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Der »Sozialreport 2004« zu den neuen Bundesländern

2. Diskussion ausgewählter Sozialberichte 1 Berichte zur sozialen Lage

2.1.3 Der »Sozialreport 2004« zu den neuen Bundesländern

Mit dem »Sozialreport 2004. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern« (Winkler 2004) liegt bereits die 9. Folge dieser Buchreihe vor.

Diese Reports analysieren seit Beginn der Vereinigung die soziale Lage und Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer und den Prozess ihrer Integration in das vereinigte Deutschland. Dieser Aufgabe dienen auch spezielle Berichte zur so-zialen Lage ausgewählter Gruppen (Ältere, Arbeitslose, Behinderte1) der ostdeut-schen Bevölkerung vom gleichen wissenschaftlichen Institut.2 Wolfgang Zapf, Nestor der (west)deutschen Sozialberichterstattung, würdigte diese Leistung, sie sei »der wichtigste ostdeutsche Beitrag zur Sozialberichterstattung« (8/9)3.

Stand, Entwicklungstempo und -richtung der sozialen Ost-West-Annäherung in Deutschland werden mit nachlassender öffentlicher Aufmerksamkeit verfolgt. Der Sozialreport belegt, dass die Ost-West-Differenz keinen Bedeutungsverlust erlitten hat, sondern nach wie vor ein gravierendes gesamtgesellschaftliches Problem dar-stellt. Die soziale Benachteiligung des Ostens hat sich in wesentlichen Bereichen ver-festigt. Die Analyse der sozialen Lage in Ostdeutschland liegt nicht nur im Interesse der ostdeutschen Bevölkerung. Sie weist immer wieder mit Nachdruck auf eine nach wie vor unerledigte Hauptaufgabe der gesamtdeutschen Politik hin. Es handelt sich um einen maßgeblichen und gut fundierten Beitrag zur nationalen Bilanz.

Die Notwendigkeit, diese Analysen mit der spezifisch ostdeutschen Perspek-tive auch in Zukunft weiterzuführen, wird an einem Resümee des Reports 2004 deutlich. Danach »erweisen sich Ost- wie Westdeutsche mehr als zuvor und mehr als angenommen als spezifische Gruppen mit besonderen Denk- und Verhaltens-strukturen, Werten, Wertorientierungen und Erwartungen sowie Vergangenheits-und Gegenwartsbewertungen« (8).

Der Sozialreport repräsentiert beispielhaft das Konzept einer integrierten So-zialberichterstattung. Dies äußert sich in der thematischen Breite der Analysen, in der Berücksichtigung von objektiven und subjektiven Aspekten der sozialen Lage, in der empirischen Basis (Einheit von sozialwissenschaftlichen Umfragedaten und amtlicher Statistik), in der zeitlichen und räumlichen Differenzierung, in der Ein-heit von Beschreibung und Wertung und in der Zusammenführung und Verallge-meinerung der Einzelanalysen (Zusammenfassung). Die wirtschafts- und sozial-politische Handlungsrelevanz der Befunde ist offenkundig, wenngleich explizite Schlussfolgerungen eher selten herausgearbeitet werden. Die Voraussetzungen für den dafür nötigen Diskurs mit Einbeziehung der politischen und zivilgesellschaft-lichen Institutionen liegen jedenfalls mit dem Report vor.

1 2005 erschien der Sozialreport 2005 50+ (Winkler [Hrsg.] 2005).

2 Von 1993 bis 2001 gab das Sozialwissenschaftliche Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e.V. auch die Quar-talszeitschrift »Sozialreport. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern« heraus.

3 Seitenangaben ohne Quellenverrweis beziehen sich in diesem Abschnitt auf Winkler 2004.

Konzeptionell verfolgt der Report zwei Schwerpunkte:

Erstens sollen objektive statistische Daten zu den behandelten Sachgebieten mit der Darstellung subjektiver Reflexionen der Ostdeutschen verbunden werden.

Deshalb liegt jeder Ausgabe des Sozialreports auch jeweils eine Bevölkerungsbe-fragung zugrunde, deren Auswertung mit Darstellung von Befunden der amtlichen Statistik verbunden wird.

