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Von Gewalt und Märtyrertum

Katholische Reaktionen auf die liberale Schulpolitik in Belgien

Charles Woeste war eigentlich ein treuer Anhänger der Römischen Kirche.

Mit achtzehn zum Katholizismus konvertiert, hatte er 1869 die »Föderation von katholischen Vereinen« mitgegründet und nahm fünf Jahre später sei-nen Sitz im belgischen Abgeordnetenhauses auf 1. 1884 sollte er noch Justiz-minister werden in der ersten homogen katholischen Regierung, die nach der Einführung des liberalen Schulgesetzes vom 1. Juli 1879 gebildet wurde.

Es gab also wenig Anlass, Woeste irgendwelche Sympathien für die Politik des leidenschaftlich antiklerikalen Pierre van Humbeeck, dem Geistesvater des besagten Gesetzes, zu unterstellen. Dennoch erstaunen die Zeilen, die er bezüglich der kirchlichen Reaktion auf die Schulreform an den Erzbischof von Mecheln-Brüssel, Kardinal Victor Dechamps, richtete. Am 4. Juli 1882 schrieb Woeste: »Sie sind über diesen Geisteszustand [des Volkes – Anm.

E.B.] ahnungslos: Sie leben unten in Ihrem Bischofspalast, unbeteiligt an der Bevölkerung, umgeben von gottesfürchtigen Personen, die vor Ihnen nieder-knien ohne dass Sie bemerken was man in der Welt der Lebenden sagt. Nun aber, diese Welt ist gereizt«2. Woestes Aufforderung, das Episkopat möge endlich Rücksicht auf die katholischen Laien nehmen, bestimmte mehrere seiner Briefen.

Dieser katholische Pluralismus hing eng mit der politischen Konstellation Belgiens zusammen, das seine Unabhängigkeit 1830 einer Allianz aus Katho-liken und Liberalen verdankte. Diese politische Zusammenarbeit war unter dem Namen »Unionismus« bekannt und sollte das junge Land stabilisieren sowie seine Existenz legitimieren3. Doch die Kooperation wurde immer

1 Vgl. Jan De Maeyer, Charles Woeste, in: Reginald De Schryver u.a. (Hg.), Nieuwe encyclopedie van de Vlaamse beweging, 3 Bde., Tielt 1998, Bd. 1, S. 3766–3767. Ich danke dem Gutachter für seinen hilfreichen Kommentar.

2 Charles Woeste an Erzbischof Victor Dechamps von Mecheln-Brüssel, 4. Juli 1882, in: Algemeen Rijksarchief, Brüssel / I 255 (Archief van Charles Woeste) / 666. Hervor-hebung im Original.

3 Vgl. Els Witte, De constructie van België 1828–1847, in: Ders. u.a. (Hg.), Nieuwe geschiedenis van België, 2. Ausgabe, 3  Bde., Tielt 2005, Bd.  1, S.  27–235, hier S. 173–178.

mehr zur Belastung. Die meisten Liberalen4 würdigten die soziale Funktion der Religion und erkannten die katholische Identität der Belgier an, kriti-sierten jedoch die althergebrachten kirchlichen Strukturen und verurteilten jede politische Einflussnahme seitens des Klerus. Viele Katholiken sahen im konstitutionellen Freiheitsprinzip einen Mechanismus, der die Kirche vor staatlicher Einmischung bewahrte. Uneinig hingegen waren sie sich über den richtigen Umgang mit den Liberalen (die Ultramontanen lehnten den Unio-nismus ab) und über die politische Struktur Belgiens (die Demokraten streb-ten eine Stärkung der lokalen und regionalen Behörden an, was die Bischöfe und König Leopold I. ablehnten)5.

