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KINDER- UND MÜTTERSCHUTZ

Im Dokument Konsequent den unbequemen Weg gegangen (Seite 179-200)

Praktisches Engagement

"Ich interessierte mich für viele soziale Bewegungen, insbesondere für Kinderschutz und Mutterschutz."592 Mit ihrer Hingabe an den Kinder- und Mütterschutz hatte sich Adele Schreiber vom Beginn ihrer Karriere an ein unerschöpfliches Betätigungsfeld erschlossen.

Für sie war die Solidarität mit den Randgruppen der Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit, denn sie spürte die moralische Verpflichtung zu helfen. Den Kampf für die Benachteiligten kämpfte sie in bezug auf die Frauenfrage auch immer für sich selbst. Sie wusste beispielsweise nicht nur, dass die Frauen von der Gesetzgebung ausgeschlossen waren, ihr war auch bewusst, wie sehr sie unter der Justiz, die die Männer in der Rechtsprechung bevorteilte, litten: "... noch steht unser ganzes öffentliches Leben unter der Macht des Mannes."593 Dieses grundlegende Problem wurde, wie schon ausgeführt, im Kampf gegen die Prostitution offengelegt, stellte sich aber genauso hinsichtlich der Behandlung der unverehelichten Mütter und ihrer Kinder in der Gesellschaft.

Hinsichtlich ihres Wirkens im Mütterschutz war Adele Schreiber zweifellos eine der kompromisslosesten Streiterinnen. Sie stand nicht nur der Sozialdemokratie aufgeschlossen gegenüber, sondern engagierte sich obendrein für unverehelichte Mütter. Es war nicht zu übersehen, dass in der Gesellschaft unverehelichte Mütter in besonderem Maße benachteiligt wurden. Sie waren nicht nur von der Gesellschaft ausgestoßen worden, sie hatten auch kaum für sich und ihr Kind ausreichende Mittel zum Überleben. Gerade diesen bedrängten Frauen und ihren Kindern wollte Adele Schreiber Fürsorge und Hilfe angedeihen lassen. Mit dieser Haltung war sie ihrer Zeit weit voraus. Die kontinuierliche Beschäftigung mit progressiven Ideen verstärkte ihre Abwehr gegen die traditionell funktionierenden Mechanismen der Gesellschaft und sie bekämpfte grundlegende gesellschaftliche Erscheinungen, wie beispielsweise die mangelnde Kinderfürsorge: "Die heute bestehenden Kinderschutz-Einrichtungen sind nicht nur an der Zahl unzureichend, sondern auch deshalb mangelhaft, weil ihre Tätigkeit zu spät beginnt: Das Kind muß

592 Nachlass BA Koblenz, Mappe 1, Blatt 1-4, o.T., ca.1910

593 Nachlass BA Koblenz, Mappe 11, 5.2.1911, "Gemeinsame Kulturaufgaben männlicher und weiblicher Jugend", in "Hamburgische Correspondenz"

nicht nur nach, es muß vor und während der Geburt beschützt werden."594 Und der Staat war nach ihrer Meinung selbstverständlich verpflichtet, auch den illegitimen und ärmsten Kindern ausreichende Fürsorge zu bieten und zu verhindern, dass sie aus mangelnder Fürsorge die höchsten Sterblichkeitsraten aufwiesen. Sie machte ihr Gewissen, ihre Ablehnung von Dogmen und äußeren Zwängen zum Maßstab ihres gesellschaftspolitischen Engagements.

