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5. Diskussion

5.3. Klinische Bedeutung und Ausblick für zukünftige Forschung

Trotz der Tatsache, dass die untersuchten Tests zur Emotionserkennung insgesamt keine signifikanten Unterschiede in der Exaktheit der Erkennungsleistung aufweisen und bezüglich der durchschnittlichen Reaktionszeiten nicht der erwartete Effekt eingetreten ist, können sie möglicherweise trotzdem einen additiven Nutzen in der Diagnostik und Therapie von ASS bieten. Der Einsatz von kurz dargebotenen sozialen Stimuli scheint auf der Grundlage der vorhandenen Hypothesen zur Emotionserkennung bei ASS nach wie vor gerechtfertigt. Es ist zu vermuten, dass die von Neurotypischen abweichende implizite Verarbeitung sozialer Stimuli in der Entwicklung, wie die bereits früh auftretende eingeschränkte Antwort auf soziale Stimuli bei ASS (Elsabbagh et al. 2012b), zu Defiziten im impliziten System im Erwachsenenalter führt. Allerdings bedarf es der theoretischen

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Trennung in ein implizites und ein explizites System der sozialen Kognition weiterhin an eindeutigen empirischen Belegen, um dieses Konzept hinsichtlich der Defizite sozialer Kognition bei ASS erfolgreich anwenden zu können. Des Weiteren können die untersuchten Testverfahren vermutlich nicht zur sicheren Detektion autistischer Merkmale in der klinischen Diagnostik des Einzelnen genutzt werden und erfordern auch weiterhin Forschungsbedarf hinsichtlich möglicher Modulationen der einzelnen Verfahren. Eine weitere Verkürzung der Stimuli ist aufgrund des vermutlich bereits in dieser Studie aufgetretenen Phänomens eines

„speed-accuracy tradeoffs“ kritisch zu hinterfragen. Der Einsatz von Fotos mit sozialen Szenen in kurzer Darbietung erscheint wiederum vielversprechend, da signifikante Unterschiede in der Interpretation und Bewertung der Szenen zwischen den beiden Gruppen festgestellt wurden. Jedoch ist ein Nutzen in der klinischen Praxis unsicher, da vor allem die Bewertung von Bildbeschreibungen nicht computerbasiert erfolgen kann und einen hohen zeitlichen Aufwand für die Durchführenden darstellt.

Für die Entwicklung von Untersuchungsinstrumenten, die Defizite in sozialer Kognition bei ASS aufdecken können und zum Einsatz in der Diagnostik geeignet sind, werden weiterhin umfassendere sowie schlüssigere Ergebnisse wissenschaftlicher Studien benötigt. Erschwerend zur inkonsistenten Studienlage kommt außerdem hinzu, dass es bisher vorliegenden Studienergebnissen an ausreichender Vergleichbarkeit mangelt. So sind die Diagnosekriterien der ASS aktuell im Wandel, dennoch ist für die zukünftige Forschung der eindeutige Umgang mit den verschiedenen Diagnosegruppen innerhalb der Autismus-Spektrum-Störungen unerlässlich, um vergleichbare Ergebnisse zu gewährleisten. Zudem unterscheiden sich die Fähigkeiten zu Kompensationsmechanismen je nach kognitivem Niveau und Ausprägung der autistischen Symptomatik, weshalb zusätzlich eine zwischen verschiedenen Studien vergleichbare Erfassung von Intelligenzquotienten und klinischer Symptomatik mithilfe psychometrischer Tests vorgenommen werden sollte. Auch bezüglich der Erkennungsleistung der verschiedenen Basisemotionen liegen Inkonsistenzen in der Versuchsdurchführung und Datenanalyse vor, weshalb in diesem Bereich weiterhin schlüssige Forschungsergebnisse fehlen. Meist werden Ergebnisse zu einzelnen Emotionen in Studien lediglich als Teilergebnisse zur Exaktheit der Emotionserkennung insgesamt genannt. Auch werden häufig aufgrund unterschiedlicher Definitionen verschiedene Basisemotionen verwendet, was die Vergleichbarkeit zusätzlich erschwert. Dasselbe gilt für diese Studie, in der im R-RaFD und im R-DECT sechs Emotionen verwendet wurden, im R-MERT hingegen sieben, plus eine Neutralbedingung. Der zukünftige Versuch einer einheitlichen Verwendung