Der Report 2004 findet in der vierzehnten Erhebung4seit 1990 »zu den Auf-fassungen und Befindlichkeiten der Bürger der neuen Bundesländer zu ihrer so-zialen Lage und Entwicklung« (8) seine entscheidende Basis. Ein bemerkenswer-ter Vorzug der Sozial reports besteht in der organischen Verbindung zwischen der Analyse der objektiven sozialen Lage (im Lichte der Befragungsergebnisse wie der amtlichen Statistik) einerseits und ihrer subjektiven Bewertung in Ge stalt von Zufriedenheiten, Hoffnungen, Befürchtungen, Erwartungen, Bewertungen etc. an-dererseits. Hervorhebenswert ist darüber hinaus, dass der Sozialreport nicht nur die individuelle Ebene der sozialen Lage in ihrer Konstellation von objektiven Le-bensbedingungen und subjektiver Befindlichkeit reflektiert, sondern dass darüber hinaus die gesellschaftliche Ebene erkundet wird – zum einen durch die Darstellung der objektiven Komponente (Arbeitslosenquoten etc.), zum anderen als wahrge-nommene Qualität der Gesellschaft (z. B. Zufriedenheit mit Demokratieentwick-lung; Erwartungen in demokratische Entwicklung, Aussagen zur sozialen Gerech-tigkeit usw.).

Zweitenssind die Autor/innen bestrebt, »eine Beschreibung der sozialen Situation zu erreichen, die alle Lebensbereiche erfasst und weder arbeits- noch einkommens-zentriert ist« (10).

Im Vergleich zur vorangegangenen Ausgabe (Winkler 2002) wurden Autoren-kollektiv, Umfang und Anzahl der Kapitel erweitert.

Der Report umfasst die Bereiche:

• Leben in den neuen Bundesländern mit den Schwerpunkten: Zufriedenheiten, Hoffnungen, Vereinigungsbewertung,

• 2003 – Jahr der »Sozialreformen«(*)5,

• Erwerbsarbeit/ Arbeitsmarkt,

• Einkommen,

• Wohnsituation (*),

• Bevölkerungsentwicklung (*),

• Frauen (*),

• Demokratie und gesellschaftliche Mitwirkung.

In der konzeptionellen Anlage zeigen sich die Autoren wichtigen Qualitätsan-forderungen an die Gestaltung von Sozialberichten verpflichtet:

4 Aus finanziellen Gründen wird die Erhebung seit 2002 auf postalischem Weg vorgenommen.

5 (*) neuer Abschnitt gegenüber 2002.

Zeitvergleich: Indem die Befunde grundsätzlich in Zeitreihen präsentiert und in Diagrammen veranschaulicht werden, können Trends der Entwicklung erkannt und diskutiert werden. So wird nicht nur die Entwicklung seit dem zuletzt er-schienenen Report reflektiert, sondern auch in den Zusammenhang mit dem ge-samten Zeitraum seit der deutsch-deutschen Vereinigung gestellt.

Raumvergleich: Im Mittelpunkt steht die soziale Lage und die Entwicklung Ostdeutschlands als Ganzes. Die Möglichkeiten, die Befragungsergebnisse räum-lich differenziert darzustellen, sind auf Grund der begrenzten Zahl der Befragten beschränkt, verschiedentlich erfolgte der Vergleich nach ostdeutschen Bundeslän-dern. Eine Ost-West-Unterscheidung ist mit den Daten der Befragung prinzipiell nicht möglich. Jedoch wurden auf Basis der amtlichen Statistik und unter Hin-zuziehung anderer Erhebungen (z. B. SOEP) häufig und detailliert Ost-West-Vergleiche vorgenommen (z. B. im Abschnitt Erwerbsarbeit) – leider kaum beim Thema Einkommensentwicklung.

Soziale Differenzierung: Die Befunde werden konsequent sozial differenziert aufbereitet und ausgewertet. Unterscheidungskriterien sind vor allem Geschlecht, Qualifikation, Alter, Erwerbsstatus, aber auch z. B. Haushalts- bzw. Familienform, eigene wirtschaftliche Lage, soziale Schicht.