Obendrein hatten sich die Befürchtungen, dass die Zahl der illegitimen Geburten zunehmen werde, wenn diese Kinder in Anstalten ordnungsgemäß versorgt würden, nicht bestätigt, wie das Beispiel Frankreich bewies.595 Durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse war es möglich geworden, Säuglinge in Heimen unterzubringen, ohne das die Überzahl von ihnen unter diesen Bedingungen starb: "Seit Semmelweis596, verkannt und mit Unglauben aufgenommen, zuerst die Theorie der Ansteckung aufstellte, seit Tarnier die Isolierung und endlich Lister597 die Antisepsis erdachten, haben sich die Verhältnisse geändert und heute, mit allen Behelfen der modernen Wissenschaft ausgerüstet, verzeichnen sowohl die Maternité als die anderen Asyle eine Sterblichkeit von 1 zu 100."598 Bei der Fürsorge für die Mütter mahnte Adele Schreiber alle Mütter zu berücksichtigen, denn: "Schonung der Mütter bedeutet ein gesünderes, lebenstüchtigeres und leistungsfähigeres Geschlecht. Gleichmäßiger Versicherungsschutz für eheliche und uneheliche Mütter ist ein wichtiger Schritt ..."599

Weltweit lag erst seit wenigen Jahrzehnten besonderes Augenmerk auf dem Ausbau des allgemeinen Kinderschutzes, existierten doch in allen Ländern lange Zeit nur Tierschutzorganisationen. Erst 1875 entstand in New York die erste Gesellschaft zum Schutz der Kinder. "Nach dem Muster der New-Yorker Gesellschaft bildeten sich über 300 Vereine mit ähnlichen

594 Nachlass BA Koblenz, Mappe 69, 10.12.1896, "Die Kinder des Elends", Rezension zum Buch von Paul Strauß (Paris):"L´Enfance Malheureuse", in "Frankfurter Zeitung"

595 Ebd.

596 Ignaz Philipp Semmelweis (1818-1865), österreichisch-ungarischer Geburtshelfer. Er entdeckte die Ursachen des Wochenbettfiebers als "zersetzte tierische Stoffe", die Entdeckung wird jedoch auch Oliver Wendell (1809-1894) zugeschrieben. Ab 1850 war er Dozent an der Universität in Wien, 1855 wurde er Professor für Geburtshilfe in Budapest, seine Theorien wurden jedoch von maßgeblichen Wissenschaftlern wir R. Virchow, J. Young Simpson und der Pariser Akademie scharf abgelehnt, von anderen auch verteidigt. Doch diese Angriffe durch ärztliche Autoritäten hatten ihn zermürbt, er verfiel dem Verfolgungswahn und starb in der Landesirrenanstalt in Wien an den Folgen einer Sepsis.; Lexikon der Frau, Bd.2, 1954

597 Joseph Lister (1827-1912), englischer Chirurg. Er führte ab 1867 die antiseptische Wundbehandlung mit Karbolsäure ein.; Meyers Universal Lexikon, Leipzig 1980, Bd.2, S.734

598 Nachlass BA Koblenz, Mappe 69, "Die Kinder des Elends", Rezension zum Buch von Paul Strauß (Paris):

"L´Enfance Malheureuse", in "Frankfurter Zeitung"

599 Nachlass BA Koblenz, Mappe 70, 1.7.1908, "Mutterschaftsversicherung", in "Zeitschrift für das weibliche Handwerk"

Zielen, von denen die 1884 durch Benjamin Waugh600 zu London gegründete `Society for the Prevention of Cruelty to Children´ die hervorragendste ist."601 Und auch in Deutschland fand das Thema des Kinderschutzes mit dem ausgehenden 19.Jahrhundert größere Beachtung. "In Berlin besteht seit 1875 der Schutzverein zur Beaufsichtigung der Säuglingspflege und Überwachung von Haltekindern. Im Jahre 1898 ward ein Verein zum Schutz der Kinder vor Ausnützung und Mißhandlung gegründet. Er lehnt sich an die Tendenzen der englischen Gesellschaft an und erstrebt eine Ausdehnung auf das ganze Deutsche Reich."602 Der Schutz der Kinder war aber nicht nur Aufgabe der Kinderschutzorganisationen, sondern ganz wesentlich an die Beseitigung sozialer Missstände gebunden. Nur der Kampf gegen Kinderarbeit und mehr freie Zeit der Eltern für ihre Kinder, verbunden mit sozialen Einrichtungen wie Horte, konnten eine bessere Erziehung der Kinder garantieren. Es wurde gefordert, dass die Gesetzgebung eines jeden Landes sich für den Schutz der Schwachen verantwortlich fühlen muss. In Deutschland waren zu dieser Zeit große Bereiche der Fürsorge ausschließlich der privaten Initiative überlassen.