Für die 1830er Jahre ließe sich das zeitgenössische Motto »die Union [d.h.

die katholisch-liberale Allianz – Anm. E.B.] schafft die Kraft« auch als »der Feind schafft die Kraft« lesen. Folglich verschwand mit der internationalen Anerkennung Belgiens 1839 eine Stütze der unionistischen Politik. Die Ver-fassung wurde vermehrt zum Streitpunkt, interpretierten die Fraktionen sie doch ganz anders. Die Entfremdung der beiden Lager wurde bereits in der Diskussion um die Schulreformen der frühen 1840er Jahre sichtbar, doch zu einer vorläufigen Spaltung kam es erst mit dem Wahlsieg der Liberalen 1847, die ab jetzt eine Stärkung des parlamentarischen Systems und eine Eingrenzung des klerikalen Einflusses anstrebten. Neben der Freimaurerei begünstigte vor allem die aufblühende Presselandschaft die Verbreitung liberaler Ideen und trug so zur Schwächung des Unionismus bei – auch weil die Katholiken alsbald mit eigenen Mitteln nachzogen. Das endgültige Ende der unionistischen Politik bereitete das »Gesetz der Wohltätigkeitseinrich-tungen« von 1857, das Religiösen und Kongregationen die Annahme von Schenkungen, Erben und Legaten ermöglichen sollte. Zusätzlich belastend war, dass der Streit um den religiösen Raum zunehmend durch zwei wei-tere gesellschaftliche Bruchlinien ergänzt wurde: den sozialwirtschaftlichen Riss, d.h. den Konflikt zwischen städtischer und ländlicher Gesellschaft bzw.

besitzender und arbeitender Klasse, und die kulturell-sprachliche Differenz zwischen flämisch- und französischsprachiger Bevölkerung.

4 Mit »Liberalen« sind diejenigen gemeint, die eine Eingrenzung des kirchlich besetz-ten religiösen Raums zugunsbesetz-ten des Staates anstrebbesetz-ten. »Katholiken« verweist auf diejenigen, die eine Aufrechterhaltung – in manchen Fällen sogar eine Ausweitung – des kirchlichen Einflusses anstrebten; es geht hier also um eine gesellschaftspoliti-sche Haltung statt einer religiösen Gesinnung.

5 Trotz vatikanischer Verurteilung des liberalen Katholizismus (vgl. die Enzyklika Mirari Vos, 1832) hielt sich Rom im Falle Belgiens zurück in der Hoffnung, die pre-käre Unabhängigkeit und katholisch-liberale Allianz nicht zu gefährden. Für die Beziehungen zwischen Belgien und dem Heiligen Stuhl, siehe auch Vincent Viaene, Belgium and the Holy See from Gregory XVI to Pius IX (1831–1859). Catholic Re- vival, Society and Politics in the 19th-Century Europe, Turnhout 2001.

Belgiens konflikthafte Geschichte im 19. Jahrhundert ist gut erforscht 6.

Außerdem haben Historiker sich intensiv mit Entwicklungen im religiö-sen Leben auseinandergesetzt, u.a. mit dem politischen Katholizismus und Ultramontanismus sowie mit der Kultur des »Réveil« und der Geschlechter-frage7. Viel Aufmerksamkeit hat auch die Schulfrage erhalten, die bis weit ins 20. Jahrhundert für heftige Polemiken sorgte8. Dahingegen wurde über den öffentlichen Umgang mit gesellschaftspolitischen Konflikten, inklusive dem Einsatz von »crowd action«, weniger geschrieben9. Gita Deneckeres Arbeiten zu sozialwirtschaftlichen und weltanschaulichen Protestkulturen erfassen überwiegend urbane Milieus und antiklerikale Agitationsformen, wobei die katholisch-ländliche Mobilisierung ausgeblendet wird10. Auch die Forschung zum »Gesetz Van Humbeeck« hat sich auf die Schulreform selbst konzentriert; ihre Rezeption in der Öffentlichkeit wurde nur für nicht-gewaltsame Formen von »contentious politics«, wie Petitionen und Boykotts, analysiert 11. Dahingegen untersucht dieses Kapitel Protestakte, die von

6 Einen Überblick bietet Witte u.a. (Hg.), Nieuwe geschiedenis van België, Bd. 1. Für eine englischsprachige Einführung in den katholisch-liberalen Konflikt siehe auch ders., The Battle for Monasteries, Cemeteries and Schools: Belgium, in: Christopher Clark / Wolfram Kaiser (Hg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 42006, S. 102–128.

