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2.1.4 »Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung«

2.2 Ausgewählte Gruppen

2.2.1 Kinder und Jugendliche

Ursula Schröter

Vorbemerkungen

Im 20. Jahrhundert, dem »Jahrhundert des Kindes« (Key 1903), entdeckten erst die psychologisch, dann die soziologisch und schließlich die ökonomisch For-schenden die Lebensphase Kindheit. Parallel zu diesem sozialwissenschaftlichen Interesse entwickelte sich das politisch-juristische. Das erste Dokument, das die Rechte der Kinder auf internationaler Ebene behandelte, war die »Genfer Dekla-ration« von 1924, ein Fünfpunkteprogramm, das vom damaligen Völkerbund an-erkannt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg (genau seit 1948) beschäftigte sich die inzwischen gegründete UNO mit diesem Thema und verabschiedete auf ihrer Vollversammlung am 20. November 1959 einstimmig die »Deklaration über die Rechte des Kindes«. Zwanzig Jahre später, im Internationalen Jahr des Kindes, wurde – einer Initiative Polens folgend – eine Arbeitsgruppe der UNO beauftragt, eine Konvention zu erarbeiten, die für die Unterzeichnerstaaten völkerrechtlich verbindlicher sein sollte als die Deklaration. Der Entwurf der Konvention lag im Frühjahr 1989 vor und wurde von der UNO-Generalversammlung am 20. Novem-ber 1989 bestätigt.

Alles in allem also seit reichlich 100 Jahren ein steigendes wissenschaftliches Interesse und gleichzeitig eine wachsende politische Bedeutung von Kindheit und Jugend? Der Eindruck trügt, vor allem was die politische Bedeutung betrifft.

Bestenfalls kann eine gewachsene »Sensibilität gegenüber Kinderfeindlichkeit und Kindergerechtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Kirchhöfer 1997, 16) kon-statiert werden. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, insbesondere in der Folge der 68er Bewegung, ist vielfach von »Paradoxien der Kindheit« (Qvortrup 1995) in modernen Gesellschaften gesprochen worden. Kinder würden einerseits als wichtiges, oft als wichtigstes Element im individuellen Leben bezeichnet und re-spektiert, würden im Denken jedes einzelnen Menschen hohes Ansehen genießen.

Kinderpolitik sei insofern das soziale Gewissen einer Gesellschaft, sei – so Richard von Weizsäcker – Maßstab für ihr kulturelles Niveau usw. Auf der anderen Seite steht die faktische Vernachlässigung dieser Bevölkerungsgruppe in der Politik, ste-hen auch in Deutschland Kinderfeindlichkeit und vor allem seit den 90er Jahren eine dramatische »Infantilisierung der Armut« (Hauser 1992). Paradox sei, dass moderne Gesellschaften – gemeint sind immer moderne kapitalistische Gesellschaften – scheinbar zwanghaft ihre eigene Zukunft missachten.

Wie ein Beitrag zur Paradoxie kann die Tatsache gewertet werden, dass über keine andere Gruppe so umfangreiche und so kontinuierliche Sozialberichte

vor-liegen wie über Kinder und Jugendliche. Da gibt es erstens die Berichterstattung an die UNO. Die Kinderkonvention von 1989 wurde in Deutschland 1992 ratifi-ziert und seitdem ist die deutsche Regierung verpflichtet, über ihre Erfüllung ge-genüber der UNO zu berichten. Bisher hat Deutschland zwei Berichte abgegeben, den ersten 1994, den zweiten 2001. Zum zweiten Regierungsbericht existiert ein sogenannter Schattenbericht (NGO-Bericht), der von der 1995 gegründeten »Na-tional coalition« erarbeitet wurde. Die UNO lässt keinen Zweifel daran, dass sie neben amtlicher Berichterstattung sehr an einer parallelen Berichterstattung von Nicht-Regierungs-Organisationen interessiert ist.