In Amerika und England, im kleinen Maßstab bereits aber auch in Frankreich, waren Erziehungskolonien begründet worden, in denen heimatlose Kinder versorgt wurden. Adele Schreiber sah in diesen Projekten eine gute Möglichkeit, Waisenkinder zu versorgen.603 Waisen oder auch straffällig gewordene Kinder wurden in diesen Kolonien wie in einer Familie betreut und genossen die Vorteile von familiären Bindungen. Demgegenüber stand die weitverbreitete Aufnahme von Waisenkindern von Familien auf dem Lande, die oftmals nicht an dem Kind, sondern eher an dem die wirtschaftliche Lage verbessernden Pflegegeld interessiert waren. Aus diesem Grund und auch weil ausgebildete Erzieherinnen besser in der Lage sind, der Verantwortung den Kindern gegenüber gerecht zu werden, plädierte Adele Schreiber für die Kolonien auch in Deutschland: "Das Koloniensystem befindet sich noch im Anfangsstadium seiner Entwicklung, immerhin ist es genügend weit fortgeschritten, um seine Überlegenheit allen anderen Methoden gegenüber erkennen zu lassen. ... In weit umfangreicherer und wirksamerer Weise als durch die Anstellung von Waisenpflegerinnen würde die Gründung von Erziehungskolonien Gelegenheit bieten, die

600 Benjamin Waugh (1839-1908), Geistlicher. Nach seiner Ausbildung war er von 1865 bis 1862

Gemeindevorsteher, von 1865 bis 1887 Mitglied der Schulbehörde Londons und ab 1870 engagierte er sich für die Schaffung des Kinderschutzvereins (NSPCC), dessen Leiter er ab 1889 war.; Who was who 1897-1916, 1920

601 Nachlass BA Koblenz, Mappe 73, 1/1901, "Leiden und Rechte des Kindes", in "Die Frau"

602 Ebd.

603 Nachlass BA Koblenz, Mappe 69, 2.8.1902, "Erziehungskolonien", in "Neue Hamburger Zeitung"

Fähigkeiten der Frau im Dienste sozialer Hilfsarbeit nutzbar zu machen."604 Um diese anstehenden Aufgaben bewältigen zu können, waren im sozialen Bereich die Dienste zahlreicher ausgebildeter Krankenpflegerinnen nötig, die jedoch wegen chronischer Unterbezahlung nicht vorhanden waren.

Adele Schreiber beobachtet so bereits zu Beginn des Jahrhunderts alle Bemühungen im In- und Ausland, die Säuglings- und Kleinkinderfürsorge zu verbessern.

