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1. Theoretischer Hintergrund

1.2. Hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen

Zu den Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zählen in erster Linie der Frühkindliche Autismus (FA), das Asperger-Syndrom (AS) sowie der atypische Autismus (AA). Die ASS zeichnen sich vor allem durch Auffälligkeiten in zwei Kategorien aus: zum einen durch qualitative Störungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation, zum anderen durch stereotype, restriktive und sich wiederholende Verhaltensweisen, Aktivitäten und Spezialinteressen (Lautenbacher 2010; Ebert und Loew 2011; Benkert et al. 2014). Die qualitativen Störungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation machen sich vor allem durch unpassendes zwischenmenschliches Verhalten, eine zum Teil monotone Sprache und fehlenden Blickkontakt sowie Schwierigkeiten bei der Interpretation nonverbaler Signale, wie emotionaler Gesichtsausdrücke oder der Sprachmelodie, bemerkbar (Tebartz van Elst 2013).

Weiter kann das klinische Bild abhängig von Autismusform und Ausprägung durch Besonderheiten in der perzeptiven Wahrnehmung, eine Ungeschicklichkeit im Bereich der Motorik, Defizite in der Abstraktion und Konzeptbildung, durch Sonderbegabungen oder Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung geprägt sein (Lautenbacher 2010).

„Hochfunktional“ bedeutet zudem in diesem Zusammenhang, dass die Intelligenz im Normbereich liegt.

Per Definition beginnen die ASS im Kindesalter, die Kernsymptomatik persistiert jedoch bis ins Erwachsenenalter, da es sich um eine Störung mit weitgehend stabiler Symptomatik handelt (Lautenbacher 2010; Ebert und Loew 2011). Der Verlauf und die Prognose werden dann vor allem durch die individuellen sozialen Lebensumstände beeinflusst, die die Symptome mehr oder weniger als Krankheitswert erscheinen lassen (Ebert und Loew 2011). Außerdem kann die Symptomatik durch therapeutische Interventionen zwar

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im Laufe der Zeit gemildert, jedoch nicht geheilt werden (Lautenbacher 2010). Bezüglich der Diagnostik gibt es keine unterschiedlichen Kriterien je nach Altersgruppe. Aus der klinischen Erfahrung ist jedoch offensichtlich, dass es je nach Altersgruppe durchaus Unterschiede gibt, wie sich Menschen mit ASS klinisch präsentieren (Tebartz van Elst 2013). Oft bleiben Stereotypien, Spezialinteressen und eine Rigidität in den Alltagsabläufen bestehen, während andere Symptome des Kindesalters in den Hintergrund treten können (Ebert und Loew 2011).

Gründe für eine späte Diagnose einer ASS können eine im Vergleich mild ausgeprägte Symptomatik, eine gut strukturierte und stabile soziale Unterstützung, ein höheres Intelligenzniveau sowie besser ausgeprägte kognitive Kompensationsleistungen sein (Lehnhardt et al. 2013; Tebartz van Elst 2013). In Verbindung mit guten sprachlichen Kompetenzen sowie der Fähigkeit zur Selbstreflexion kann ein oberflächlich unauffälliges psychosoziales Funktionsniveau resultieren, indem die Betroffenen Defizite durch kognitiv erlernte und situationsbezogene soziale Regeln verbergen (Lehnhardt et al. 2013). Zum Beispiel können Fähigkeiten zu Blickkontakt, Stimmmodulation oder „small talk“ von Menschen mit ASS erlernt werden (Ebert und Loew 2011). Diese Kompensationsmechanismen sind allerdings im Vergleich zu gesunden Erwachsenen nicht intuitiv und in ihrer Anwendung situationsgebunden und starr (Lehnhardt et al. 2013). Auch schwerwiegende Einschränkungen in der sozialen Interaktion, beispielsweise in Telefongesprächen oder beruflichen Besprechungen, können bestehen bleiben und werden dann im Erwachsenenalter in der Lebensführung zunehmend relevant (Ebert und Loew 2011).

In der Folge meiden die Betroffenen soziale Interaktionen und ziehen sich zurück, bis hin zur sozialen Isolation (Ebert und Loew 2011). Oft kann auch die Vielzahl sozialer Regeln und Normen von Menschen mit ASS nicht nachvollzogen werden, was sie für die Außenwelt durch Missachtung dieser Regeln als querulatorische oder exzentrische Persönlichkeiten erscheinen lässt (Ebert und Loew 2011). Dazu trägt auch bei, dass Erwartungen nach geregelten und gleichbleibenden Abläufen im Alltag für Außenstehende sehr unflexibel und rigide wirken und schwer nachvollziehbar sind (Tebartz van Elst 2013).