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von Basisemotionen in der Forschung zur Emotionserkennung bei ASS wäre daher wünschenswert. Darüber hinaus wurde in der vorliegenden Studie zur Berechnung der Exaktheit der Erkennungsleistung eine Korrektur mithilfe der „unbiased Hitrate“ in der Datenanalyse angewandt, was in den meisten anderen Studien nicht der Fall ist. Wird keine sogenannte Hu-Korrektur verwendet, kann jedoch nicht beurteilt werden, ob ein Versuchsteilnehmer eine gute Erkennungsleistung für eine Basisemotion aufweist, weil er diese tatsächlich korrekt erkennt, oder ob er beispielsweise häufig eine bestimmte Emotion (wie z.B. Freude) als Antwort wählt, obwohl er die präsentierte Emotion nicht erkannt hat.

Schlussendlich kann daraus dann eine gute Erkennungsleistung für die zufällig gewählte Emotion (in diesem Fall Freude) resultieren. Auch dies trägt dazu bei, dass sich die Erkennungsleistungen der Basisemotionen in verschiedenen Studien schwer vergleichen lassen, sodass die Anwendung einer Hu-Korrektur in künftigen Studien empfehlenswert wäre.

Außerdem wäre hinsichtlich künftiger Studien zur Emotionserkennung bei ASS auch die Verwendung von in der emotionalen Intensität variierender Stimuli interessant. Doi et al.

(Doi et al. 2013) konnten bereits zeigen, dass Gruppenunterschiede zwischen Menschen mit ASS und neurotypischer Entwicklung bei emotionalen Gesichtsausdrücken von niedriger bis mittlerer Intensität größer ausfallen. Außerdem konnten Rutherford und McIntosh (Rutherford und McIntosh 2007) belegen, dass Menschen mit ASS übertrieben dargestellte emotionale Gesichtsausdrücke häufiger als neurotypisch Entwickelte als realitätsnah einstufen. Daher wäre der Einsatz von Gesichtsausdrücken mit niedriger bis mittlerer Intensität interessant, da sie zum einen Gesichtsausdrücken im alltäglichen Leben näher stehen als solche mit sehr starker Intensität und zum anderen Personen mit ASS bei der Interpretation von Emotionen mit niedriger Intensität und der Einschätzung hinsichtlich des Realitätsbezugs möglicherweise Defizite aufweisen.

Von großer Bedeutung für die weitere Forschung ist die Erkenntnis, dass Menschen mit ASS zwar einerseits Defizite in sozialer Kognition aufweisen, andererseits aber einen individuellen Lernmechanismus entwickeln, um diese Defizite zu kompensieren (Volkmar et al. 2004). Auch im Rahmen der vorliegenden Studie ist zu vermuten, dass Personen der Gruppe hfASS durch Kompensationsstrategien Aufgaben häufiger korrekt lösen konnten, als dies zunächst erwartet wurde. Trotzdem scheinen Lücken zwischen dem erfolgreichen Lösen von expliziten Aufgaben zu sozialer Kognition und der weniger erfolgreichen Anpassung im Alltag sowie zwischen erfolgreichen umschriebenen Kompensationsmechanismen und fehlender Generalisierung dieser Mechanismen zu bestehen (Volkmar et al. 2004). Nach wie

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vor ist zudem nichts Genaues darüber bekannt, inwieweit Menschen mit ASS analytische Kompensationsstrategien hinsichtlich sozialer Kognition in ihrem alltäglichen Leben anwenden können (Grossman et al. 2000). Unter künstlichen Versuchsbedingungen wie in der vorliegenden Studie, sind Menschen mit hochfunktionalen ASS zwar durch Kompensationsstrategien dazu in der Lage, emotionale Gesichtsausdrücke häufig korrekt zu erkennen, in ihrem alltäglichen Leben scheitern sie aber oft daran, da es ihnen an intuitivem Verständnis für ihre soziale Umwelt mangelt oder sie beispielsweise gar nicht erst aufmerksam für informative soziale Stimuli wie Gesichtsausdrücke sind (Grossman et al.