Begeistert war sie vor allem von den neuen Heimen für elternlose Kinder, die gemäß neuer Hygienebestimmungen einen Durchbruch in der Säuglingsfürsorge darstellten, wie zum Beispiel das 1901 eröffnete Berliner Kinderheim in der Kürassierstraße. Dort konnten in großer Zahl Säuglinge nach der Geburt aufgenommen und gepflegt werden, bis der Zeitpunkt der Übergabe an Zieheltern gekommen war. "Allgemein ist im Publikum die Ansicht verbreitet, die gemeinsame Unterbringung einer größeren Zahl von Kindern sei von erhöhter Sterblichkeit untrennbar. Zu dieser vorschnellen Verdammung liefert das Asyl einen überzeugenden Gegenbeweis. ... Allerdings ist ein solches Resultat erst möglich, seitdem die Fortschritte der modernen Wissenschaft so viel Erkrankungsursachen aufgeklärt haben und in peinlicher Reinlichkeit, in der Anwendung von Asepsis und Antisepsis die Wege zur Verhütung und Bekämpfung der Massensterblichkeit gaben."605 Adele Schreiber war daran gelegen diese neuen und richtigen Ideen zu stützen, und sie bemühte sich, mit ihren Veröffentlichungen zu diesen Themen Aufmerksamkeit und Verständnis für die Neuerungen zu erzielen. Die Hoffnung, die mit den neuen Erkenntnissen verbunden war, fiel bei ihr auf fruchtbaren Boden und ihre Stärke war es, sich rückhaltlos für Neuerungen einzusetzen: "Die Musteranstalt in der Kürassierstraße regt aber auch nach anderer Richtung hin zur Nachahmung an. In Berlin herrscht nicht nur ein großer Mangel an Kinderspitälern, es fehlt auch völlig an Vorkehrungen für die Pflege lebensschwacher und kränklicher Kinder. Welch ein Segen wäre es, wenn Anstalten nach dem Muster des Kinderasyls für zahlende und teilweise zahlende Pfleglinge geschaffen würden, in denen Eltern des Bürger- und Arbeiterstandes ihr Kind vorübergehend unterbringen könnten, um es vor dem Zugrundegehen zu bewahren. Für einige Wochen oder Monate würden sicherlich zahlreiche Familien gern Opfer bringen, sich ein Kind zu erhalten, und ein etwaiges Defizit würde dem Staat reichlich gelohnt durch gerettete Kinderleben."606 Grundsätzliche und radikale Schritte mussten gegangen werden, um einerseits die gesellschaftliche Ordnung der Wirklichkeit anzupassen, und andererseits die

604 Nachlass BA Koblenz, Mappe 69, 2.8.1902, "Erziehungskolonien", in "Neue Hamburger Zeitung"

605 Nachlass BA Koblenz, Mappe 73, ca.1902, "Ein Berliner Kinderheim" (Kürassierstraße), in "Die Woche"

606 Ebd.

neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Erhaltung der Kinderleben zu propagieren. Keine Mutter, egal ob verheiratet oder nicht, kein Kind, ob ehelich oder illegitim, durfte ihrer Meinung nach Not leiden.

Verein Säuglingsheim

Bei aller Hinwendung zu praktischer Arbeit gewann Adele Schreiber zunehmend die Überzeugung, "dass es vielleicht ein ganz günstiges Beginnen ist, die Tätigkeit mehr auf die präventive Arbeit zu verlegen, die notwendiger und segensreicher ist. Man kann mit derselben Anstrengung viel mehr erreichen, wenn man Mädchen und Frauen vor dem Untergange bewahrt, als wenn man dieselbe Mühe für spätere Rettung aufwendet."607 Um einen eigenen praktischen aber auch ideellen Beitrag zu leisten, arbeitete Adele Schreiber ab 1902 im Komitee für Säuglingsheime mit, das seine Aufgabe in der Fürsorge für die ledige Mutter und ihr Kind sah. Wenn nach der Geburt eines unehelichen Kindes Fürsorgemöglichkeiten vorhanden waren, dann im höchsten Fall für das Kind, nicht jedoch für die Mutter: "Es würde der Bestimmung des Schmidt-Gallischen Asyls völlig widersprechen, es als Anstalt für Mütter ansehen zu wollen. ... Gerade an diesem Punkte aber will die Tätigkeit der zu gründenden Anstalten einsetzen, nicht die physische Notwendigkeit allein, jedem Kinde drei Monate als Mindestzeit die Pflege und Ernährung durch die eigene Mutter zu gewähren, steht in erster Linie - es handelt sich um ein pädagogisches Moment von hoher Bedeutung. Eine Erziehung zur Mütterlichkeit soll stattfinden, und um eine Beeinflussung des ganzen späteren Lebens zu erzielen, wird diese Spanne Zeit kaum als lang genug, geschweige denn als zu lang erscheinen."608 Das Besondere an diesem Komitee ist darin zu sehen, dass es sich in dieser Zeit zum einen explizit für die unehelichen Kinder mit ihren Müttern einsetzte, zum anderen aber sich in nicht geringerem Maße den Mütter zuwandte, indem ihnen der Freiraum geschaffen wurde, ihre Mutterschaft weitestgehend sorgenfrei zu beginnen. "Wenn die unverehelichte Mutter - um solche handelt es sich vorwiegend - wieder ins Leben hinaustritt, steht ihr ein schwerer Kampf gegen unsere ganzen gesellschaftlichen Einrichtungen bevor ... Der monatelange Aufenthalt in dem Heim, das so völlig auf anderen Grundsätzen fußt, soll ihre Persönlichkeit so gefestigt haben, dass sie erhobenen Hauptes die Pflichten ihrer Mutterschaft auf sich nimmt ... Es mag ein naiver Idealismus scheinen inmitten unserer vom harten Brotkampf erfüllten Zeit die Erweckung eines Gefühls, nicht materielle Unterstützung als