7 Siehe auch Jan De Maeyer, De rode baron. Arthur Verhaegen, 1847–1917, Leuven 1994; Emiel Lamberts (Hg.), De kruistocht tegen het liberalisme. Facetten van het ultramontanisme in België in de 19de eeuw, Leuven 1984; Tine Van Osselaer, The Pious Sex: Catholic Constructions of Masculinity and Femininity in Belgium, c. 1800–1940, Leuven 2013; Viaene, Belgium and the Holy See.

8 Noch immer wegweisend ist Jacques Lory, Libéralisme et instruction primaire, 1842–1879. Introduction à l’ étude de la lutte scolaire en Belgique, 2 Bde., Leuven 1979. Die transnationale Dimension wird hervorgehoben bei Christine Reimann, Schule für Verfassungsbürger? Die Bildungsligen und der Verfassungswandel des späten 19.  Jahrhunderts in Belgien, England und Frankreich, Münster 2016. Der Streit wurde auch in der Presse ausgefochten. Eine visual history gibt Jeffrey Tyssens, Om de schone ziel van ’t kind. Het onderwijsconflict als een breuklijn in de Belgische politiek, Gent 1998.

9 Vgl. mein aktuelles Forschungsprojekt »Catholic Crowd Action. The Violent Con-flict over Public Religion in Europe, 1864–1914«.

10 Vgl. Gita Deneckere, Sire, het volk mort. Sociaal protest in België, 1831–1918, Antwerpen 1997; dies., Geuzengeweld. Antiklerikaal straatrumoer in de politieke geschiedenis van België, 1831–1914, Brüssel 1998 (die Schulfrage: S.  99–143). Für

»crowd action« siehe auch Jan D’hondt, Parlementaire werking en agitatie in onze eigen hedendaagse geschiedenis, in: De Vlaamse Gids 38 (1954), H. 5, S. 270–289;

Frans Van Kalken, Les commotions populaires en Belgique (1834–1902), Brüs-sel 1936.

11 Siehe auch Jacques Lory, La résistance des catholiques belges à la »loi de malheur«, 1879–1884, in: Revue du Nord 68 (1985), S. 729–747; Witte, The Battle for Monas-teries, S. 118–126. Siehe auch regionale Studien, wie Jean-Marie Lermyte, Voor de ziel van het kind. De schoolstrijd in het klerikale arrondissement Roeselare, 1878–

1887, Brügge 1985; Jean-Luc Soete, La résistance catholique face à la loi Van Hum-beeck dans l’ arrondissement de Tournai (1878–1884), in: Revue Belge d’Histoire

Gläubigen zugunsten der Kirche verübt wurden. Der zeitliche Fokus liegt auf der Periode zwischen dem Kollaps des Unionismus im Jahr 1857 und den frühen 1880er Jahren, wobei der katholische Widerstand zum Schulge-setz von 1879 im Mittelpunkt steht. Geographisch liegt der Fokus auf den Provinzen Ost- und Westflandern; hier konnte die Katholische Partei wäh-rend dem untersuchten Zeitraum nahezu überall Wahlerfolge verzeichnen – ein Erfolg, den Historiker u.a. mit dem ländlichen Charakter der Region, die von Bauernbetrieben kleinerer und mittlerer Größe dominiert wurde, erklärt haben12.

Im Folgenden soll zunächst auf religionsbezogene Gewalterfahrungen und -vorstellungen vor 1879 eingegangen werden. Die lokale Rezeption von Van Humbeecks Schulgesetz wird am Beispiel eines Exzesses im Dorf Heule nahe Kortrijk beleuchtet, das im Kontext weiterer katholischer Protestpraktiken eingeordnet wird. Abschließend soll auf die Bedeutung von Gewalt für den religiös-weltanschaulichen Konflikt in Belgien, wie auch auf das Verhältnis von Glaube und Gewalt generell eingegangen werden. Insgesamt schlägt die-ses Kapitel mithilfe einer Analyse des (gewaltsamen) Widerstandes gegen das Gesetz vom 1. Juli 1879 eine neue Periodisierung des Konfliktes vor, der in der Historiographie als »Schulstreit« bekannt ist. Der Begriff unterstreicht die Konflikthaftigkeit des Ringens um den Grundschulunterricht, sugge-riert aber aufgrund einer temporären Engführung auf die Jahre 1879–1884 (d.h. bis zum Sturz der liberalen Regierung Frère-Orban-II) eine Kontinuität bzw. Homogenität, die es nie gab13. Abgesehen davon, dass der Kampf gegen die Gemeindeschule nach dem Widerruf des Gesetzes Van Humbeeck noch

