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3. Die „feinen Unterschiede“ und die Reproduktion sozialer Ungleichheit nach dem Habitus-

3.2. Strukturkategorien des Habitus

3.2.2. Klasse und Habitus

Wie bereits erwähnt, kommt dem Habitus eine „missing-link“ Funktion zu, da er dazu beiträgt, abstrakte Begriffe wie Klasse und soziale Ungleichheit „sichtbar“ und somit messbar zu machen, da er Praxisformen erzeugt und repräsentiert.181

Die Kategorie der sozialen Klasse bezieht sich auf „vertikale soziale Ungleichheiten, das heißt auf die ungleiche Teilhabe verschiedener Gruppen der Bevölkerung am gesellschaftlichen Reichtum und auf die Ungleichheit in der Beteiligung an gesellschaftlichen Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen.“182

Nach Bourdieus Verständnis existieren Klassen nur, wenn sie im alltäglichen Leben erhalten und reproduziert werden.

Ausgehend vom sozialen Raum ist das Kriterium für soziale Unterscheidungen einerseits das Verfügen über ökonomisches und kulturelles Kapital, andererseits die soziale Stellung, beziehungsweise die „Laufbahn“ der Individuen. Von besonderem Interesse sind neben dem

178 Bourdieu, Pierre: „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ Frankfurt am Main, 1987, S. 182.

179 Ebd. S. 184-185.

180 Ebd. S. 184.

181 Das Habituskonzept entstand aus empirischen Forschungsfragen, was es zu einem relativ offenen Konzept macht, das, je nach Forschungs- und Argumentationszugang unterschiedliche Akzente haben kann. (Vgl.: Schwingel, Markus: „Bourdieu zur Einführung“ Hamburg, 1995, S. 53.)

182 Krais, Beate; Gebauer, Gunter: „Habitus“ Bielefeld, 2002, S. 35.

aktuellen sozialen Status auch Vergangenheit und Zukunft einer Gruppe oder eines Individuums.183

Bourdieu verknüpft den Zusammenhang zwischen Klassenlage und Lebensführung, also Geschmack, Sichtweisen sowie der sozialen Praxis. „So lange Unterschiede in der Kapitalausstattung und den materiellen Existenzbedingungen sich nicht in der Lebensführung äußern und daher auch nicht wahrgenommen werden, mehr noch: nicht im sozialen Handeln hergestellt werden“ sind sie bloße soziologische Konstrukte.184 Den Beweis zur realen Existenz von Klassen erbringt Bourdieu mittels des Habitus:

„(…) der Habitus ist das Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: die Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten, der Raum der Lebensstile.“185

Lebensart, Geschmack, Freizeitverhalten und Konsumgewohnheiten sind beispielsweise habitusgenerierte, sichtbare Klassenmerkmale die aufgrund unterschiedlicher Lebensbedingungen und damit verbundener Möglichkeiten entstehen. Nach Bourdieu sind diese Lebensstile „systematische Produkte des Habitus“186, sie zeigen die soziale Differenz.

Der Habitus schafft also im Sinne einer „Erzeugungsformel“ die Verbindung zwischen den verfügbaren Kapitalsorten und den „mit der entsprechenden Position im Raum der Lebensstile verbundenen Unterscheidungsmerkmale“187 die sich in Geschmack, Lebensstil oder Freizeitverhalten äußern.188

Der Habitus ist „sozialstrukturell bedingt“, das heißt, er entwickelt sich je nach sozialer Klasse, die ein Akteur „innerhalb der gesellschaftlichen Struktur innehat“ materiell und kulturell beeinflusst, anders. „Diese Bedingungen sind, zumindest in modernen, differenzierten Gesellschaften, ungleich, nämlich klassenspezifisch verteilt.“189

183 Krais, Beate; Gebauer, Gunter: „Habitus“ Bielefeld, 2002, S.. S. 36.

184Vgl: S. 36ff.

185 Bourdieu, Pierre: „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ Frankfurt am Main, 1987, S. 277-278.

186 Ebd. S. 281.

187 Bourdieu, Pierre: „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ Frankfurt am Main, 1987, S. 278.

188 In diesem Erzeugungsprinzip vereinen sich kognitive, evaluative und motorische Schemata. (Vgl.:

Schwingel, Markus: „Bourdieu zur Einführung“ Hamburg, 1995, S. 59.)

189 Schwingel, Markus: „Bourdieu zur Einführung“ Hamburg, 1995, S. 60.

Die ungleichen Lebensbedingungen manifestieren sich in der sozialen Identität, gewinnen Kontur und bestätigen die Differenz.190

„Die über den Habitus eingelagerten Klassifikationen und Unterscheidungsprinzipien, Bewertungs- und Denkschemata schlagen sich nieder in den Praxen der Lebensführung;

vermittelt über den Habitus werden Dinge – Wohnungen, Bücher, Autos, Kleidung, Kunstgegenstände, Besitzmittel und so weiter – und die Aktivitäten – sportliche Betätigungen, kulturelle Aktivitäten, Reisen, Geselligkeiten (…) die unterschiedlichen Praktiken, Besitztümer, Meinungsäußerungen erhalten ihren sozialen Sinn also dadurch, dass sie etwas anzeigen, also soziale Unterschiede nämlich, die Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen sozialen Gruppe oder Klasse.“191

Der Habitus ist also dadurch gekennzeichnet, dass er „Handlungen, Wahrnehmungen, Beurteilungen“192 generiert.

