Entsprechend der in Kapitel II 2.2 beschriebenen modelltheoretischen Zuordnungsdebatte sind es in erster Linie das retrospektive (episodische) Gedächtnis und die exekutiven Funkti‐
onen, denen eine wesentliche Beteiligung an prospektiven Gedächtnisleistungen zugespro‐
chen wird.
2.5.1 Retrospektives Gedächtnis
Jede prospektive Gedächtnisleistung beinhaltet eine prospektive und eine retrospektive Komponente. Wie bereits in Kapitel II 2.3 erläutert, ist das Speichern des Intentionsinhalts
der retrospektiven Komponente zuzuordnen; zum richtigen Zeitpunkt an die Umsetzung der Absicht zu denken hingegen der prospektiven Komponente (Einstein & Mc Daniel, 1990;
Einstein et al., 1992). Versagt das retrospektive Gedächtnis (die retrospektive Komponente), kann die Intention nicht umgesetzt werden. Dies passiert etwa dann, wenn die Beanspru‐
chung des retrospektiven Gedächtnisses sehr hoch ist (bei sehr vielen oder sehr komplexen zu merkenden Intentionen), kann zuweilen jedoch auch bei einfachen Aufgaben passieren (z.B. wenn man in die Küche geht, um sich ein Glas zu holen und dann dort ankommt und nicht mehr weiß, was man tun wollte).
Der postulierte Zusammenhang zwischen prospektivem und retrospektivem Gedächtnis findet empirisch jedoch nur bedingt Unterstützung. In einigen Studien an Kindern konnte ein Zusammenhang zwischen prospektivem und retrospektivem Gedächtnis nachgewiesen wer‐
den (z.B. Guajardo & Best, 2000; Martin & Kliegel, 2003; vgl. jedoch auch Kvavilashvili, Mes‐
ser & Ebdon, 2001 für gegenteilige Befunde) und auch bei klinischen Stichproben wurden des Öfteren Korrelationen gefunden (z.B. Knight et al., 2005 oder Schmitter‐Edgecombe &
Wright, 2004). Bei gesunden Erwachsenen hingegen zeigt sich diese Beziehung weitaus sel‐
tener. Zwar wird vereinzelt über Korrelationen zwischen retrospektivem und prospektivem Gedächtnis berichtet (z.B. Tombaugh, Grandmaison & Schmidt, 1995), aber demgegenüber steht eine größere Anzahl an Studien, die keinen Zusammenhang nachweisen konnten. Bei‐
spielsweise fanden Einstein & McDaniel (1990) keinerlei Korrelationen zwischen Aufgaben des prospektiven und des retrospektiven Gedächtnisses. McDaniel, Glisky, Rubin, Guynn und Rothieaux (1999) konnten zwischen Probanden mit einem guten retrospektiven Gedächtnis und Probanden mit einem schlechten retrospektiven Gedächtnis keine Unterschiede hin‐
sichtlich der Performanz bei prospektiven Gedächtnisaufgaben finden. Auch Kliegel, Storck, Martin, Ramuschkat und Zimprich (2003) berichten, dass das retrospektive Gedächtnis kei‐
nen signifikanten Beitrag zur Aufklärung der altersbezogenen Varianz in einer komplexen prospektiven Gedächtnisaufgabe leistete.
Trotz dieser unklaren Befundlage ist dem retrospektiven Gedächtnis zumindest eine basale Rolle bei prospektiven Gedächtnisprozessen nicht abzusprechen. So wird eine Person mit einer anterograden Amnesie nicht in der Lage sein, prospektive Gedächtnisaufgaben zu be‐
wältigen, da sie die Intentionen nicht speichern kann. Ein Mindestmaß an retrospektiver
Gedächtnisfähigkeit ist somit eine notwendige (nicht aber hinreichende) Bedingung für pro‐
spektive Gedächtnisleistungen (vgl. auch Kopp & Thöne‐Otto, 2003). Davon abgesehen je‐
doch ist die Rolle des retrospektiven Gedächtnisses an prospektiven Gedächtnisprozessen noch nicht geklärt und die Frage, ob es (lineare) Zusammenhänge zwischen prospektivem und retrospektivem Gedächtnis gibt, kann noch nicht eindeutig beantwortet werden.