607 Nachlass BA Koblenz, Mappe 73, Vortrag "Sozialer Frauenschutz" im Verein "Heimat" im Dez. 1903 von Adele Schreiber, hg. als Drucksache des Vorstandes des Vereins "Heimat", Wien 1904

608 Nachlass BA Koblenz, Mappe 69, 12.7.1902, "Nochmals zur Frage der Säuglingsheime", "Vossische Zeitung"

solche, in den Mittelpunkt eines sozialen Hilfswerkes stellen zu wollen, und doch muß hier damit begonnen werden, damit wieder alle Bevölkerungsteile eine richtige Auffassung der Mütterlichkeit erlangen ..."609 Endlich bot sich für Adele Schreiber die Möglichkeit der praktischen Mithilfe. Sie war bereit, sich für neue Moralanschauungen zu engagieren, auch wenn ihre Anschauungen in weiten Kreisen des Bürgertums auf Ablehnung stießen und sie mit Anfeindungen rechnen musste. Doch auch im Bürgertum war die Problematik der leichtgläubigen Mädchen aktuell, die schnell zu Opfern wurden, sobald sie ins Leben hinaus traten, wenn dies auch verschwiegen wurde. "Es muß jedem auffallen, dass unter den Mädchen, die alljährlich Opfer des Mädchenhandels werden, eine große Anzahl von Erzieherinnen, Lehrerinnen, also gebildeten Mädchen sich befindet. Dies zeigt, wie illusorisch Bildung ist, wenn sie nicht mit Lebenskenntnis gepaart wird."610 Dem Staat wurde unmissverständlich zum Vorwurf gemacht, dass er seiner Verantwortung zur umfassenden Aufklärung nicht nachkam. Mit einem privat initiierten Heim sollte den vielen jungen ledigen Müttern ihre Notsituation erträglich gemacht werden.

Die Mittel für das geplante Mutter-Kind-Heim wurde von privaten Spendern gesammelt und im Mai 1904 konnte das Säuglingsheim in Berlin-Schöneberg in der Akazienstr.7 eröffnet werden.611 Es bot Unterkunft für zwölf Mütter mit ihren Säuglingen und die Leitung des Hauses legte Wert darauf, dass die ledigen Mütter nicht mit moralischen Vorhaltungen und Belehrungen aufgehalten wurden, wie es ansonsten allenthalben üblich war: "In 15 deutschen Städten erhalten Wohlfahrtsvereine Wöchnerinnenheime, mit der ausdrücklichen Bestimmung, dass unverehelichte Mütter nicht aufgenommen werden dürfen ... Nur die Minderzahl der Heime macht keinen Unterschied ..."612 In Berlin wurden einzig in der Blumenstraße, in der "Unterkunft für hilfsbedürftige Wöchnerinnen",