Contemporaine / Belgisch Tijdschrift voor Nieuwste Geschiedenis 11 (1980), H. 1–2, S. 119–169; Christian Vreugde, La guerre scolaire dans la région de Bruges (1878–

1884), Leuven 1984.

12 Vgl. Henk De Smaele, Rechts Vlaanderen. Religie en stemgedrag in negentiende-eeuws België, Leuven 2009, S. 60–61, 126; Leen Van Molle, Katholieken en land-bouw. Landbouwpolitiek in België, 1894–1914, Leuven 1989, S. 351. Auch in Flandern gab es jedoch liberale Zentren. Siehe auch Véronique Adriaens, Liberalisme op het Zuid-Oostvlaamse platteland in de 19e eeuw, Gent 1991.

13 Es gibt eine lange Tradition in der belgischen Geschichtsschreibung, die von einem

»Schulstreit« (»schoolstrijd« und »guerre scolaire«) in den Jahren 1879–1884 spricht.

Siehe auch Deneckere, Geuzengeweld, S. 99–143; Gita Deneckere, Nieuwe geschie-denis van België, in: Witte u.a. (Hg.), Nieuwe geschiegeschie-denis, Bd. 1, S. 447–664, hier S.  477–499; De Smaele, Rechts Vlaanderen, S.  202–208; Lermyte, Voor de ziel van het kind; Lory, Libéralisme et instruction primaire; Els Witte u.a., Politieke geschiedenis van België van 1830 tot heden, Antwerpen 72005, S. 99–102. Kritischer zu einer Periodisierung ist Jeffrey Tyssens, De schoolkwestie tijdens de regering Frère-Orban (1878–1884), in: Tijdschrift van het Gemeentekrediet 50 (1996), H. 195, S. 97–111. Eine abweichende Periodisierung, welche 1880 als Zäsur annimmt – es sei der Anfang einer »société scolarisée« – findet man bei Marc Depaepe u.a., Orde in Vooruitgang. Alledaags Handelen in de Belgische Lagere School (1880–1970), Leuven 1999.

jahrzehntelang weitergeführt wurde, offenbart die hiesige Analyse lokaler Widerstandsaktionen eine Zäsur im Winter 1880 / 8114. Der Fokus auf Gewalt ist hier von zentraler Bedeutung; er zeigt, dass der Konflikt um den Grund-unterricht zunächst von katholischen Eliten geprägt war, anschließend auf die Straße ging, bis mit der Etablierung des freien Grundschulunterricht die Gewalt erneut eher latent wurde.

Differenzen um den religiösen Raum:

Gewaltepisoden vor 1879

Bereits vor dem als »Bürgerkrieg« in die Annalen eingegangen Streit um die partielle Säkularisierung des Grundschulunterrichts war es mehrmals zu öffentlichen Streitigkeiten um die Grenzen des klerikalen Einflusses gekommen15. Den Anfang machte das bereits erwähnte Gesetz der Wohl-tätigkeitseinrichtungen von 1857. Da liberale Kräfte eine Ausbreitung der

»Toten Hand« befürchteten, zogen sie auf die Straße, um gegen das Gesetz zu protestieren. Die vom Kleinbürgertum dominierten Manifestationen bestanden größtenteils aus Märschen, bei denen Katholiken beschimpft sowie körperlich attackiert und Liberale bejubelt wurden, schlugen aber gele-gentlich in gewalttätige Auseinandersetzungen über. Laut Deneckere dienten die Proteste vor allem der Anfechtung politischer Entscheidungen, »welche die öffentliche Initiative stark benachteiligten«16. Doch ein genauerer Blick jenseits der urbanen Zentren zeigt, dass die Proteste von 1857 alsbald von Anfeindungen ergänzt wurden, die weniger zweckrational als vielmehr im Sinne eines aufkeimenden Antiklerikalismus bzw. -katholizismus einerseits, und eines Antiliberalismus anderseits zu erklären sind17. Die folgenden Kon-flikte um die Kirchhöfe und Wahlen belegen dies.