2.5.2 Exkurs: Arbeitsgedächtnis, exekutive Funktionen und Aufmerksamkeit
Bevor auf die Rolle der exekutiven Funktionen bei prospektiven Gedächtnisleistungen ein‐
gegangen wird, soll kurz soll noch eine begriffliche Klärung vorgenommen werden. Exekuti‐
ve Funktionen, Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeitsprozesse sind miteinander verwand‐
te Konstrukte, deren wechselseitige Beziehungen im Folgenden skizziert werden sollen.
Ausgehend von Baddeleys Arbeitsgedächtnismodell (2000) lassen sich vier Komponenten des Arbeitsgedächtnisses unterscheiden. Während drei dieser Komponenten (phonologische Schleife, visuell‐räumlicher Notizblock, episodischer Speicher) untergeordnete Systeme dar‐
stellen, gibt es eine übergeordnete Instanz, die zentrale Exekutive, die das Zusammenspiel der anderen Komponenten koordiniert und kontrolliert und die den Zugriff auf das Langzeit‐
gedächtnis regelt. Diese zentrale Exekutive stellt ein begrenztes Aufmerksamkeitssystem dar und spielt bei verschiedensten Prozessen wie z.B. Inhibition irrelevanter Informationen, Koordination verschiedener Tätigkeiten, Strategieanwendung oder Unterdrückung domi‐
nanter Reaktionstendenzen eine Rolle (Baddeley, 1996). Das Konzept der exekutiven Funk‐
tionen gleicht dem der zentralen Exekutive (wie auch schon die namentliche Ähnlichkeit vermuten lässt) in wesentlichen Aspekten. Auch das Konstrukt der exekutiven Funktionen bezieht sich auf Prozesse wie die oben beschriebenen (Burgess & Shallice, 1996; Godefroy, 2003; Robbins, 1996) und auch hier spielen Aufmerksamkeitsleistungen eine zentrale Rolle.
Bei beiden Konzepten wurde auf dasselbe theoretische Modell zurückgegriffen, um die Aufmerksamkeitsprozesse näher darzustellen: auf das Modell des supervisory attentional system (SAS) von Norman und Shallice (1986).
Norman und Shallice unterscheiden eine automatische (nicht von einer zentralen Instanz überwachte) Form der Handlungssteuerung von einer nicht‐automatischen, aufmerksam‐
keitsabhängigen Handlungssteuerung. Die automatische Handlungssteuerung (contention scheduling) beschreibt die Routineauswahl von Operationen, mit der gut gelernte Handlun‐
gen schnell und sicher ausgeführt werden. Die aufmerksamkeitsgesteuerte Handlungs‐
kontrolle (die vom SAS übernommen wird) kommt dann zum Einsatz, wenn eine Situation ein neues Verhalten erfordert, wenn die Anforderungen komplex sind (z.B. bei Dual‐Task‐
Aufgaben) oder wenn die Kontrolle oder Unterdrückung dominanter Schemata angebracht ist. Diese aufmerksamkeitssteuernde Funktion des SAS wird als wesentliches Merkmal so‐
wohl der zentralen Exekutive als auch der exekutiven Funktionen angesehen. Obgleich das SAS‐Modell nicht das einzige theoretische Modell ist, welches zur Beschreibung der exekuti‐
ven Funktionen herangezogen wird (vgl. z.B. die Theorie der somatischen Marker von Da‐
masio, Tranel & Damasio, 1991), bleibt doch festzuhalten, dass die zentrale Exekutive (als eine Komponente des Arbeitsgedächtnisses) und die exekutiven Funktionen sehr ähnliche Konzepte darstellen, die sich auf ähnliche Prozesse beziehen und die beide mit Aufmerk‐
samkeitsprozessen assoziiert sind.
2.5.3 Exekutive Funktionen
In den letzten Jahren wurde das prospektive Gedächtnis mehr und mehr im Kontext der exekutiven Funktionen diskutiert. Beispielsweise betont Ellis (1996), dass verschiedene exe‐
kutive Prozesse, wie z.B. Planungsfähigkeiten, Monitorverhalten und Hemmung anderer Tätigkeiten an prospektiven Gedächtnisleistungen beteiligt sind. Davon ausgehend, dass die Aufmerksamkeitssteuerung einen Schwerpunkt der exekutiven Funktionen darstellt (vgl.