Nach ICD-10 (World Health Organization 2004) zählen zu den Hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störungen die Diagnosen Frühkindlicher Autismus (ICD-10: F84.0), Atypischer Autismus (ICD-10: F84.1) sowie Asperger-Syndrom (ICD-10: F84.5) aus der Gruppe der Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. In den letzten Jahren ist außerdem zunehmend der Begriff des „High Functioning Autism“ (deutsch: Autismus mit hohem Funktionsniveau) im Gespräch. Bisweilen ist allerdings noch umstritten, ob es sich um eine

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eigene diagnostische Einheit handelt. Daher existiert bisher in der ICD-10 keine Möglichkeit einer Klassifikation (Möller et al. 2009). Der High Functioning Autism (HFA) stellt eine Unterform des Frühkindlichen Autismus mit höherem kognitivem Entwicklungsniveau dar.

Bislang ist er allerdings diagnostisch vor allem schwer vom Asperger-Syndrom zu trennen und es stellt sich die Frage, ob sich die beiden Störungsbilder überhaupt eindeutig voneinander abgrenzen lassen oder vielmehr verschieden akzentuierte Varianten desselben Störungsbildes darstellen (Lautenbacher 2010). Der HFA ist vor allem durch folgende Merkmale gekennzeichnet: seltenere Möglichkeit einer eindeutigen frühen Diagnose wie beim frühkindlichen Autismus, seltenere Ausbildung von schweren Intelligenzminderungen, schwere Störungen der Kommunikationsfähigkeit sowie häufige zusätzliche Symptome, die den Rang von Komorbiditäten erreichen können (Möller et al. 2009). Aufgrund der Verwendung des Begriffs des HFA in unterschiedlichen Kontexten wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der HFA weiterhin schwer von den Unterformen der ASS abgrenzbar ist.

Der neuen Systematik der Autismus-Spektrum-Störungen im DSM-5 (American Psychiatric Association 2015) und in der ICD-11 (World Health Organization 2016) liegt die Auffassung zugrunde, dass sich die verschiedenen Störungsbilder zum Teil nur schwer voneinander abgrenzen lassen, da sie sich auf einem fortlaufendem Spektrum bewegen und fließend ineinander übergehen können (Lautenbacher 2010). Das heißt, die verschiedenen Subentitäten unterscheiden sich vor allem in ihrer Quantität voneinander, nicht jedoch in ihrer Qualität. Durch dieses Konzept wird der Auffassung des heutigen Forschungsstands Rechnung getragen, dass die Diagnosen der ASS nicht mehr als rein kategorial, sondern vielmehr als dimensional gesehen werden (Domes et al. 2008). So wurden in der 2013 erschienenen DSM-5 der American Psychiatric Association die Diagnosen Autismus, atypischer Autismus, Asperger-Syndrom und nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung entfernt und durch die einheitliche Diagnose Autismus-Spektrum-Störung ersetzt (American Psychiatric Association 2013). Statt der früheren Symptom-Trias (Störungen der sozialen Interaktion, Störungen der Kommunikation, atypische Verhaltensmuster) existieren nun nur noch zwei Symptom-Bereiche, die für die Diagnostik erfüllt werden müssen: Störungen der sozialen Interaktion und sozialen Kommunikation wurden zu Kriterium A zusammengefasst, während begrenzte, repetitive Verhaltensmuster nun das Kriterium B bilden (McPartland et al. 2012). Im Kriterium B sind nun auch sensorische Abnormalitäten inbegriffen, die im DSM-4 nicht enthalten waren (McPartland et

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al. 2012). Außerdem kann der Schweregrad bzw. das Funktionsniveau für beide Domänen in 3 dimensionalen Stufen näher klassifiziert werden (Carpenter 2013). Das weitere Kriterium C legt fest, dass die Symptomatik bereits während der Entwicklung beginnt, eventuell aber erst später erkannt oder manifest wird, und das Kriterium D ist erfüllt, wenn die Symptomatik eine bedeutsame Funktionsbeeinträchtigung im Alltag bzw. der Lebensführung mit sich bringt (Carpenter 2013). Die neuen Diagnose-Kriterien des DSM-5 sollen den dimensionalen Charakter der ASS unterstreichen und zu einer verbesserten Diagnostik und somit auch Unterstützung der Betroffenen beitragen, ohne signifikante Veränderungen der derzeitigen Prävalenz (American Psychiatric Association 2013; Lai et al. 2014).

