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Gewalt und religiös-gesellschaftliche Grenzziehungen

Im Dokument Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert (Seite 140-164)

»Um Streitigkeiten zu vermeiden, […] wird jene Moschee zerstört«

Religion und Gewalt im Grenzkonflikt bei Melilla, 1860–1863

Das nordafrikanische Grenzgebiet um die Exklave Melilla, die sich seit 1497 in spanischem Besitz befindet, war seit jeher von Ambivalenzen geprägt. Zum einen gehörten Handel und Informationsaustausch mit den Nachbarn zum Alltag und waren für die spanische Exklave sogar überlebenswichtig. Außer-dem bot der Grenzübertritt für Personen beider Seiten die Möglichkeit, sich dem (strafrechtlichen) Zugriff der eigenen Gemeinschaft zu entziehen, was Migrationsbewegungen begünstigte1. Zum anderen aber war die Nachbar-schaft um die Exklave permanent von Konflikten um Land, Ressourcen und rechtliche Zuständigkeiten geprägt, die sich immer wieder gewaltsam entlu-den. Der auf beiden Seiten der Grenze proklamierte religiöse Antagonismus gegenüber dem Nachbarn konnte dabei phasenweise zu einer Verschärfung der Grenzsituation beitragen. Schließlich galt der moro2 in Spanien seit Jahr-hunderten als religiöser wie säkularer Erbfeind – ein Bild, das unter ande-rem der Konstruktion eines spanischen Nationalbewusstseins diente3. Aber auch auf marokkanischer Seite war die Grenzlage zur Iberischen Halbinsel

1 Zur ambivalenten Situation der Grenzregion sowie den verschiedenen Migrations-formen, ihren Veränderungen und Auswirkungen um 1860 vgl. mein Dissertations-projekt: Sara Mehlmer, Grenzleben zwischen Religion und Realpolitik. Ceuta und Melilla um 1860 [in Vorbereitung].

2 Der Begriff »moro« war und ist im Spanischen vielschichtig. Zum einen bezog er sich auf die geographische Herkunft einer Person aus dem Maghreb, zum anderen auf deren religiöse Zugehörigkeit zum Islam. Beides, geographische wie religiöse Zuge-hörigkeit, war also semantisch eng miteinander verknüpft. Zur historischen Wortbe-deutung vgl. La Academia Española (Hg.), Diccionario de la lengua castellana, Ma- drid 101852, S. 464. Zum (überwiegend negativen) Bild des moro in Spanien vgl. Eloy Martín Corrales, La imagen del magrebí en España. Una perspectiva histórica, siglos XVI–XX, Barcelona 2002.

3 Vgl. Eloy Martín Corrales, El »moro«, decano de los enemigos exteriores de España: una larga enemistad (siglos  VIII–XXI), in: Xosé Manoel Núñez Seixas / Francisco Sevillano Calero (Hg.), Los enemigos de España. Imagen del otro, con-flictos bélicos y disputas nacionales (siglos XVI–XX), Madrid 2010, S. 165–182 sowie Patricia Hertel, Der erinnerte Halbmond. Islam und Nationalismus auf der Iberi-schen Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert, München 2012.

und die damit verbundene Position als religiöser Vorposten gegenüber dem nicht-muslimischen Teil der Welt, zentraler Bestandteil der marokkanischen Staatsbildung4.