Kapitel II 2.5.2), erscheint es in Anbetracht der mit anderen Tätigkeiten gefüllten Retentions‐
intervalle sinnvoll, den exekutiven Funktionen eine entscheidende Rolle bei prospektiven Gedächtnisprozessen zuzuweisen. In ähnlicher Weise argumentieren Martin und Schuh‐
mann‐Hengsteler (2001), die sich auf das Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley beziehen und insbesondere drei Funktionen der zentralen Exekutive hervorheben, die ihrer Meinung nach bei prospektiven Gedächtnisleistungen eine Rolle spielen: 1. Koordination verschiede‐
ner Aufgaben, 2. Unterdrückung irrelevanter Informationen, 3. Zugriff auf das Langzeitge‐
dächtnis.
Diese theoretisch postulierten Zusammenhänge finden auch empirische Unterstützung. In verschiedenen Studien konnten Korrelationen zwischen prospektivem Gedächtnis und exe‐
kutiven Funktionsleistungen nachgewiesen werden. Beispielsweise fanden Martin und Schuhmann‐Hengsteler (2001) heraus, dass die Fähigkeit, irrelevante Reize zu unterdrücken
(inhibitorische Effizienz), in Zusammenhang mit der prospektiven Gedächtnisleistung steht.
Marsh und Hicks (1998) fanden Hinweise darauf, dass Planungsfähigkeit und Monitorverhal‐
ten wesentlich an prospektiven Gedächtnisaufgaben beteiligt sind. Auch in Studien an hirn‐
geschädigten Patienten konnten Zusammenhänge zwischen prospektivem Gedächtnis und verschiedenen exekutiven Funktionen gefunden werden (Groot et al., 2002; Kopp & Thöne‐
Otto, 2003). Darüber hinaus konnten McDaniel und Mitarbeiter (1999) bei einer Gruppe älterer Probanden zeigen, dass Probanden mit exekutiven Defiziten schlechtere prospektive Gedächtnisleistungen aufwiesen als diejenigen ohne exekutive Defizite (unabhängig von ihren jeweiligen retrospektiven Gedächtnisfähigkeiten). Studien von Kliegel und Mitarbei‐
tern (2003a, 2003b) zufolge scheint die altersbezogene Varianz in prospektiven Gedächtnis‐
leistungen zu einem großen Teil durch die Varianz in exekutiven Funktionen vorhergesagt werden zu können. Ereignis‐ und zeitbasierte Aufgaben scheinen von unterschiedlichen exekutiven Funktionen abzuhängen. So erwies sich in der Studie von Kliegel und Mitarbei‐
tern (2003a) die Inhibitionsfähigkeit als der beste Prädiktor für die ereignisbasierte prospek‐
tive Gedächtnisleistung und die kognitive Flexibilität als der beste Prädiktor für die zeitba‐
sierte prospektive Gedächtnisleistung. Darüber hinaus erfordern die unterschiedlichen Pha‐
sen des prospektiven Gedächtnisprozesses (vgl. Kapitel II 2.4.4) vermutlich ein unterschiedli‐
ches Ausmaß bzw. unterschiedliche Arten von exekutiven Prozessen (Kliegel et al., 2002).
Mit zunehmender Komplexität der prospektiven Gedächtnisaufgaben scheint der Einfluss der exekutiven Funktionen zuzunehmen (Martin, Kliegel & McDaniel, 2003).
Insgesamt scheint der Beitrag der exekutiven Funktionen an prospektiven Gedächtnisleis‐
tungen sowohl theoretisch als auch empirisch gut gesichert. Hinsichtlich der spezifischen Beiträge der einzelnen exekutiven Funktionen zu ereignis‐ und zeitbasierten Aufgaben be‐
steht allerdings noch Forschungsbedarf. Aufgrund der großen Vielfalt an Tests zur Erfassung exekutiver Funktionen (wie auch der Vielfalt an prospektiven Gedächtnisaufgaben) wird es allerdings schwierig werden, die Ergebnisse zu integrieren.