Die weltweite Prävalenz von ASS beträgt ca. 0,62-0,7 % (Elsabbagh et al. 2012a), wobei es auch Schätzungen gibt, denen zufolge etwa 1-2 % der Weltbevölkerung an autistischen Störungen leiden (Kim et al. 2011). Eine ähnliche Prävalenz kann allein für Erwachsene angenommen werden (Brugha et al. 2011). Dabei steigt die Prävalenz stetig, ohne dass eine Zunahme von Risikofaktoren festgestellt werden kann, weswegen die steigende Prävalenz wahrscheinlich vor allem auf Änderungen in der Diagnostik und ein verbessertes Bewusstsein für die Betroffenen zurückzuführen ist (Elsabbagh et al. 2012a). Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass die zunehmende Prävalenz nicht vollständig durch Veränderungen in Diagnostik und Bewusstsein für ASS oder soziale Faktoren erklärt werden kann und weitere bisher unbekannte Faktoren existieren (Weintraub 2011). Insgesamt sind zwei- bis dreimal mehr Männer als Frauen von autistischen Störungsbildern betroffen (Kim et al. 2011), wobei es Hinweise dafür gibt, dass Autismus bei Frauen seltener erkannt wird (Baron-Cohen et al. 2011). Ätiologisch wird genetischen Ursachen eine Schlüsselrolle zugeschrieben (Lai et al. 2014). So konnte in Zwillingsstudien eine Heritabilität von über 80%

nachgewiesen werden (Ronald und Hoekstra 2011). Die Heritabilität muss dabei in Zusammenhang mit Umweltfaktoren und einer Gen-Umwelt-Interaktion betrachtet werden (Corrales und Herbert 2011), da die Konkordanz bei monozygoten Zwillingen nie 100%

erreicht (Lai et al. 2014). Auf neurobiologischer Ebene finden sich zudem in Hirnarealen, die für die soziale Interaktion von Bedeutung sind, wie Amygdala, Hippocampus, Gyrus cingularis, Septum und Kleinhirn, ein vermindertes Volumen und eine reduzierte Anzahl von Neuronen und dendritischen Verbindungen, bei einem gleichzeitig insgesamt vergrößertem Volumen des Gehirn (Ebert und Loew 2011).

Des Weiteren sind psychiatrische Komorbiditäten bei Menschen mit ASS häufig. So konnten Lever und Geurts (Lever und Geurts 2016) in einer Studie zeigen, dass 79% der

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Erwachsenen mit ASS zeit ihres Lebens zumindest einmal die diagnostischen Kriterien einer psychiatrischen Erkrankung erfüllen, wohingegen dies nur bei 48.8% der Personen ohne ASS in der Kontrollgruppe der Fall war. In einer Studie von Hofvander et al. (Hofvander et al.

2009) konnte sogar bei allen Studienteilnehmenden mit Asperger-Syndrom eine Diagnose mindestens einer komorbiden psychiatrischen Erkrankung gestellt werden. Unter den Erwachsenen mit ASS sind dabei affektive Störungen (57%) die häufigsten psychiatrischen Erkrankungen, wobei depressive Störungen (53.6%) und Dysthymien (18.1%) in dieser Kategorie inbegriffen sind (Lever und Geurts 2016). Am zweithäufigsten sind Angststörungen (54%), die häufig auch gleichzeitig mit affektiven Störungen auftreten. Zudem leiden 30% der Erwachsenen mit ASS an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (Lever und Geurts 2016). Menschen mit Asperger-Syndrom sind außerdem häufig an chronischen Tic-Stöungen (21%) sowie psychotischen Störungen (15%) erkrankt (Hofvander et al. 2009).

Differenzialdiagnostisch sind Angst- und Zwangsstörungen, Schizophrenien und schizotype Störungen sowie die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung von Bedeutung, wenn eine ASS im Erwachsenenalter diagnostiziert wird (Ebert und Loew 2011). Außerdem bereitet auch die differenzialdiagnostische Abwägung zwischen ASS und Persönlichkeitsstörungen häufig Schwierigkeiten. Strunz et. al (Strunz et al. 2015) untersuchten dazu in einer Studie Persönlichkeitszüge und pathologische Persönlichkeitsmerkmale, die spezifisch für Erwachsene mit ASS sind. Dabei konnte gezeigt werden, dass Erwachsene mit ASS ohne Intelligenzminderung ein Persönlichkeitsprofil aufweisen, das sich von allen anderen in der Studie untersuchten Gruppen (Erwachsene mit narzisstischer oder emotional-impulsiver Persönlichkeitsstörung, Erwachsene ohne psychiatrische Erkrankung) unterscheidet.

Beispielsweise erreichten Menschen mit ASS eine signifikant niedrigere Punktzahl bezüglich der Persönlichkeitszüge Extraversion und Offenheit und eine signifikant höhere Punktzahl bezüglich des Persönlichkeitsmerkmals Zwanghaftigkeit. Dabei erfüllten 45% der in der Studie untersuchten Patienten mit ASS die Diagnosekriterien für eine Persönlichkeitsstörung nach DSM-4. In einer Studie von Hofvander et al. (Hofvander et al. 2009) konnte sogar bei 68% der Studienteilnehmenden mit Asperger-Syndrom eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden. Am häufigsten sind dabei zwanghafte, schizoide und ängstliche Persönlichkeitsstörungen (Hofvander et al. 2009; Strunz et al. 2015).

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