Mit dem Sieg Spaniens im sogenannten »Afrikakrieg« oder »Tétouan-Krieg«5 (1859–1860) gegen Marokko ging ein gesteigertes spanisches Inter-esse an der nordafrikanischen Region einher, das in vertraglich festgelegten Handels- und Siedlungsbegünstigungen sowie Gebietsabtretungen Marok-kos seinen Niederschlag fand. Für Marokko bedeutete die Niederlage eine enorme finanzielle und damit innen- wie außenpolitische Schwächung sowie einen zunehmenden Druck, sich für den wirtschaftlichen Einfluss Europas zu öffnen6. Entsprechend gilt das Jahr 1860 als Beginn des moder-nen spanischen Kolonialismus in Nordafrika sowie allgemein als Beginn der Intensivierung des europäischen Einflusses in Marokko7. Anhand der 1860 vertraglich vereinbarten Grenzverschiebungen um Melilla lassen sich die Auswirkungen des spanischen Sieges und eine damit verbundene Zuspit-zung des Grenzkonflikts um die Exklave ausmachen, bei dessen Austragung nicht nur territoriale, expansive und wirtschaftliche, sondern letztlich auch religiöse Faktoren eine Rolle spielten.

Die Gebietserweiterungen um die Exklave hatten unter anderem dazu geführt, dass eine berberische Moschee in nun spanisches Territorium fiel. Diese Moschee wurde im November 1863 durch spanische Truppen zerstört. Manuel Alvarez Maldonado, bis September 1863 Gouverneur der spanischen Exklave, kommentierte dieses Ereignis kurz vor seiner Abreise im Dezember:

4 Vgl. Amira K. Bennison, Liminal States. Morocco and the Iberian Frontier between the Twelfth and the Nineteenth Centuries, in: Julia Clancy-Smith (Hg.), North Africa, Islam and the Mediterranean World: From the Almoravids to the Algerian War, London u.a. 2001, S. 11–28.

5 Während in der spanischen Historiographie der Begriff »Afrikakrieg« immer noch häufig verwendet wird, bevorzugen vor allem nicht-spanische Autoren die Bezeich-nung »Tétouan-Krieg«. Vgl. Itzea Goikolea-Amiano, Hispano-Moroccan Mimesis in the Spanish War on Tetouan and its Occupation (1859–1862), in: The Journal of North African Studies 24 (2018), H. 1, S. 44–61, hier S. 45. Richard Pennell schreibt, angesichts der geringen Ausdehnung des Konfliktes, passend von »a border squabble blown up into a war«, vgl. Richard Pennell, Morocco since 1830. A History, London 2000, S. 64.

6 Vgl. Germain Ayache, Aspects de la crise financière au Maroc après l’ éxpédition espagnole de 1860, in: Revue Historique 220 (1958), H. 2, S. 271–310.

7 Siehe auch den Sammelband von Eloy Martín Corrales (Hg.), Marruecos y el colonialismo español (1859–1912). De la guerra de África a la »penetración pací-fica«, Barcelona 2002. Zum Schlüsseljahr 1860 als Beginn der intensiven Kolonisie-rung des Landes durch europäische Mächte vgl. Abdellah Laroui, The History of the Maghrib. An Interpretative Essay, Princeton 2015 [1977; frz. Erstausgabe 1970], S. 322.

[I]ch, dessen lebenslanger Alptraum es gewesen wäre, wenn er nicht das Verschwin-den jener Bauwerke mitangesehen hätte, beeilte mich, vor meiner Abreise damit abzu-schließen, um weder ein Andenken noch eine Spur ihrer Existenz übrigzulassen […].

Zum Zorn unserer barbarischen Nachbarn hatte ich die Genugtuung, die berühmte Moschee mitsamt ihren hundertjährigen Feigenkakteen verschwinden zu lassen8.

Die Zerstörung des Gotteshauses selbst sowie der sie umgebenden, von den Berbern als heilig angesehenen Vegetation, aber auch die Genugtuung, die der Gouverneur angesichts der Aktion offenbar empfand, scheinen die Annahme einer religiösen Feindschaft im Grenzgebiet zu bestätigen. Alexandre Joly (1870–1913)9, französischer Wissenschaftler und Mitglied der »Mission Sci-entifique du Maroc«, analysierte noch Anfang des 20. Jahrhunderts das Ver-hältnis zwischen Spaniern und Marokkanern rückblickend: »Der religiöse Fanatismus […], nahezu identisch auf beiden Seiten, machte den Schutzwall, der beide Völker voneinander trennte, noch unüberwindbarer«10. Er sah in der Grenzlage beider Länder und einer damit verbundenen Tradition der religiösen Abgrenzung, der Bedrohung und Verteidigung den wahren Kern des spanisch-marokkanischen Gegensatzes: »Die Wahrheit ist«, so Joly, »dass die Nordmarokkaner […] immer gegen die Spanier gekämpft haben, die, auf-grund ihrer geografischen Lage, der Vorposten Europas und der Christen-heit sind, so wie sie es für den Islam […] waren«11.