Die durch den Habitus generierten Unterschiede in der Lebensführung zeigen soziale Unterschiede und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse an. Der Habitus beeinflusst also das Handeln und Denken der Individuen, was sich in unterschiedlichem Geschmack und Lebensstilen äußert.

Bourdieu bezeichnet den Habitus als organisierend und strukturiert, was sich auch in der eindeutig strukturierten Verteilung von Chancen durch unterschiedliche Lebensbedingungen äußert:

„In den Dispositionen des Habitus ist somit die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt. Die fundamentalen Gegensatzpaare der Struktur der Existenzbedingungen (oben/unten, reich/arm, etc.) setzen sich tendenziell als grundlegende Strukturierungsprinzipien der Praxisformen wie deren Wahrnehmung durch.“193

Nach Ansicht der Verfasserin wird an dieser Stelle deutlich, dass nicht nur die im vorangegangenen Abschnitt erläuterten Kapitalsorten klar und ungleich verteilt sind, sondern auch die Wirkungen des Habitus relativ konstant, weil klar strukturiert, zu sein scheinen. In vorangegangenem Zitat beschreibt Bourdieu, dass sich die in einer sozialen Position gemachten Erfahrungen „niederschlagen“.

190 Bourdieu, Pierre: „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ Frankfurt am Main, 1987, S. 279.

191 Krais, Beate; Gebauer, Gunter: „Habitus“ Bielefeld, 2002, S. 37.

192 Kaesler, Dirk (Hrsg.): Klassiker der Soziologie Band II. Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu“ München, 1999, S. 258.

193Bourdieu, Pierre: „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ Frankfurt am Main, 1987, S. 279.

Bourdieu bezeichnet die (ungleiche) „Verteilungsstruktur des Kapitals“ als „Bilanz eines Kräfteverhältnisses“ in einem „System wahrgenommener Differenzen“ und „distinktiver Eigenschaften“, in dem Kapital194 basierend auf der „Dialektik von sozialer Lage und Habitus“ verwandelt wird.195

Das Kräfteverhältnis könnte sich auf die bei Bourdieu häufig thematisierte Frage nach Macht und Herrschaft, beziehungsweise deren „Sicherung“ durch hohe Kapitalverfügbarkeit und kulturelles Erbe, beziehen.196 Durch die Verinnerlichung dessen, was einer Person je nach Klassenlage „zusteht“, werden bestehende Machtstrukturen und Ungleichheit reproduziert.

Durch klassenspezifische, „eingelagerte“ Erfahrungen bringt der Habitus „Orientierungen, Haltungen und Handlungsweisen hervor, die die Individuen an den ihrer Klasse vorgegebenen Ort zurückführen – sie bleiben in ihrer Klasse verhaftet und reproduzieren sie in ihren Praxen.“197

Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese eingelagerten Orientierungen und Handlungsweisen beständig oder gar nicht modifizierbar sind – Lothar Wigger bezeichnet den Habitus als „in der Sozialisation erworbenes und durch feld- und klassenspezifische Erfahrungen bestätigtes wie modifiziertes System von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“.198

„Bourdieu beschreibt den Habitus als dauerhaft, aber nicht ewig gleich, als träge, aber auch als in Grenzen wandlungsfähig.“199

Die sozialstrukturell bedingte, also klassenspezifische Ausformung des Habitus kann sich zwar verändern, ist jedoch von „einer Trägheit (oder Hysteresis) der Habitus“200 geprägt.

„In Abhängigkeit von neuen Erfahrungen ändern die Habitus sich unaufhörlich. Die Dispositionen sind einer Art ständiger Revision unterworfen, die aber niemals radikal ist, da sie sich auf der Grundlage von Voraussetzungen vollzieht, die im früheren Zustand verankert sind. Sie zeichnen sich durch eine Verbindung von Beharren und Wechsel aus, die je nach Individuum und der ihm eigenen Flexibilität oder Rigidität schwankt.“201

Nach Ansicht der Verfasserin sollte die Annahme gelten, dass der Habitus von der sozialen Herkunft zwar stark geprägt ist, im Rahmen von pädagogischen Settings jedoch Erfahrungen

194 Symbolisches und legitimes Kapital.

195 Bourdieu, Pierre: „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ Frankfurt am Main, 1987, S. 281.

196 Vgl.: Kap 3.

197Krais, Beate; Gebauer, Gunter: „Habitus“ Bielefeld, 2002, S. 37. S. 43.

198 Wigger, Lothar in: Friebertshäuser, Barbara; Rieger-Ladich, Markus; Wigger, Lothar (Hrsg.): „Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu“ Wiesbaden, 2006, S. 106.

199 Wigger, Lothar in: Friebertshäuser, Barbara; Rieger-Ladich, Markus; Wigger, Lothar (Hrsg.): „Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu“ Wiesbaden, 2006, S. 109.

200 Bourdieu, Pierre: „Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft“, Frankfurt am Main, 2001, S. 206.

201 Bourdieu, Pierre: „Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft“, Frankfurt am Main, 2001, S. 207.

und Bildungsprozesse ablaufen, die ihn positiv beeinflussen können. Die Intensität der Veränderung hängt, wie Bourdieu feststellt, vom Wesen des einzelnen Individuums ab. Eine

„radikale Veränderung“ des Habitus kann und sollte im Rahmen von Schulsozialarbeit ohnehin nicht angestrebt werden.