Wertung: Die Autoren beweisen den Mut zur Wertung der Ergebnisse ihrer Analyse und zugleich den zur spezifisch ostdeutschen Perspektive. So treten sie der Annahme entgegen, »dass die Bürger der neuen Bundesländer ihre Bewer-tungen zu ihren Lebensverhältnissen vorrangig aus ihrer Vergangenheit und dem ständigen DDR-Vergleich heraus vornehmen würden. Die Bewertungen reflektie-ren die Realitäten des Lebens in den neuen Bundesländern – im Vergleich zu den letzten Jahren (nicht zur DDR) und zu den Lebensverhältnissen in den alten Bun-desländern« (23). Dieser Mut zur Wertung zeigt sich z. B. auch in der Darstellung von Zusammenhängen zwischen sozialer Ungleichheit und sozialer Gerechtigkeit, womit zugleich ein Erklärungsansatz geliefert wird, warum die Integration der Ostdeutschen in das wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle System der Bundesrepublik Deutschland noch so wenig fortgeschritten ist (26). In diesem Zusammenhang steht auch die zugespitzte These, wonach sich »eine eigenstän-dige stabile Ost-Identität (Identifikation) herausgebildet hat« (23).

Zu den Hauptergebnissendes Reports 2004 zählen wohl die folgenden Aus-sagen:

Es gibt keinen gemeinsamen Nenner der bis dahin 15-jährigen Entwicklung von 15 Millionen Menschen, auch keine Positives gegen Negatives aufrechnende Bilanz. »Es war/ist eine positive Entwicklung mit deutlich werdenden ›Wohlstands-verlusten‹, die sich in zunehmendem Maße an eigenen anstelle fremdbestimmten

›Normativen‹ orientiert« (79). Eingeschätzt wird – mit Verweis auf Wolfgang Thierse – »dass die Stimmung im Osten weiter gekippt ist« und vormals positive Bewertungen eine rückläufige Tendenz zeigen – »von einem subjektiven Wohl-befinden zu einem zunehmend subjektiven ›Unwohlsein‹« und zu

Zukunftsunsi-cherheiten (9). Dies ist in den neuen Bundesländern mit der Gefahr verbunden, dass sich »politische Einstellungen und Haltungen der Resignation und Zurück-haltung in der Partizipation dauerhaft verfestigen« (331).

In objektiver Hinsicht ist die soziale Lage vor allem durch eine weitere Ver-schlechterung der Arbeitsmarktsituation gekennzeichnet. So verminderte sich die Zahl der Erwerbstätigen, noch schneller die der sozialversicherungspflichtig Be-schäftigen. »Die Trennung in zwei unterschiedliche Arbeitsmärkte ist geblieben.

Die Arbeitsmarktsituation wird in den neuen Bundesländern über Arbeitslosigkeit hinaus durch ein hohes Maß an Unterbeschäftigung bzw. nicht erwünschter Nicht-Beschäftigung geprägt« (17). Die Nettoeinkommen sanken, überdurchschnittlich bei Frauen. »Die Einkommensposition von Paaren mit Kindern und Alleinerzie-henden haben sich erneut verschlechtert« (18). Eine Erhöhung des Anteils der Einkommensarmen6war damit nicht verbunden. Hinsichtlich des Wohnungssek-tors ist die Lage wesentlich entspannter. Für Ostdeutschland wird eine angemes-sene Wohnungsversorgung konstatiert (19). Die Bevölkerungszahl sank in den neuen Bundesländer auch weiterhin. Seit 1998 addieren sich die Verluste durch Negativsalden der natürlichen Bevölkerungsentwicklung und der Wanderungsbe-ziehungen mit Westdeutschland. Gebur ten rückgang und Wanderungsverluste an junger Bevölkerung beschleunigen die Alterung der ostdeutschen Bevölkerung er-heblich. Frauen sind überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen, ihre Er-werbsbeteiligung wurde stark zurückgedrängt. Der Gleichstellungsvorsprung von Frauen in der DDR gegenüber denen der ehemaligen westdeutschen Bundesrepu-blik (Geißler) ist »aufgezehrt« (20). Die soziale Ungleichheit im weiblichen Seg-ment der ostdeutschen Bevölkerung ist gewachsen.

