinkverhalten in jüngster Zeit in die Kritik geraten war, bezogen sie an vielen Orten die Nach­

richten wie selbstverständlich auf die für sie zentrale Auseinandersetzung um Nüchternheit oder traditionelle bäuerliche Geselligkeit. Vielfach wurde hier das Gerücht verbreitet, dass mit dem Aufstand eine vollständige Absti­

nenz gewaltsam durchgesetzt werden sollte. Mehrfach sollen die Schankwirte selbst diese Verschwörungstheorie zum Besten gegeben haben25. Anhänger der neuen Nüchternheit behaupteten im Gegenteil, dass der am Alkohol gutverdienende Adel mit dem Umsturz die erreichten Errungenschaften der Nüchternheitsbewegung zunichtemachen wolle. In beiden Fällen zeig­

ten sich Mechanismen der mündlichen Organisation kollektiver Gewalt, in

23 Vgl. Struve, Bauern und Nation.

24 Vgl. Abigail Green, Nationalism and the »Jewish International«: Religious Interna­

tionalism in Europe and the Middle East c. 1840–1880, in: Comparative Studies in Society and History 50 (2008), H. 2, S. 535–558.

25 Vgl. Kracik, W Galicji trzeźwiejącej, S. 50.

denen zukünftige Opfer als Bedrohung und eigentliche Aggressoren dar­

denen zukünftige Opfer als Bedrohung und eigentliche Aggressoren dar­

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