Das Dekret vom 23. Prairial an XII (12. Juni 1804) über das Bestattungs-wesen sicherte den Bürgermeistern die Aufsicht über die Kirchhöfe zu und befahl die Beerdigung aller Toten am gleichen Ort  – zumindest solange

14 Für die Bildungsfrage nach 1884 siehe auch Tyssens, Om de schone ziel, S. 83–194.

15 Vgl. De Maeyer, De rode baron, S. 156; Karel Van Isacker S.J., Werkelijk en wet-telijk land. De katholieke opinie tegenover de rechterzijde, 1863–1884, Antwerpen 1955, S. 177.

16 Deneckere, Geuzengeweld, S. 39. Für die Proteste gegen das Gesetz vom 1857 siehe auch ebd., S. 37–61; Emiel Lamberts, Kerk en liberalisme in het bisdom Gent (1821–

1857). Bijdrage tot de studie van het liberaal-katholicisme en het ultramontanisme, Leuven 1972, S. 452–481; Witte, The Battle for Monasteries, S. 109–113.

17 Diese Entwicklung hängt auch mit der »Popularisierung« des Ultramontanismus in den 1860er Jahren zusammen. Siehe auch Jan Geens, Guido Gezelle en ’t Jaer 30, 1864–1870: de popularisatie van het Ultramontanisme, in: Lamberts (Hg.), De kruis tocht tegen het liberalisme, S. 160–195.

in der Kommune keine andere Konfession oder Religion registriert war18.

Bis 1857 scheint diese Regelung wenig Streit hervorgebracht zu haben. So wurde 1848 in Ninove der Tagelöhner Charles Demol, der die Sterbesakra-mente verweigert hatte, und wenige Jahre später der Selbstmörder Philippe Berlamont regulär auf dem Kirchhof bestattet 19. Doch nach dem Zerfall des Unionismus wandten sich viele Kleriker der Kompartimentierung zu, ein Mechanismus, bei dem diejenigen, die keine praktizierenden Katholiken gewesen waren – seien sie Freidenker, Protestanten oder Juden – oder Suizid begangen hatten, in einem gesonderten Teil des Kirchhofs beerdigt wurden:

dem sogenannten »trou des chiens«. Folglich wurde Modest De Deyn, ein lokaler Wohltäter, aber nicht praktizierender Katholik, im Ninover »Hun-deloch« bestattet 20. In Ronse plante man gar einen Zaun um die Gräber der

»Abtrünnigen [und] Verleumdeten« zu ziehen, was der Bürgermeister als

»machiavéllisme« denunzierte21. Liberale waren über die Entstehung solcher postumen Pariagemeinschaften empört, zumal die Praxis gelegentlich zu der Entstellung von Gräbern und zu Attacken auf Trauerzügen »gottloser« Perso-nen führte22. In den Folgejahren entwickelten die Liberalen als Reaktion auf die »symbolische Gewalt«, die von der katholischen Mehrheitsgesellschaft hinsichtlich der Bestattungswünsche von Andersgläubigen und Andersden-kenden praktiziert wurde, Pläne für den Bau kommunaler Friedhöfe23. Spä-ter gab es infolge der Zuspitzung des religiös-weltanschaulichen Konflikts nach 1879 mehrere Fälle, bei denen staatlicherseits die Neubestattung eines im »Hundeloch« beerdigten Verstorbenen befohlen wurde24.

Der katholisch-liberale Antagonismus bewährte sich auch zurzeit von Wahlen. Aufgrund der Spezifika des belgischen Wahlsystems war der

18 Das Dekret war dazu gedacht, Probleme gesundheitlicher Natur zu beseitigen, bestä-tigte aber zugleich die Vormachtstellung der Kommunen über die Kirchhöfe.

19 Bürgermeister von Ninove an Gouverneur von Ostflandern, 17.  Februar 1859, in:

Rijksarchief Gent [im Folgenden RAG] / Provincie Instellingen [im Folgenden PV]

1851–1870 1591/1.