Ziel des Aufsatzes ist es, zu hinterfragen, inwieweit das Bild des religiö-sen Gegensatzes von Christen und Muslimen der lokalen Realität um Meli-lla zu Beginn der modernen spanischen Expansion in Nordafrika um 1860 entsprach12. Anhand der Auseinandersetzungen um die besagte Moschee werden Formen physischer und symbolischer Gewalt im Grenzgebiet auf-gezeigt, um anschließend zu hinterfragen, ob es sich dabei tatsächlich um

8 Maldonado ans Kriegsministerium, Melilla, 24. Dezember 1863, Archivo General de la Administración (im Folgenden: AGA), 15(17) Sektion Afrika, Marokko (im Fol-genden: SAM), 81 / 00131. Diese und folgende Übersetzungen fremdsprachiger Zitate stammen von der Autorin.

9 Zu Alexandre Joly vgl. Benjamin Claude Brower, Joly Alexandre, in: François Pouillon (Hg.), Dictionnaire des orientalistes de langue française, Paris 2012, S. 551.

10 Alexandre Joly, Historia crítica de la Guerra de Africa, Madrid 1910, S. 13.

11 Ebd., S. 12.

12 Intensiv mit der Grenzregion um Melilla haben sich vor allem Ethnologen ausein-andergesetzt, darunter insbesondere Henk Driessen, dessen Arbeiten zum (in den 1990er Jahren) aktuellen Zusammenleben von Muslimen und Christen in der Region sich auch relativ ausführlich mit dem historischen Hintergrund dieses Zusammenle-bens beschäftigen, vgl. Henk Driessen, On the Spanish Moroccan Frontier. A Study in Ritual, Power and Ethnicity, New York 1992 sowie ders., The Politics of Religion on the Hispano-African Frontier. A Historical-Anthropological View, in: Eric  R.

Wolf (Hg.), Religious Regimes and State Formation. Perspectives from European Ethnology, Albany 1991, S. 237–259.

»religiös« motivierte Gewalt handelte oder nicht vielmehr um eine In- strumentalisierung des Religiösen, zum Beispiel zum Zwecke der Machtde-monstration und symbolischen Unterwerfung, oder auch um die religiöse (Um-)Deutung eines eigentlich säkularen Konflikts. In diesem Rahmen wird der Frage nachgegangen, welche Rolle die individuelle und kollektive Erinne-rung an Gewalt sowie ökonomische, territoriale, koloniale und persönliche Interessen neben möglichen religiösen Motiven bei der Entstehung und Aus-tragung gewaltsamer Konflikte im nordafrikanischen Grenzgebiet spielten.

Mit den »Tiradores del Rif«, einer berberischen Einheit im spanischen Heer, wird zuletzt auf eine Personengruppe eingegangen, die sich gerade nicht in das scheinbar so starre Schema des muslimisch-christlichen bzw. marokka-nisch-spanischen Antagonismus vor Ort fügte und damit als Beispiel dafür dienen kann, dass in der nordafrikanischen Grenzregion neben Gewalt und Konflikt auch Kooperation und Interaktion zum Alltag gehörten.