Da gibt es zweitens das KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz), das seit 1990 in Kraft ist und das bis dahin in der Alt-BRD geltende Jugendwohlfahrtsgesetz ab-löste, nach dem die Regierung in regelmäßigen Abständen zu nationalen Kinder-und Jugendberichten verpflichtet ist. Diese Berichte werden in aller Regel von einer Sachverständigenkommission in ehrenamtlicher Tätigkeit erarbeitet und ver-gleichsweise breit diskutiert. Es ist üblich geworden, dass solchen Sachverständi-gen-Berichten eine Stellungnahme der Regierung vorangestellt wird, in der die sozialwissenschaftlichen Ergebnisse aus Sicht der politisch Verantwortlichen ge-wertet werden. Es ist ebenfalls üblich geworden, dass nicht jeder Sachverstän-digen-Bericht das gesamte Spektrum der Kinder- und Jugendprobleme umfassen muss. So liegen gegenwärtig zwar zwölf Berichte vor, aber nur fünf von ihnen sind so genannte Gesamtberichte. Die anderen konzentrierten sich auf bestimmte und von der Regierung vorgegebene Themen. Gesamtberichte gibt es aus den Jah-ren 1965, 1968, 1975, 1990 und 2001. Das heißt, der 11. Kinder- und Jugendbe-richt vom Juli 2001 – veröffentlicht im Februar 2002 – ist der erste GesamtbeJugendbe-richt, der die Probleme und Chancen der ostdeutschen jungen Generation enthält. Er soll in diesem Kapitel auch deshalb genauer betrachtet werden, weil er erstmalig die Einordnung des Kinder- und Jugendthemas in die allgemeine Sozialberichterstat-tung explizit thematisiert. Der 12. und gegenwärtig jüngste Bericht aus dem Jahr 2005 bezieht sich speziell auf »Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule« und wird im Rahmen dieser Publikation unter dem Thema Bildung (Abschnitt 2.3.1) kommentiert.

Je nach Landesgesetzgebungen gibt es analoge Berichterstattungspflichten über die junge Generation auch auf niedrigeren kommunalen Ebenen oder auch für konkrete Regionen. So ist der Berliner Senat auf Grund des AG (Ausführungs-gesetz) KJHG ebenfalls verpflichtet, in jeder Legislaturperiode einen Bericht zur Situation der Kinder und Jugendlichen in Berlin vorzulegen. Erstmalig und bisher letztmalig wurde diese Pflicht im Jahr 2000 erfüllt.

Da gibt es drittens ein zuverlässiges Nicht-Regierungsinteresse, sogar ein Inter-esse der Wirtschaft an regelmäßiger Berichterstattung über die junge Generation.

Seit mehr als 50 Jahren stehen den an Kinder- und Jugendproblemen Interessier-ten die so genannInteressier-ten Shell-Jugendstudien zur Verfügung. Im Herbst 2006 erschien die 15. Studie dieser Art, die hier kommentiert wird. Die Shell-Studien beruhen

mehr als die amtlichen Berichte auf quantitativen und qualitativen Befragungs-ergebnissen und geben deshalb die Meinungen, Sorgen und Hoffnungen der jun-gen Generation ausführlicher wieder. Aus ostdeutscher Sicht interessieren nahe liegender Weise die Shell-Studien vor allem seit der 11. von 1992.

Seit Anfang dieses Jahrtausends stehen den an Kinder- und Jugendproblemen Interessierten außerdem die Kinderreporte des Deutsche Kinderhilfswerkes zur Verfügung. Das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) wurde bereits 1972 in Mün-chen von Unternehmern und Kaufleuten gegründet, ursprünglich mit dem vorran-gigen Ziel, die Spielplätze der damaligen Bundesrepublik zu analysieren und kin-derfreundlicher zu gestalten. Im Rückblick fällt auf, dass auch in der DDR – beginnend mit den 70er Jahren – viel Kraft aufgewandt wurde, um Spielplätze und die Versorgung mit Spielzeug zu kontrollieren und zu verbessern. So ist aus einer beispielhaft herausgegriffenen Information der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion (ABI) an den Zentralrat der FDJ (vgl. SAPMO-Akte DY 24/113865) ersichtlich, dass in zehn Bezirken der DDR 5 612 Kinderspielplätze analysiert wurden und dass dabei etwa 12 000 Kontrollkräfte der ABI über mehrere Monate hinweg im Einsatz waren. Bemerkenswert ist hier nicht nur der beträchtliche gesellschaftli-che Aufwand, sondern auch das überaus kritisgesellschaftli-che Ergebnis dieser Kontrollaktion, denn 60 Prozent der Spielplätze seien »eine ernste Gefährdung für Leben und Ge-sundheit der Kinder«. Auf 1910 Spielplätzen seien die Spielgeräte nicht unfall-sicher. Auf 2 760 Plätzen seien die Sandkästen stark verunreinigt. Für einige »be-sonders katastrophale Beispiele« wurden in der Information Ortsnamen und die Namen der Bürgermeister genannt, weil »materiell-technische Probleme oftmals nur vorgeschoben werden, die eigentlichen Ursachen aber in Gleichgültigkeit, Oberflächlichkeit und ungenügendem Verantwortungsbewusstsein« bestünden.