20 Sylvie Veys und Hercule Bouchez an Gouverneur von Ostflandern, 12. März 1881, in:

RAG/PV 2/6537/6.

21 Bürgermeister von Ronse an Gouverneur von Ostflandern, s.d. Dezember 1862, in:

RAG/PV 1851–1870 1596/12.

22 Siehe z.B. Innenminister an Gouverneur von Ostflandern, 26. Juli 1866, in: RAG/PV 1851–1870 1597/4; Anonym an Gouverneur von Ostflandern, s.d. Oktober 1869, in:

RAG/PV 1851–1870 1598/6.

23 Vgl. Jeffrey Tyssens, Funerary Culture, Secularity and Symbolised Violence in Nine-teenth-Century Belgium, in: Pakistan Journal of Historical Studies 2 (2018), H. 2, S. 62–88.

24 Siehe z.B. Kommissar des Arrondissements Oudenaarde an Gouverneur von Ost-flandern, 2. Mai 1879, in: RAG/PV 1871–1914 2/6536/4; Gemeindelehrer von Vlier-zele an ders., 5. November 1880, in: RAG/PV 1871–1914 2/6537/12; Bürgermeister von Ronse an ders., 17. März 1881, in: RAG/PV 1871–1914 2/6537/6; Le Bien Public, 20. November 1880.

Urnengang anfällig für Beeinflussungen; die Einschüchterung und Beste-chung von Wählern, sogar Betrug waren keine Seltenheit, fanden allerdings meist unter katholischer Federführung statt 25. Gelegentlich wurden sie von Krawallen begleitet. So kam es in Aalst infolge des liberalen Wahlsiegs 1866 zu Exzessen, wobei Katholiken eine Feier störten, Katzenmusik spielten und Liberale verprügelten26. Überzeugt, dass klerikale Akteure eine entschei-dende Rolle in der Entfaltung solcher Ausschreitungen spielten, wurde das Strafgesetzbuch dahingehend geändert, dass dem Klerus – der die vom Land angereisten Wähler oft begleitete – jegliche Kritik an der staatlichen Obrig-keit untersagt war. Da dies die Übergriffe nicht beendete, wurde die eingangs erwähnte Föderation von katholischen Vereinen gegründet in der Hoffnung, durch legale Mobilisierungsformen Gewalt vorzubeugen27.

Die sich mehrheitlich in regionalen Zentren ereignende antiliberale Gewalt hat in der Forschung wenig Aufmerksamkeit bekommen; stattdessen wurden die urbanen Gewaltakte antiklerikaler Akteure untersucht, die mit dem Antritt der pro-katholischen Regierung D’Anethan (1870) zunahmen und oft von Demonstrationszügen sowie Katzenmusik begleitet wurden28.

Es kam nun vermehrt zu Übergriffen auf Anhänger der Katholischen Par-tei und Fenster sämtlicher Gebäude, die als katholisch galten  – darunter der Bischofspalast, das Priesterseminar, mehrere Klöster, die Redaktion der ultramontanen Zeitung Le Bien Public und die Häuser bekannter Katholi-ken – wurden eingeworfen29. Tatsächlich war Gewalt ein fester Bestandteil des liberal-oppositionellen Protestes während der Periode 1870–1878, sei es in Form von physischer Gewalt gegen Gläubige und Objekte oder als gedank-liche Verbindung von Katholizismus und Gewalt. Die Attacken auf Prozessi-onen in Ostflandern im Frühjahr 1875 sind ein Beispiel der ersten Kategorie;

sie sind als Widerstand zur religiösen Besetzung des öffentlichen Raums zu werten30. Dahingegen zeugt die Feier zum 300. Jahrestag der »Pazifikation

25 Vgl. Deneckere, Geuzengeweld, S. 87.

26 Stadtrat von Aalst an Gouverneur von Ostflandern, 18. Juni 1866, in: RAG/PV 1851–

1870 1404/5.