Katholizismus an der Grenze:

Melilla und das östliche Riffgebiet

Seit der sogenannten Reconquista, also der »Rückeroberung« Spaniens von den Mauren, die im Jahr 1492 mit der Übergabe Granadas an die Katholi-schen Könige Ferdinand und Isabella abgeschlossen war, wurde der Katho-lizismus zur Kernideologie Spaniens. Mit der systematischen Verfolgung, Ausweisung und Tötung Andersgläubiger sollte die katholische »Reinheit«

auf der Iberischen Halbinsel gesichert werden. Neben dem Judentum kam vor allem dem Islam dabei die Rolle des Erbfeindes zu, was sich in Mythen und Nationalheiligen wie »Santiago Matamoros«, dem »Maurentöter«, aber auch in zum Teil heute noch praktizierten lokalen Volksfesten manifes-tierte13. Dieser mythische Antagonismus wurde von einer durchaus als real empfundenen Bedrohung durch eine erneute muslimisch-maghrebinische

»Invasion« begleitet.

Um diese Bedrohung einzudämmen, die wirtschaftlich bedeutsame Meerenge von Gibraltar sowie das Mittelmeer vor Piraten zu schützen und eine Ausweitung des spanischen Einflusses in Nordafrika zu ermöglichen, hatte Spanien (neben Portugal) im 15. und 16. Jahrhundert Teile Nordafrikas erobert. Dazu gehörte auch Melilla, das sich seit 1497 in spanischem Besitz

13 Vgl. Henk Driessen, Mock Battles between Moors and Christians. Playing the Confrontation of Crescent with Cross in Spain’ s South, in: Ethnologia Europaea 15 (1985), S. 105–115 sowie Martín Corrales, La imagen del magrebí, S. 49f. Zur Rolle des Islam in der Herausbildung eines spanischen Nationalbewusstseins vgl. Hertel, Der erinnerte Halbmond.

befand14. Die permanent besiedelte spanische Exklave im Nordosten Marok-kos besaß, ebenso wie Ceuta im Nordwesten, nie den Charakter einer Kolonie;

sie war vielmehr integraler Bestandteil des spanischen Staates und gehörte als »plaza de soberanía« bis 1995 zur Provinz Málaga15. Die Exklaven waren Festungsstädte, sogenannte presidios, deren Hauptaufgaben die Verteidigung der Iberischen Halbinsel gegen mögliche Angriffe aus der nordafrikanischen Küstenregion und dem östlichen Mittelmeerraum sowie die Eindämmung der Piraterie waren. Ihr Festungscharakter prädestinierte sie außerdem für die Unterbringung von Sträflingen, wie dies seit dem 17. Jahrhundert prak-tiziert wurde16. Die Bevölkerung in den Exklaven war also maßgeblich von der Präsenz des Militärs einerseits und der Sträflinge andererseits geprägt, obgleich sich durch den Zuzug von Familienangehörigen, Kaufleuten, Hand-werkern und Klerikern auch eine, wenngleich zahlenmäßig geringe, zivile Bevölkerungsgruppe etablierte. Der Oberbefehlshaber der Truppen vor Ort war gleichzeitig Gouverneur der Stadt und verfügte sowohl über militärische als auch über umfangreiche politische und rechtliche Vollmachten17.

Während Ceuta im 19.  Jahrhundert mit den nahegelegenen Städten Tétouan und Tanger sowie der Nähe zur Iberischen Halbinsel über relativ gute Kommunikationsmöglichkeiten verfügte, war Melilla im nordöstli-chen, ländlich geprägten Riffgebiet auch aufgrund der großen Distanz (fast 200 km) zum spanischen Kernland einen Großteil des Jahres von der Kom-munikation mit diesem abgeschnitten18. Zwischen der Iberischen Halbin-sel und Melilla verkehrte im Durchschnitt nur zwölfmal pro Jahr ein Post-schiff19, was die Korrespondenz mit der Regierung in Madrid erschwerte,

14 Zu Geschichte, Geographie und demographischer Entwicklung der beiden Exkla-ven vgl. Victor Morales Lezcano, Las fronteras de la Península Ibérica en los sig-los XVIII y XIX. Esbozo histórico de algunos conflictos franco-hispano-magrebíes, con Gran Bretaña interpuesta, Madrid 2000, S. 115–134. Zur Geschichte Melillas vgl.