Zu den unausweichlichen Konsequenzen dieser Entwicklung gehört, dass die Sozialaufwendungen in den neuen Bundesländern nach wie vor sehr hoch sind und eine wachsende Tendenz zeigen. Jedoch stellt der Sozialreport auch klar, dass es sich dabei zum einen um »normale« Ausgleichsleistungen im Zusammenhang mit sinkender Beschäftigung und niedriger Produktivität handelt, nicht aber um

»Sonderleistungen« wie es der Begriff Transferleistungen suggeriert und wie es me-dial verbreitet wird. Zum anderen waren bis 2001 die sozialen Pro-Kopf-Leistun-gen in Ostdeutschland nicht höher als in den alten Bundesländern und in den aus-gewiesenen Einzelpositionen lagen sie mit Ausnahme des Postens Beschäftigung durchweg deutlich unter dem westdeutschen Niveau (92 f.).

Die subjektive Bewertungder sozialen Lage und ihrer Entwicklung korrespon-diert mit den geschilderten objektiven Tatsachen. Charakteristisch sind »eine zu-nehmend hohe Zukunftsverunsicherung und sich deutlich verschlechternde Be-wertungen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage« (13). Angesichts der nicht erfolgten Ost-West-Angleichung offenbart sich ein »Gefühl der kollektiven

Ab-6 Maßstab: unterhalb 50 Prozent des äquivalenzgewichteten Pro-Kopf-Einkommens nach aktueller OECD-Skala (231).

wertung erbrachter Lebensarbeitsleistung und nicht gerechtfertigter Ungleichbe-handlung bei einer großen Mehrheit der Bürger« (13). 45 Prozent der Befragten

»stellen für sich eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage im Vergleich zu vor fünf Jahren fest« (14). Nur eine kleine Minderheit (4 Prozent) der Befragten erwartet im Alter ein lebensstandardsicherndes Einkommen. Weiter gewachsen sind die individuellen Befürchtungen, arbeitslos zu werden oder zu bleiben (17).

Mit dieser Entwicklung korrespondiert ein weiterer Rückgang der allgemeinen Lebenszufriedenheit(14). Dies wird als Reaktion auf reale Wohlstandseinbußen erklärt. Bei den über 60-Jährigen fällt der Zufriedenheitsverlust am höchsten aus.

Die Zufriedenheit mit dem eigenen politischen Einfluss hat einen »erneuten Tief-punkt« erreicht (21).

Folgerichtig werden die politischen Verhältnisserelativ ungünstig bewertet. Etwa die Hälfte der Befragten sieht ihre Interessen »durch die Regierung und Opposi-tion, durch einzelne Parteien und Verbände nicht vertreten« (15). Nach wie vor be-steht nur geringes Vertrauen in wichtige gesellschaftliche Institutionen wie z. B.

Bundestag und Bundesregierung.

Hinsichtlich der demokratischen Aktivität7wird die Tendenz des Rückzugs in eine »Zuschauerdemokratie« beobachtet, »die sich auf reine Beobachter- und Kri-tikerpositionen begrenzt, der es weitgehend an Interessenartikulation, Konflikt-austragung und Nutzung von Chancen zur aktiveren Gestaltung der Verhältnisse mangelt. Gleichzeitig ist eine stärkere Beteiligung der Ostdeutschen in Vereinen, Verbänden und Initiativen festzustellen« (21).