Deshalb wurden von den Kontrollkräften »prinzipielle Auseinandersetzungen mit den dafür zuständigen Leitern geführt«, außerdem 1798 Auflagen erteilt und sechs Disziplinarverfahren verlangt.

Über ähnliche gesellschaftspolitische Kompetenzen verfügte das DKHW ganz sicher nie, möglicherweise aber von Anfang an über mehr Geld. Festzuhalten bleibt, dass sowohl im sozialistischen als auch im kapitalistischen Teil Deutsch-lands in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein neuer (modernisier-ter?) Blick auf Kinder und ihre Lebenswelt geworfen wurde.

Bei den Kinderreporten geht es vor allem darum, mit unterschiedlichen kürze-ren Aufsätzen von Wissenschaftler/innen auf »Daten, Fakten und Hintergründe«

der deutschen Kinderpolitik aufmerksam zu machen. Im Jahr 2002 erschien die-ser Report erstmalig, im Herbst 2004 zum zweiten und bisher letzten Mal. Aus Platzgründen wird in dieser Publikation auf die Kommentierung der Kinderre-porte verzichtet und auf entsprechende ISDA-Studien verwiesen.

Zur UNO-Berichterstattung: Zweiter Bericht der Bundesrepublik Deutsch-land an die Vereinten Nationen gemäß Artikel 44, Abs. 1, Buchstabe b des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (UNO-Kinderkonvention) Der Zweitbericht, der im Jahr 2001 an die UNO geschickt wurde, versteht sich als Ergänzung zum Erstbericht von 1994 und zur umstrittenen völkerrechtlichen Er-klärung der deutschen Regierung von 1992. Auf der Grundlage dieses Erstberich-tes hatte die UNO im November 1995 in Genf eine Anhörung durchgeführt, Emp-fehlungen gegeben und Themen formuliert, »die Anlass zur Besorgnis geben«.

Auch auf diese Anhörungsergebnisse nimmt der Zweitbericht Bezug.

Zunächst ein Rückblick: Die damalige Bundesregierung hinterlegte 1992 mit der Ratifikationsurkunde bei der UNO eine völkerrechtliche Erklärung, die bis heute als »Vorbehalterklärung gegen die Kinderkonvention« bezeichnet wird.

Diese Erklärung löste damals eine Fülle von parlamentarischen und außerparla-mentarischen Debatten aus und die »intensiven Diskussionen über die Rücknahme der deutschen Erklärung zur Konvention« (Bericht 2001, 5) gelten heute als ent-scheidender Grund dafür, dass der Zweitbericht nicht planmäßig 1999, sondern erst 2001 verabschiedet werden konnte.

Die Erklärung enthält fünf »Vorbehalte«,wobei der erste als Generalklausel oder Generalvorbehalt bezeichnet wird. Im Kern geht es um die Aussage, dass das Übereinkommen innerstaatlich keine unmittelbare Anwendung findet. Mit Bezug auf diese Klausel konnte die Regierung dann 1994 in ihren Vorbemerkungen zur ersten Berichterstattung an die UNO melden, dass eine Änderung innerstaatlicher Rechtsvorschriften ... nicht erforderlich ist, d. h. dass sich die Rechtssprechung der Bundesrepublik auf der Höhe der Konvention befindet oder sogar noch darü-ber hinausgeht. Betrachtet man unter diesem Blickwinkel Artikel 2 der Konven-tion, der die gleichen Rechte für alle Kinder definiert, unabhängig von ethnischer und sozialer Herkunft oder von politischen und sonstigen Anschauungen der Eltern, und vergleicht mit Aussagen der nationalen Kinderberichte, so stellen sich erhebliche Zweifel ein. Der zweite Vorbehalt betrifft das gemeinsame Sorgerecht und hat sich mit der Reform des Kindschaftsrechtes 1998 erledigt. Der dritte Vorbehalt schränkt – bis heute – die Rechte von Minderjährigen auf einen Pflicht-verteidiger ein, falls es sich um Straftaten von geringer Schwere handelt. Der vierte Vorbehalt betont, dass das deutsche Asyl- und Ausländerrecht durch die Konvention nicht berührt (evtl. für Kinder umgangen) werden darf. Dieser Vorbe-halt steht unter besonders schwerer Kritik. Er spielte auch in der Genfer Beratung 1995 eine besondere Rolle. Hatte doch hier die UNO mit großer Sorge festge-stellt, dass in Deutschland die Festlegungen aus Artikel 3 der Konvention (Wohl des Kindes ist vorrangig zu berücksichtigen) offensichtlich nicht eingelöst wer-den. Die Bundesregierung weist im zweiten Bericht diesen Vorwurf scharf zurück, weil »in bestimmten Fällen andere Belange ... gleichgewichtig oder so-gar vorrangig zu bewerten sein können« (42). Der fünfte Vorbehalt (Einsatz von