Antonio Sáez-Arance, From a Medieval Christian Vanguard to a European High-Tech Fortress. Melilla’ s Historical Background, in: Michaela Pelican / Sofie Stein-berger (Hg.), Melilla. Perspectives on a Border Town, Köln 2017, S. 25–34.

15 Vgl. Sáez-Arance, From a Medieval Christian Vanguard, S. 25f.

16 Vgl. Santiago Domínguez Llosá, La vida cotidiana en el siglo  XIX, in: Antonio Bravo Nieto / Pilar Fernández Uriel (Hg.), Historia de Melilla, Melilla 2005, S. 495–524, hier S. 512 sowie Francisco J. Calderón Vázquez, Fronteras, identidad, conflicto e interacción. Los presidios españoles en el norte Africano, Málaga 2008, in: Eumednet, hg. v. der Universität Málaga, URL: <http://www.eumed.net/libros-gratis/2008c/433/> (11.07.2018), S. 15f.

17 Vgl. Juan José Relosillas, Catorce meses en Ceuta. Narraciones que interesan á todo el mundo, Málaga 1883, S. 68 sowie einen ausführlichen Artikel zu Melilla in: La España, 18. Dezember 1857.

18 Vgl. Pascual Madoz, Diccionario geográfico-estadístico-histórico de España y sus posesiones de Ultramar, Bd. 11, Madrid 1848, S. 362 sowie La España, 18. Dezem-ber 1857.

19 Vgl. La España, 18. Dezember 1857. Zwischen Ceuta und dem andalusischen Algeci-ras verkehrte bereits Ende der 1850er Jahre ein Dampfschiff täglich. Vgl. ein

Schrei-die daher überwiegend über den spanischen Vertreter in Tanger verlief. Aber auch die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs war unzureichend, sodass die Exklave auf Lieferungen entsprechender Waren aus dem berberischen Umland angewiesen war, was wiederum grenzüberschreitende Handelskontakte begünstigte20.

Zugleich war der territoriale Konflikt omnipräsent, wovon unzählige gewaltsame Zusammenstöße Zeugnis ablegen. Schließlich war mit der Exklave ein strategisch wichtiger Knotenpunkt im marokkanischen Gebiet dauerhaft spanisch besetzt, was nicht nur den marokkanischen Staat im All-gemeinen, sondern auch die Riffbewohner im Besonderen immer wieder zu (Rück-)Eroberungsversuchen motivierte. Auf der anderen Seite gehörten bewaffnete Einsätze mit dem Ziel der Sicherstellung von Waffen oder der Zerstörung berberischer Stützpunkte zur spanischen Verteidigungsstrate-gie der Exklave und damit zum Alltag der Bevölkerung vor Ort. Eine reli-giöse Aufladung der Konflikte wurde auch semantisch begünstigt, indem beispielsweise das Gebiet jenseits der Grenze von den Spaniern als »Gebiet der Ungläubigen« (»campo infiel«), als »Gebiet der Muslime« (»campo mu- sulmán«) oder »Gebiet der moros« (»campo moro«) bezeichnet, die territori-ale Grenze also als identisch mit der ethnischen und religiösen Grenze ver-standen und definiert wurde.