Ausgehend von der Überlegung, dass das Jahr 2003 als »Jahr der Reformen« in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen wird (8), bildet die Einstellungder Ostdeutschen zu den Sozialreformeneinen wichtigen Schwerpunkt des Sozialre-port 2004. Von wenig Vertrauen in die praktizierte Sozialpolitik zeugt die Ein-schätzung, dass der Umbau des Sozialstaates »nicht als notwendige Umgestaltung für alle, sondern als Angriff auf Lebensstandard und damit Lebensqualität für die Mehrheit zu Gunsten von Minderheiten in Wirtschaft und Politik empfunden«

wird (14). Überwiegend wird Umbau »als Umbau eines sich von der ›sozialen‹

Marktwirtschaft entfernenden Staates zu Gunsten einer liberalisierten Marktwirt-schaft im Interesse der Unternehmer, Kassenvereinigungen und Versicherungen«

gesehen (15).

Die von der rot-grünen Bundesregierung verfochtenen Reformprojekte, insbe-sondere die Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Rentenreform, denen jeweils relativ ausführliche Erläuterungen und Analysen gewidmet sind, werden alles in allem als eine »Bedrohung des sozialen Friedens und der Solidarität« (166) charakterisiert.

Hinsichtlich der deutschen Einheit wird eingeschätzt, »dass der Angleichungs-prozess noch Jahrzehnte dauern wird, wenn er überhaupt als Zielsetzung noch real ist« (57). Negative Entwicklung auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt, Vertiefung

7 Siehe dazu 2.3.3

der sozialen Ungleichheit, Stagnation der Ost-West-Annäherung etc. sowie die da-mit einhergehenden Frustrationen der Bevölkerung spiegeln sich zwangsläufig in zahlreichen kritischen Positionen der Analyse der letzten Jahre. Nichtsdestoweniger zeichnet der Sozialreport eine positive Gesamtbilanz der deutschen Vereinigung, die nicht nur den Beweis eines durch die Bürger getragenen friedlichen System-wechsels erbrachte, sondern auch »spürbare Verbesserungen der Lebensverhält-nisse« (57) für die ostdeutsche Bevölkerung zur Folge hatte. Dem entspricht auch, dass sich die ostdeutsche Bevölkerung in ihrer überwiegenden Mehrheit alles in allem zur deutschen Einheit bekennt: 2003 bewerteten 36 Prozent der befragten Bürger der neuen Bundesländer die Einheit vorrangig als Gewinn, für 30 Prozent hielten sich Gewinn und Verlust die Waage, und 30 Prozent bilanzieren für sich vor allem Verlust (58).

Auf die folgenden Aspekte soll noch kurz eingegangen werden: Erwerbsarbeit und Arbeitsmarkt, Ost-Identität, sozial differenzierte Bewertung der deutschen Einheit.

Erwerbsarbeit und Arbeitsmarkt

Auch wenn die Autoren eine arbeitszentrierte Darstellung zu Recht vermeiden wollen – die ausschlaggebende Rolle der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland wird als Hauptursache für die resignativen Tendenzen der Stim-mung im Osten überzeugend herausgearbeitet: »Die von Bürgerinnen und Bürgern für das eigene Leben gesteckten Ziele erwiesen/erweisen sich für einen großen Teil der Bevölkerung als nicht erreichbar« (168). Solche Ziele sind insbesondere die eigene Erwerbsarbeit als leistungsgerechte Basis eines angemessenen Lebens-standards, der Absicherung vor sozialen Risiken und eines sozial gesicherten Al-terseinkommens sowie die Möglichkeit, Erwerbsarbeit und familiäre Verpflich-tungen zu verbinden.

Diese Enttäuschungen fallen umso mehr ins Gewicht, als in Ostdeutschland nach wie vor eine stärkere Erwerbsarbeitsorientierung besteht als im früheren Bundesgebiet. Trotz massenhafter Ausgrenzung aus der Erwerbsarbeit ist im Osten Deutschlands ein Wertewandel in Bezug auf Arbeit nicht eingetreten. Doch reflektiert die sehr hohe Wertschätzung der Arbeit hier »nicht nur das Bedürfnis zu arbeiten, sondern auch das Fehlen der Möglichkeiten«, dieses Bedürfnis zu be-friedigen (175).

Im Osten ist die Erwerbslosigkeitmehr als doppelt so hoch wie im alten Bun-desgebiet. D. h. nach wie vor existiert die Ost-West-Spaltung des Arbeitsmarktes.