609 Nachlass BA Koblenz, Mappe 69, 12.7.1902, "Nochmals zur Frage der Säuglingsheime", "Vossische Zeitung"

610 Nachlass BA Koblenz, Mappe 73, Vortrag "Sozialer Frauenschutz" im Verein "Heimat" im Dezember 1903 von Adele Schreiber, hg. als Drucksache des Vorstandes des Vereins "Heimat", Wien 1904

611 Nachlass BA Koblenz, Mappe 69, Mai 1904, Einweihung des Säuglingsheimes Schöneberg, Akazienstr.7: "Das Säuglingsheim steht unter dem Protektorat Ihrer Königl. Hoheit der Frau Erbprinzessin von Wied, die ärztliche Aufsicht führt Geheimrat Professor Heubner, in der Anstalt selbst wohnt der leitende Arzt Dr. Lissauer, dessen fünfjährige Tätigkeit im Kinderasyl in der Kürassierstr. vollste Gewähr für die Durchführung modernster Kinderpflege bietet."

Otto Heubner (1843-1926), Kinderarzt. Er arbeitete über chronische Verdauungsstörungen bei Kindern und gehört zu den Begründern der modernen Kinderheilkunde.; Meyers Universal Lexikon, Leipzig 1980, Bd.2, S.285 Abraham Lissauer (1832-1908), Dr. med., Prof., Hygieniker und Anthropologe. Er studierte in Berlin und Wien, promovierte 1856 und war bis 1863 in Neidenburg, dann bis 1892 in Danzig als Arzt tätig. Seitdem war er in Berlin Bibliothekar und Kusios der Schädelsammlung der Anthropologischen Gesellschaft. Seine umfassende

schriftstellerische Tätigkeit bewegte sich teils auf anthropologischem, teils auf medizinisch-hygienischem Gebiete.

So veröffentlichte er u.a. "Über das Eindringen von Kanalgasen in die Wohnräume".; Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog, Bd.13, 1908, Totenliste und Wininger, S.: Große jüdische National-Biographie, Bd. 4, 1929

ebenfalls familienlose Frauen aufgenommen. Innerhalb von drei Jahren wurde dort ca. 500 Müttern die Möglichkeit gegeben, sich nach der Niederkunft zu kräftigen, um dann dem Leben mit Kind gewachsen zu sein. Die Heime, die sich der unverehelichten Mütter annahmen, hatten jedoch häufig Probleme mit der öffentlichen Meinung, die ihnen vorwarf, mit dieser Unterstützung das Laster zu fördern. Trotzdem wurde im Verein Säuglingsheim von moralischer Belehrung Abstand genommen. "Wer ... Entstehung und Grundidee des Werkes kennt, sieht hier in kleinstem Rahmen eine große Idee verkörpert, die Bresche legt in die dreifach dichten Mauern der Engherzigkeit, des Vorurteils und des Pharisäertums. `Das Heim stellt es sich zur Aufgabe, soweit es seine Kräfte vermögen, eine der traurigsten Erscheinungen zu bekämpfen - das Elend der unehelichen Mütter und ihrer Kinder.´ Dieser einfache, selbstverständlich klingende Satz bedeutet ein ungeheures Stück Fortschritt in einer Zeit, wo man noch immer Frauen um ihrer Mutterschaft willen ein Verdammnisurteil aufbürdet ... Das kleine Heim in Schöneberg ... geht jedoch in seiner Tendenz über alles bisher Geschaffene hinaus. Es fußt auf einer höheren Moral. In seinen Statuten steht nichts von Fall und Buße, es fragt nicht nach der Vergangenheit, sondern nach der Zukunft, es will helfen, diese neu aufzubauen ..."613 Drei Monate lang konnten die Frauen mit ihren Kindern im Säuglingsheim wohnen, wobei die Mütter in der Kinderpflege angeleitet und unterstützt wurden. Erwähnenswert ist, dass das Heim den jungen Müttern bei der Arbeits- und Stellensuche behilflich war, damit sie nach ihrem Aufenthalt nicht in eine ungewisse Zukunft entlassen werden mussten. Und auch an Zerstreuung fehlte es nicht, weil die Heimmitarbeiterinnen es als ihre Hauptaufgabe verstanden, den Frauen ihr ohnehin schon kompliziertes Leben zu erleichtern. In der Folgezeit wurden im Säuglingsheim Unterhaltungsnachmittage angeboten, Sonntags fand eine interkonfessionelle Andachtsstunde statt, regelmäßige Sprechstunden wurden abgehalten und die Verantwortlichen bemühten sich ein Netzwerk aufzubauen, worüber kontinuierlich Arbeit für die Mütter nach ihrer Entlassung besorgt werden konnte.614