Bei dem Gebiet jenseits der Grenze handelte es sich um das von sesshaf-ten Berbern bewohnte östliche Riffgebiet. Die dort ansässigen Angehöri-gen der Qal’ aya (Tamazight: Iqar’ ayen21, in spanischen Quellen als »Gue-laya« / »Guelaia« bezeichnet), ein Zusammenschluss von fünf verschiedenen Stämmen, lebten überwiegend von der Landwirtschaft22. Hauptsprachen waren Tamazight und Arabisch, einige wenige Einwohner verfügten außer-dem aufgrund regelmäßiger Kontakte zu Spaniern über rudimentäre Spa-nischkenntnisse23. Das Riffgebiet war trotz seiner geografischen Zentrallage zwischen dem Rest Marokkos einerseits und den anderen Maghrebstaaten, dem Mittelmeerraum sowie dem osmanischen Nachbarn andererseits von einer politischen Randständigkeit und einer damit verbundenen relativen ben Francisco Merry y Coloms nach Madrid, Tanger, 26. Mai 1862, Archivo Histo-rico Nacional (im Folgenden: AHN), Exteriores, H 1638 sowie Relosillas, Catorce Meses, S. 10.

20 Vgl. hierzu Mehlmer, Grenzleben zwischen Religion und Realpolitik.

21 Vgl. David M. Hart, The Rif and the Rifians. Problems of Definition, in: The Journal of North African Studies 4 (1999), H. 2, S. 104–109, hier S. 105.

22 Vgl. Germain Ayache, Les origines de la Guerre du Rif, Paris 1981, S. 98; vgl. Carleton Coon, Tribes of the Rif, Cambridge MA 1931, S. 43. Beispielhaft zur agrarischen Lebensweise eines zentralen Berberstamms vgl. David M. Hart, The Aith Waryag-har of the Moroccan Rif. An Ethnography and History, Tucson 1976, S. 48–63.

23 Vgl. Manuel Juan Diana, Un prisionero en el Rif. Memorias del Ayudante Álvarez, Madrid 1859, S. 19. Ähnliches stellte Juan José Relosillas für die Berber um Ceuta fest, vgl. Relosillas, Catorce meses, S. 147.

Autonomie geprägt24. Des Weiteren kennzeichnete die Region der Grenzcha-rakter gegenüber dem »dār al-harb«, dem als »Gebiet [»Haus«] des Krieges«

bezeichneten nicht-muslimischen Teil der Welt25, was sich unter anderem in der besonderen Bereitschaft der Riffberber zum Kampf gegen christliche Invasoren widerspiegelte26. Die Verdrängung maurischer Herrscher von der Iberischen Halbinsel und die Eroberung zentraler marokkanischer Küs-tenstädte, die Etablierung eines »katholischen Königtums« in Spanien und die Ausweisung nichtkatholischer Untertanen im 15. und 16. Jahrhundert bedingten nicht nur Migrationsbewegungen von Juden und Muslimen in Richtung Marokko, sondern förderten auch dort eine gewisse Tradition der Feindschaft, die durch die Erinnerung an Gewalt, Vertreibung und Erobe-rung wachgehalten wurde27.

Die Verehrung lokaler Heiliger auf beiden Seiten der Grenze spiegelte diese Erinnerung wider und begünstigte sie zugleich. Der Heilige Sidi Gua-riach (AuGua-riach) beispielsweise, der von den Berbern bei Melilla verehrt wird und dessen Grab sich im unmittelbaren Grenzgebiet befindet, war, so die Legende, ein Zeitgenosse von Pablo Estopiñán, dem spanischen Eroberer Melillas, und damit Zeuge der spanischen Einnahme der Stadt Ende des 15. Jahrhunderts28. Er hatte sich zu seinen Lebzeiten auch durch seine Ein-satzbereitschaft im Kampf gegen die christlichen Invasoren ausgezeichnet,

24 Vgl. David Seddon, Moroccan Peasants. A Century of Change in the Eastern Rif 1870–1970, Folkestone 1981, S. 15. Fouad Zaïm erklärt diese Randständigkeit u.a.