27 Vgl. die Schlägerei in Dendermonde, wobei drei Liberale schwerverletzt wurden.

Bericht der Gendarmerie von Dendermonde, 6. August 1868, in: RAG/ PV 1851–1870 1307/2. Für das Wahlrechtsystem siehe auch Romain Van Eenoo, De evolutie van de kieswetgeving in België van 1830 tot 1919, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 92 (1979), S. 333–352.

28 Siehe auch Deneckere, Geuzengeweld, S. 63–97.

29 Vorsitzende des bischöflichen Seminars in Gent an Gouverneur von Ostflandern, 4.  August 1870, in: RAG/PV 1851–1870 1404–14; Stadarchief Gent/Reeks R Poli-tie/377. Für die antiklerikale Gewalt siehe auch Deneckere, Geuzengeweld, S. 87–97.

30 Siehe auch Michel Lagrée, Processions religieuses et violence démocratique dans la France de 1903, in: French Historical Studies 21 (1998), H. 1, S. 77–99. Zunächst kam es am Pfingstmontag in Oostakker nahe Gent zu einer Schlägerei zwischen Mitgliedern der Erzbruderschaft des Heiligen Franz Xaver und Antiklerikalen. Zwei

von Gent« – womit an die anti-spanische Allianz der Siebzehn Provinzen zurzeit des Achtzigjährigen Krieges erinnert wurde  – von einer symboli-schen Koppelung von Glaube und Gewalt. So enthielt der historische Festzug einen »Wagen der Heiligen Inquisition« samt Häretikern, die auf den Voll-zug ihres Prozesses warten, Inquisitoren, einen Scheiterhaufen, einen Gal-gen und ein Skelett mit klerikalem Gewand31. Setzten die Organisatoren die Römische Kirche also mit Intoleranz, Fanatismus und Gewalt gleich, ließen sich katholische Beobachter nicht zu aktivem Widerstand provozieren. Diese Zurückhaltung war sicherlich den mahnenden Worten des Genter Bischofs zu verdanken, aber auch die Regierungsbeteiligung der Katholiken war ent-scheidend, war Straßengewalt doch oft antizyklisch zur politischen Macht.

Insofern erstaunt es nicht, dass mit dem Antreten einer liberalen Regierung 1878 die Initiative zum (gewaltsamen) Protest auf die Katholiken überging.

Das »Unglücksgesetz« vom 1. Juli 1879:

Sprengstoff für eine landesweite Mobilisierung

Für die Parlamentswahlen hatten sich doktrinäre und radikale Liberale auf ein Programm zur Verteidigung der nationalen Institutionen und konstitu-tionellen Freiheiten gegen intransigente Katholiken geeinigt 32. Bildung war ein wichtiges Anliegen, ging es doch um die Erziehung künftiger Bürger.

Bereits im Januar 1879 legte Minister Pierre Van Humbeeck einen Gesetzes-entwurf vor, der das Schulgesetz von 1842, das der Kirche viele Freiheiten einräumte, durch laizistische Prinzipien ersetzen sollte. Auf die Debatten im Parlament soll hier nicht eingegangen werden33. Wichtig ist aber, dass das verabschiedete Gesetz abgeschwächt wurde. Tauchte anfangs der Religi-onsunterricht nicht im Curriculum auf, wurde er nun doch gestattet. Zwar wurde die moralische Erziehung von dogmatischen Ideen befreit, die kle-rikale Schulaufsicht abgeschafft, die Zahl der staatlichen Schulinspektoren erhöht und Schulausschüsse gebildet. Auch mussten alle Kommunen eine öffentliche Grundschule haben und es wurden nur jene als Lehrer angestellt,

Wochen später griffen Antiklerikale die Fronleichnamsprozession in Sint-Niklaas an. Siehe auch Eveline G. Bouwers, Oostakker, in: Leibniz-Institut für Europäi-sche Geschichte (Hg.), Ortstermine. Umgang mit Differenz in Europa, Mainz 2016.

Wochen später griffen Antiklerikale die Fronleichnamsprozession in Sint-Niklaas an. Siehe auch Eveline G. Bouwers, Oostakker, in: Leibniz-Institut für Europäi-sche Geschichte (Hg.), Ortstermine. Umgang mit Differenz in Europa, Mainz 2016.