Soldaten ab 15 Jahre) hat sich durch ein Zusatzprotokoll zur Konvention weitge-hend erledigt.

Festzuhalten ist, dass die intensive und nun schon fast 15 Jahre währende Dis-kussion um die Rücknahme der Vorbehalte bisher nicht zur Rücknahme führte.

Die rot-grüne Regierung schätzte 2001 zwar ein, »dass es aus heutiger Sicht nicht notwendig gewesen wäre, die deutsche Erklärung abzugeben« (21), dass eine Rücknahme trotzdem nicht in Betracht kommt, weil sich die Bundesländer bisher nicht mehrheitlich für die Rücknahme ausgesprochen hätten (21). Zu vermuten ist, dass die seit September 2005 amtierende Regierung noch weniger Interesse als die rot-grüne zeigen wird, die Vorbehalt-Politik Kindern gegenüber zu beenden.

Zum Rückblick auf die ersten 90er Jahre gehört auch, dass die damalige Re-gierung unter Punkt 1a des Erstberichtes (Definition des Kindes, Begriff und Al-tersgrenzen) und unter Punkt 5 a (Gesundheitliche Grundversorgung und Wohl des Kindes) einen Sachverhalt behandelt, der in der Konvention gar nicht vorkommt, nämlich den Schutz des ungeborenen Lebens. Nach der Logik der Konvention geht es ausschließlich um Geborene und deren soziale und politische Lage, wes-halb im Zweitbericht auch nur darauf Bezug genommen wird. Fragen und Ein-sprüche dieser Art hätten zweifellos in die NGO-Berichterstattung gehört, die es aber Anfang der 90er Jahre für das Kinderthema noch nicht gab.

Der Zweitbericht ist 164 Seiten lang, folgt strukturell den Vorgaben der Ver-einten Nationen (6) und ist mit dem Erstbericht (Bericht der … 1994) gut ver-gleichbar.

In den vorangestellten allgemeinen und teilweise zusammenfassenden Aussa-gen halten wir vor allem die Aussa-generelle Wertung, aber auch eine gewisse Blick-Ver-engung für problematisch. So scheut sich die Regierung ausdrücklich, einen ge-nerellen Trend, eine pauschale Aussage zur Entwicklung der Kindersituation in Deutschland 1994-1999 zu formulieren, weil die »Strömungen zu divergierend«

(8) seien. In dieser Hinsicht bewies die Kommission, die etwa zeitgleich den 11. Kinder- und Jugendbericht der Bundesrepublik erarbeitete, mehr Mut. Denn sie spricht (dort auf Seite 57) klar davon, dass die gesellschaftlichen Rahmenbe-dingungen in der Bundesrepublik den Befund einer familienunfreundlichen und kinderfeindlichen Gesellschaft verstärken. Kinderfeindlichkeit wird im hier zur Debatte stehenden Bericht nicht nur nicht bestätigt, sondern – mit Bezug auf die Jugendministerkonferenz 1998 (12) – in Abrede gestellt. Wenn elementare Kinder-rechte gefährdet seien, dann hätte das mit konkreten negativen Lebensbedingun-gen oder mit strukturell bedingten Nachteilen einzelner Kinder zu tun und nicht mit einer allgemeinen Kinderfeindlichkeit und einer generellen gesellschaftlichen Diskriminierung junger Menschen (13). So lauten zumindest die Ausführungen im Einleitungstext. In späteren Passagen (unter: Recht auf Leben, Überleben, Ent-wicklung) wird Kinderfreundlichkeit bzw. Familienfreundlichkeit dann vor allem als Forderung, als Herausforderung, als Anspruch, als Aufgabe formuliert, nicht unbedingt als Ist-Zustand in Deutschland. Charakteristisch für die Inkonsequenz

im Umgang mit Kindheit erscheint uns die folgende Aussage: »Es bleibt aber eine dauerhafte Aufgabe zu fragen, wie die Bedingungen, unter denen Kinder leben, stärker an die Bedürfnisse und Interessen von Kindern angepasst werden können.