mit der spanisch-portugiesischen Besetzung zentraler marokkanischer Mittelmeer-städte und der damit verbundenen Umorientierung des marokkanischen Staates auf die Atlantikküste, vgl. Fouad Zaïm, Le Maroc et son espace méditerranéen. Histoire économique et sociale, Rabat 1990. Mit dem spanischen Sieg gegen Marokko und den Gebietsabtretungen des Sultans nach 1860 begann, so die Einschätzung Ger-main Ayaches, erst die eigentliche Phase der zunehmenden Autonomie der Region, was mit der Weigerung zu Gebietsabtretungen, den Versuchen des Sultans, diese gewaltsam durchzusetzen und einem damit verbundenen Loyalitätsverlust dessel-ben einherging. Vgl. Germain Ayache, Société rifaine et pouvoir central marocain (1850–1920), in: Revue Historique 254 (1975), S. 345–370, hier S. 359f.

25 Vgl. Jacques Vignet-Zunz / Jawhar Vignet-Zunz, Sociétés de montagnes méditerra-néenes. Ouarsenis (Algérie), Jabal Al-Akhḍar (Libye), Rif (Maroc), Paris 2017, S. 201f.

sowie Rosa María de Madariaga, El Rif y el poder central: Una perspectiva histór-ica, in: Revista de Estudios Internacionales Mediterráneos (REIM) 9 (2010), S. 1–9, hier S. 2.

26 Zur Bedeutung des Dschihad für den marokkanischen Staat im Allgemeinen und das Riffgebiet im Besonderen vgl. Amira K. Bennison, Jihad and its Interpretations in Pre-Colonial Morocco. State-Society Relations during the French Conquest of Algeria, London u.a. 2002 sowie dies., Liminal States. Zum besonderen Einsatz der Riffberber im Kampf gegen europäische Invasoren vgl. Pennell, Morocco since 1830, S. 40 sowie de Madariaga, España y el Rif, S. 91f.

27 Vgl. De Madariaga, España y el Rif, S. 55f.

28 Vgl. Lucas Calderón Ruiz / Adela Ana Ponce Gómez, Itinerario místico-mágico por Ikelaia. Morabos, leyendas y tradiciones populares, in: Aldaba. Revista del Cen-tro asociado a la UNED de Melilla 16 (1991), S. 93–108, hier S. 94f.

die ihn das Leben kostete. »Nuestra Señora de la Victoria« wiederum wurde im 18. Jahrhundert zur Stadtheiligen Melillas erklärt, nachdem man ihr wie-derholt Wunder im Kampf gegen die muslimischen Nachbarn zugeschrieben hatte29. Die Priester der Exklave verpflichteten sich, im Falle kriegerischer Unternehmungen gegen die »moros« eine Messe zu Ehren der Stadtheiligen abzuhalten30. Die beiden Heiligen sind also in mehrerlei Hinsicht bedeut-sam für die Region, da ihnen nicht nur besondere Fähigkeiten und Kräfte zugeschrieben wurden, sondern durch ihre Verehrung gleichsam die Erin-nerung an den jahrhundertealten Kampf gegen den Nachbarn wachgehalten wurde. Sie lassen sich also als lokale religiöse Verkörperung der territoria-len und militärischen Auseinandersetzung zwischen marokkanischen und spanischen bzw. muslimischen und christlichen Nachbarn verstehen und damit als Sinnbild der Verschmelzung des territorialen Konflikts mit religi-ösen Elementen.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die besondere Lage der Region eklatant das Zusammenleben im Grenzgebiet bestimmte. Die geo-grafische Randständigkeit bedingte eine relative Handlungsautonomie loka-ler Autoritäten im Hinblick auf den jeweiligen Zentralstaat, zugleich aber die Selbstwahrnehmung als Vorposten und damit Verteidiger nicht nur des eigenen Staates, sondern auch der eigenen Kultur und Religion. Gleichzeitig ermöglichte und erzwang eben jene Randständigkeit ein gewisses Maß an, vor allem wirtschaftlicher Kooperation und friedlicher Koexistenz.

Mit der Unterzeichnung des spanisch-marokkanischen »Friedens- und

Mit der Unterzeichnung des spanisch-marokkanischen »Friedens- und

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