2000). Daher sollte die zukünftige Forschung verbesserte Methoden zum Ziel haben, die zum einen Alltagsanforderungen realitätsnah simulieren und zum anderen die atypischen Kompensationsmechanismen erfassen können, mit denen Menschen mit ASS diesen Anforderungen begegnen (Volkmar et al. 2004). Die Ergebnisse vieler Studien, einschließlich der vorliegenden, sind inkonsistent bis widersprüchlich. Da sich die meisten Studien allerdings nur auf ihr Resultat konzentrieren, verpassen sie zuweilen die wichtigen Prozesse die zu den Ergebnissen geführt haben (Volkmar et al. 2004). Doch die genaue Charakterisierung dieser Prozesse, im Sinne der angewandten Kompensationsstrategien bei ASS, kann letztendlich genauso aufschlussreich sein (Volkmar et al. 2004). Die stellt hohe Anforderungen an zukünftige Studien und erfordert die Entwicklung innovativer, möglicherweise mehr prozess-, statt ergebnisorientierter Verfahren zur Testung sozialer Kognition bei ASS.

Ein wichtiger Punkt bei der Erforschung von ASS im Erwachsenenalter ist zudem, dass Defizite in der emotionalen Gesichtserkennung mit dem Alter im Vergleich zu neurotypisch Entwickelten an Schwere zunehmen (Lozier et al. 2014). Weiterhin korrelieren Defizite in der Emotionserkennung bei ASS mit der Schwere der Einschränkungen sozialer Interaktionen im Alltag (Boraston et al. 2007). In einer Studie von Schmidt et al. (Schmidt et al. 2015) mit Erwachsenen mit hochfunktionalen ASS berichteten die Studienteilnehmer außerdem über eine signifikant niedrigere Lebenszufriedenheit im Vergleich zu neurotypisch Entwickelten, vor allem in Bezug auf soziale Aspekte des Lebens. Gleichzeitig weisen sie einen höheren Grad an subjektiv wahrgenommenem Unvermögen in den Funktionsbereichen des Lebens auf, die ein hohes Maß an sozialer Interaktion erfordern (Schmidt et al. 2015).

Daher ist die intensive Weiterentwicklung von therapeutischen Interventionen, die die soziale Interaktionsfähigkeit von Menschen mit ASS verbessern können, ein wichtiges Forschungsziel. Eingesetzte Therapieinstrumente sind neben Psychoedukation das Training

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sozialer und kommunikativer Fähigkeiten und das Üben eines verbesserten Umgangs mit Stress in Alltagssituationen (Kramer et al. 2016). Zum Ziele einer verbesserten Emotionserkennung können Menschen mit ASS zunächst einmal darin trainiert werden, im Alltagsleben aufmerksamer für Informationen in den Gesichtern ihrer Mitmenschen zu sein (Grossman et al. 2000). Des Weiteren könnten Personen mit ASS auch mithilfe computerbasierter Programme in der emotionalen Gesichtserkennung trainiert werden, vorausgesetzt es kann ausreichend belegt werden, dass solche Strategien erfolgreich dazu genutzt werden können, um Defizite in der Emotionserkennung bei ASS zu reduzieren (Lozier et al. 2014). Die Studienlage bezüglich der Effektivität derzeit angewandter computerbasierter Programme auf emotionale und soziale Fähigkeiten bei Menschen mit ASS ist derzeit uneinheitlich und es ist unklar, inwieweit sich Trainingerfolge in den Alltag übertragen lassen (Berggren et al. 2017). Dennoch sind solche Programme vielversprechend und zukunftsweisend und könnten zu Lernerfolgen, in Kombination mit anderen nicht computerbasierten Interventionen, beitragen (Ramdoss et al. 2012). In Studien gibt es bereits Hinweise darauf, dass Menschen mit ASS sich durch das Training mit Computerprogrammen signifikant in der Erkennung emotionaler Gesichtsausdrücke verbessern können, allerdings mit bisher sehr kleinen Stichproben (Bölte et al. 2002). So ist auch die intensive Weiterentwicklung computerbasierter Programme, wie sie in der vorliegenden Studie genutzt wurden, wichtig, um diese sowohl diagnostisch als auch therapeutisch bestmöglich nutzen zu können. Die Bedeutung künftiger Forschung hinsichtlich zugrundeliegender Defizite bei der Interpretation sozialer Stimuli und darauf aufbauender Interventionen wird dadurch unterstrichen, dass die soziale Inklusion als der einzige Faktor identifiziert werden konnte, der die Lebenszufriedenheit bei Erwachsenen mit ASS beeinflusst (Schmidt et al. 2015).

Zusammenfassung und Ausblick

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