Sofort nach der Eröffnung war das Säuglingsheim voll besetzt und weitere hilfesuchende Mütter mussten abgewiesen werden. Deshalb wurde schon unverzüglich nach der Eröffnung darüber nachgedacht, das kleine Heim zu erweitern, jedoch standen die erforderlichen Geldmittel zunächst nicht zur Verfügung. Dennoch wurde nach einem Monat der Entschluss gefasst, das Säuglingsheim insofern zu vergrößern, als die an das Säuglingsheim anschließende Wohnung als

612 Nachlass BA Koblenz, Mappe 69, Mai 1904, Einweihung des Säuglingsheimes Schöneberg, Akazienstr.7

613 Ebd.

Mütterheim hinzugemietet wurde. Zwei Frauen des Vereins übernahmen die Kosten der Einrichtung. Adele Schreiber bot an "noch im Laufe der nächsten Tage eine Notiz über das Mütterheim in die Presse zu bringen"615, denn es sollte um Sachspenden und Unterstützung gebeten werden.

Außerdem versuchte sie Rechtsanwälte ausfindig zu machen, die die Frauen unentgeltlich beraten würden. Wahrscheinlich arbeitete sie auch als Hilfe im Heim selbst mit.

Unterschiedlich wurde an die Finanzierung von Säuglings- und Mütterheim herangegangen.

"Während das Säuglingsheim eine Wohltätigkeitsanstalt ist, in der die Mütter unentgeltlich gegen Verpflichtung häusliche Mitarbeit, aufgenommen sind, ist das Mütterheim als eine Wohlfahrtseinrichtung gedacht. Hier wohnen die Mütter und während sie ihrer Berufstätigkeit außerhalb des Hauses nachgehen, befinden sich die Kinder unter der Obhut der Schwestern. Von ihrem Verdienst zahlen die Mütter für das Kind ..."616 Finanziell, so war es geplant, sollte sich das Mütterheim aus eigener Kraft erhalten.617

Der Gesundheitszustand der Kinder war und blieb glücklicherweise durchgehend gut, und der Verein Säuglingsheim schloss sich mit dem neu entstandenen Verein für Mütter und Kinderheime zusammen. Mütter aus dem Mütterheim konnten so später in das Heim dieses Vereins618 übersiedeln, und aus dem an das Mütterheim angeschlossene Säuglingsheim konnten wieder Mütter ins Mütterheim überwechseln. Diese Organisationsstruktur garantierte den Anschluss an ein schon begründetes System, und die Fürsorge weitete sich kontinuierlich immer ein Stückchen weiter aus.619

Der Gesundheitszustand der Kinder war und blieb glücklicherweise durchgehend gut, und der Verein Säuglingsheim schloss sich mit dem neu entstandenen Verein für Mütter und Kinderheime zusammen. Mütter aus dem Mütterheim konnten so später in das Heim dieses Vereins618 übersiedeln, und aus dem an das Mütterheim angeschlossene Säuglingsheim konnten wieder Mütter ins Mütterheim überwechseln. Diese Organisationsstruktur garantierte den Anschluss an ein schon begründetes System, und die Fürsorge weitete sich kontinuierlich immer ein Stückchen weiter aus.619

Im Dokument Konsequent den unbequemen Weg gegangen (Seite 179-200)