Der Einwand, ein solches Vorgehen bevorzuge eine einzelne Bevölkerungs-gruppe, ist nicht stichhaltig. Denn zum einen besteht im Hinblick auf die Orien-tierung an Kinderbelangen ein historisch begründeter Nachholbedarf. Zum anderen profitieren von einer an Kinderinteressen ansetzenden Politik nicht nur Kinder, sondern die Gesellschaft insgesamt...« (48). Wieso besteht die Aufgabe dauerhaft?

Wieso müssen die Lebensbedingungen (nur) stärker an die Bedürfnisse angepasst werden? Mit wessen Bedürfnissen und Interessen sind die kindlichen Lebensbe-dingungen ansonsten verbunden? Gegen wessen Einwände wird hier polemisiert?

Wessen Geschichte orientierte sich nicht an Kinderbelangen? Es ist offensichtlich, dass die Subjekte der Kinderfeindlichkeit hier nicht beim Namen genannt werden sollen, dass der Kern des Problems im Dunklen bleiben soll. Eine widersprüch-liche Zielstellung, um die die Berichterstatter/innen nicht zu beneiden sind.

Als Blick-Verengung betrachten wir sowohl die nachweisbare West-Zentriertheit als auch die Erwachsenen-Zentriertheitder Berichterstattung. Dabei scheint (mir) in diesem Zusammenhang die West-Zentriertheit das geringere Problem zu sein, zumal sie im Zusammenhang mit Befragungsergebnissen partiell reflektiert wird und zumal aus anderen Forschungen abgeleitet werden kann, dass sich die kindli-chen Einstellungen zur Herkunftsfamilie, zur aktuellen Politik, zum Wohnumfeld, zur Geschlechterfrage usw. wenig nach Ost und West unterscheiden. Insofern und unterstützt durch Allbus-Recherchen (vgl. Allbus 2002/2004) ist aus Ostsicht nur an zwei der aufgeführten Indikatoren ein Fragezeichen zu setzen (10):

Fast drei Viertel aller Kinder würden sich später einmal selbst Kinder wünschen.

Dieser Anteil ist ganz sicher im Osten, vor allem bei Mädchen, höher.

Mehr als zwei Drittel der Kinder würden an Gott glauben. Dieser Anteil ist ganz sicher im Osten niedriger.

Über Befragungsergebnisse hinaus scheint den Berichtenden allerdings der nach wie vor dominierende Westblick nicht bewusst zu sein. So wird der seit 1996 ein-geführte Anspruch auf einen Kindergartenplatz als »kinderpolitische Errungenschaft von historischer Dimension« (8) gefeiert, ohne zu reflektieren, dass in der DDR seit Ende der 60er Jahre Kindergartenbetreuung selbstverständlich war. Auch die in späteren Abschnitten getroffenen Aussagen zur Bildungsbeteiligung und zum Bil-dungsniveau der Frauen in den 90er Jahren (127) sind nur richtig, wenn ausschließ-lich westdeutsche Frauen gemeint sind. Für ostdeutsche bzw. DDR-Frauen fanden die beschriebenen Prozesse jeweils früher statt. Ebenso die Berichterstattung über sportliche und kulturelle Aktivitäten (136 ff.) – hier entsteht der Eindruck einer kon-tinuierlichen Verbesserung der Angebote »seit etwa 15 Jahren« (137). Für ostdeut-sche ältere Kinder und Jugendliche fällt in diesen Zeitraum aber der gesellschaftli-che Umbruch, der sich bekanntlich auf die Infrastruktur für Freizeitaktivitäten gravierend und durchaus nicht immer verbessernd auswirkte.