Im Osten hat sich die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau stabilisiert. Darüber hin-aus besteht aber ein hohes Maß an Unterbeschäftigung bzw. nicht erwünschter Nichtbeschäftigung, die nur partiell in den Arbeitslosenquoten sichtbar wird. In ei-ner differenzierten Darstellung wird auf eine Defizitquote (fehlende Arbeitsplätze) von über 50 Prozent geschlossen (189). Die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland

er-fuhr auch wesentliche Strukturveränderungen, z. B. indem der Frauenanteil durch Verdrängen in die stille Reserve abgesenkt wird, auch wächst der Anteil der Lang-zeitarbeitslosen. Die Tendenz des vorzeitigen Ausstiegs aus dem Erwerbsleben verfestigt sich (189 f.).

In Bezug auf die Erwerbstätigkeit ist u. a. auf die folgenden Besonderheiten hinzuweisen:

Wirtschaftswachstum führt nicht zu Beschäftigungsgewinn, der Osten fällt ten-denziell weiter zurück (168).

In den neuen Bundesländern gibt es niedrigere Anteile an geringfügig Beschäf-tigten (162) bzw. TeilzeitbeschäfBeschäf-tigten, eine deutlich stärkere Verbreitung unbe-fristeter Arbeitsverträge (174) sowie eine wesentlich geringere Einbindung in tarifvertragliche Arbeitsbedingungen (West 70,0 Prozent, Ost 54,5 Prozent) (180) bei höheren tarifvertraglichen Wochenarbeitszeiten (183).

Neben der Herausbildung und Stabilisierung struktureller ostdeutscher Beson-derheiten hinsichtlich Beschäftigung und Arbeitsmarkt vollziehen sich in den neuen Bundesländern auch Tendenzen der Angleichung und Anpassung an die westdeutschen Gegebenheiten. So hat sich in der Wirtschaftsbereichsstruktur der Erwerbstätigen eine Annäherung an die westdeutschen Proportionen vollzogen.

Auch die Gliederung nach sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, Selbstän-digen und mithelfenden Familienangehörigen nähert sich dem westdeutschen Muster an (171).

Ost-Identität

Im Verlauf des bisherigen Transformationsprozesses kam es zur Ausprägung einer weder gewollten noch erwarteten Ost-Identität. Sie ist »Reflex eines selbstbewuss-ten Lebens der Bürger der neuen Bundesländer unter den spezifischen politischen und ökonomischen Verhältnissen in beiden Teilgesellschaften« (23) und Ausdruck der fortbestehenden ökonomischen und sozialen Teilung Deutschlands.

Merkmale der Ost-Identität sind u. a.: Starke Verbundenheit mit der »Region Neue Bundesländer«8, hohe zunehmende Zukunftsverunsicherung (seit 2001 »Phase stark rückläufiger Zufriedenheiten und Hoffnungen« [27]), seit 1994 weitgehend stabile Wertestruktur – zentral »die Werte Arbeit und soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und Familie« (29), »systemkritisches Verhalten, das auf notwendige Veränderungen ... im Rahmen des Systems zielt, aber keineswegs auf dessen Über-windung« (32). Die systemkritische Haltung der Ostdeutschen wird oft ungerecht-fertigt als »(n)ostalgisch« diskreditiert, als eine aus den Wende-Jahren bewahrte Errungenschaft der DDR-Bürger ist sie jedoch Ausdruck eines demokratischen Grundverständnisses.

8 Die Verbundenheit mit den neuen Bundesländern als Ganzes ist stärker ausgeprägt als mit der jeweiligen Ge-meinde/Stadt, dem betreffenden Bundesland, der Bundesrepublik, Europa (24).

Die spezifisch ostdeutsche Identität geht einher mit einer noch immer relativ geringen Integration in das System der Bundesrepublik. Die Mehrheit der Ost-deutschen nimmt eine Position »zwischen den Stühlen« ein, wenn sie zu 65 Pro-zent einschätzen: Ich »möchte weder die DDR wiederhaben noch fühle ich mich in der BRD schon richtig wohl« (73). Trotz einer verbreiteten Ablehnung des DDR-Systems hat die »Mehrheit der Ostdeutschen ... noch nicht für sich die Ent-scheidung getroffen, ob das Modell Bundesrepublik Deutschland dazu geeignet ist, dem Bürger all das zu geben, was er für sich von einer freiheitlichen Ordnung, sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit erwartet/erwartet hatte« (75).