Erwachsenen-Zentriertheit (Adultismus) prägt jedoch den gesamten Bericht und damit auch die Vorbemerkungen. Stets geht es um die Auswirkungen der Po-litik aufKinder, um Politik fürKinder, seltener um Politik mitKindern und gar nicht um Politik der Kinder. Kompetenzerweiterung wird nicht für Kinder selbst, sondern für die Kinderkommission des Bundestages (7) gefordert. Gleichzeitig er-wähnt der Bericht in späteren Passagen (unter: Berücksichtigung der Meinungen der Kinder) zahlreiche Partizipationsmodelle für Kinder (49-65) und »eine Ent-wicklung, die Kinder mehr und mehr als Subjekte denn als Objekte elterlicher oder gesellschaftlicher Entscheidungen sieht« (48), sieht aber gerade auf diesem Gebiet noch großen Handlungsbedarf, weil bei vielen Erwachsenen die Vorstel-lung noch tief verwurzelt sei, sie wüssten am besten, was für Kinder gut ist. Das gelte nicht zuletzt für den politischen Raum (65). Auch dieses Dilemma ist dem-nach bewusst: »Die Berichtskommission war in ihrer Arbeit bemüht, die Perspek-tive der Kinder einzunehmen. Generell ist aber die Sicht der Erwachsenen von der Situation der Kinder das eine, die Sicht der Kinder selbst etwas anderes. ... Die Antworten der Kinder sind ein Stück gelebte Partizipation, sie sind aber auch ein wichtiges Korrektiv für die allzu oft zu pessimistischen oder auch zu optimisti-schen Einschätzungen der Erwachsenen« (9). So wichtig es ist, das Unbehagen einzugestehen, so problematisch erscheint mir der Hinweis auf das »Korrektiv«.

Solange Erwachsene die Kindermeinung nur brauchen, um die eigene zu korri-gieren, stellen sie ihre Zentriertheit nicht in Frage, sind sie also von einem wirk-lich demokratischen, d. h. auch gleichrangigen Miteinander der Generationen weit entfernt.

Zu einzelnen Abschnitten:

– Unter der Überschrift »Allgemeine Maßnamen zur Durchsetzung« berichtet die Bundesregierung – damals noch rot-grün – über konkrete Reformen, Pro-gramme, Initiativen zur Verbesserung der Lage der Kinder in Deutschland von 1994 bis Frühjahr 1999 und über die so genannte Entwicklungszusammenarbeit in diesem Zeitraum. Dabei bekennt sie sich ausdrücklich zur Auffassung ihrer Vor-gängerregierung, wonach »die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung«

(17) nicht erforderlich sei. Sie stellt sich damit gegen Forderungen zahlreicher Nicht-Regierungs-Organisationen, auch gegen Forderungen der Jugendminister-konferenz und der Kinderkommission des Bundestages und nicht zuletzt gegen eine Anregung des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes. Auch die Einrich-tung eines oder einer Bundeskinderbeauftragten – vom UN-Ausschuss vorge-schlagen – lehnt die Regierung ab, weil »der größte Teil der kinderpolitischen Ent-scheidungen in Deutschland auf kommunaler Ebene fällt« (13).

– Breiten Raum nimmt die Berichterstattung zur Bekanntmachung der Kon-vention und zur Bekanntmachung der zugehörigen UNO-Berichte ein. Es ist so-wohl von zahlreichen zentralen Bemühungen (Publikationen, Kampagnen, Kin-derkarawanen usw.) die Rede als auch von spezifischen Bemühungen in den Bundesländern. Dennoch waren (sind?) es nur 15 Prozent der deutschen

Bevölke-rung, die die Kinderkonvention kennen (26). Ob hier die National Coalition, die im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Erstberichtes entstanden war und die sich für die Schattenberichterstattung zuständig fühlt, einen Durchbruch erzielen kann, muss sich erst noch zeigen. Auf jeden Fall zeigt sich hier ein direkter Bezug zum Anliegen des Projektes Sozialberichterstattung, das das Kinderkonventions-Thema sowohl in die sozialwissenschaftliche Forschung als auch in die politische Bildung tragen kann.

– Unter der Überschrift »Definition des Kindes« bezieht sich die rot-grüne Re-gierung in einem nur halbseitigen Abschnitt weitgehend auf den Erstbericht. Sie distanziert sich demnach nicht von einer Kinderdefinition, die Ungeborene aus-drücklich einbezieht, verfolgt das Thema »ungeborenes Leben« aber auch nicht weiter. In einer späteren Passage (unter: Grundlegende Gesundheit und Wohlfahrt)

– Unter der Überschrift »Definition des Kindes« bezieht sich die rot-grüne Re-gierung in einem nur halbseitigen Abschnitt weitgehend auf den Erstbericht. Sie distanziert sich demnach nicht von einer Kinderdefinition, die Ungeborene aus-drücklich einbezieht, verfolgt das Thema »ungeborenes Leben« aber auch nicht weiter. In einer späteren Passage (unter: Grundlegende Gesundheit und Wohlfahrt)