Seit Anfang der 90-er Jahre erfolgt in Ostdeutschland eine grundlegend andere Selbstzuordnung in eine dreistufige Schichtgliederung als in den alten Bundeslän-dern: Im Osten dominiert mit ca. 56 Prozent die Unter- und Arbeiterschicht (1992 61 Prozent), im Westen die Mittelschicht (56 Prozent 2001). Zwar erweist sich diese Schichteinstufung der Ostdeutschen als relativ stabil. Aber es wächst die so-ziale Ungleichheit zwischen den drei Schichten. Zwischen 1992 und 2003 haben die Unterschiede zwischen den einzelnen Schichten im Einkommen und hinsicht-lich des Lebensstandards – gemessen am Anteil der Arbeitslosen und des Woh-nungs-/Hauseigentums – deutlich zugenommen (67).

Sozial differenzierte Bewertung der deutschen Einheit

Da in dieser kurzen Darstellung zum Sozialreport vor allem die resümierende Aus-sagen im Vordergrund stehen, bleibt leider die Differenziertheit der Befunde unter-belichtet. Am Beispiel der Gewinn-Verlust-Bewertung zur deutschen Einheit soll gezeigt werden, dass sich die entsprechenden Befragungsergebnisse sozialstruk-turell z. T. sehr erheblich unterscheiden. Differenzierungslinien sind hierbei be-sonders Erwerbsstatus, Qualifikation, Geschlecht und Alter. Als Gewinner der deutschen Einheit sehen sich vor allem die Befragten mit Hochschulabschluss, von denen 54 Prozent die deutsche Einheit als »vor allem Gewinn« bzw. »mehr Gewinn als Verlust« bewerten, aber nur 16 Prozent »eher Verlust« registrieren.

Weitere Gruppen, in denen die positive Bilanz gegenüber den negativen überwiegt, sind Männer, Erwerbstätige, 18- bis 24-Jährige und über 59-Jährige. Im Gegensatz dazu erweisen sich die Arbeitslosen als Gruppe mit der ausgeprägtesten Verlierer-Bilanz. 62 Prozent der befragten ostdeutschen Arbeitslosen verbuchen die deut-sche Einheit für sich als »vor allem Verlust« bzw. »mehr Verlust als Gewinn«.

Gruppen mit überwiegend negativer Bilanz sind weiterhin die 45- bis 59-Jährigen und die Frauen. Die zentrale Bedeutung der Erwerbsarbeit für die Bewertung der deutschen Einheit durch die ostdeutsche Bevölkerung ist auch hier unübersehbar.

Der Sozialreport weist darüber hinaus darauf hin, wie eng Erwerbsmöglichkeit, soziale Sicherheit und soziale Ost-West-Angleichung mit dem Verständnis der Ostdeutschen von sozialer Gerechtigkeit verbunden sind. Jeweils 68 Prozent der Befragten erwarten Verschlechterungen im Hinblick auf die Items »Arbeit zu

ha-ben«, »soziale Gerechtigkeit« und »soziale Sicherheit« (38). »Soziale Gerechtigkeit heißt für die Bürger der neuen Bundesländer zunächst und vor allem Angleichung der Lebensverhältnisse Ost an die Lebensverhältnisse West« (79), die Herabsenkung der ostdeutschen Erwerbslosenquote auf das Niveau der alten Bundesländer dürfte

ha-ben«, »soziale Gerechtigkeit« und »soziale Sicherheit« (38). »Soziale Gerechtigkeit heißt für die Bürger der neuen Bundesländer zunächst und vor allem Angleichung der Lebensverhältnisse Ost an die Lebensverhältnisse West« (79), die Herabsenkung der ostdeutschen Erwerbslosenquote auf das Niveau der alten Bundesländer dürfte