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ENGAGEMENT IN DER FRAUENBEWEGUNG

Im Dokument Konsequent den unbequemen Weg gegangen (Seite 136-179)

Die Gruppierungen in der deutschen Frauenbewegung

Die Frauenbewegung in Berlin zu Beginn des 20.Jahrhunderts war keine einheitliche Bewegung.

Da es den Frauen noch bis 1908 untersagt bleiben sollte, an öffentlichen Versammlungen teilzunehmen, nutzten sie die einzige ihnen zustehende Form der Organisierung: die Vereine.429 Die Vorstellungen, der in der Gesellschaft nötigen Veränderungen, mussten zwischen Proletarierfrau und Bürgerin stark divergieren.430 Durch diese verschiedenen Grundvoraussetzungen bei den Frauen der einzelnen Schichten verwundert es nicht, dass sich bereits Mitte des 19.Jahrhunderts mit der Entwicklung der Frauenbewegung diese in eine jeweils ihrer Klasse bzw. Schicht entsprechende Gruppe aufsplitterte. Am Ende des 19.Jahrhunderts war die Ausdifferenzierung der Frauenbewegung so weit fortgeschritten, dass von drei unterschiedlichen Richtungen die Rede sein muss. Die Frauenbewegung unterteilte sich in einen linken, radikalen Flügel, in einen gemäßigten431 und in einen konservativen432 Flügel.

429 Vereine galten zu der damaligen Zeit als private Vereinigung, da nur eingeschriebene Mitglieder mitarbeiten konnten, im Gegensatz zu Parteien, an deren Parteiversammlungen auch Nicht-Mitglieder teilnehmen konnten.

Dieser nicht-öffentliche Status der Vereine beförderte die Entstehung der Frauenbewegung, da er eine

Organisationsform bot, über die die Frauen handeln konnten. Die bestehende soziale Differenzierung der modernen Industriegesellschaft brachte es mit sich, dass keine geschlossene Frauenbewegung entstehen konnte.

430 Das bürgerliche Rollenmodell, bei dem die Bürgersfrau durch die Erwerbstätigkeit ihres Mannes jeder außerhäuslichen Tätigkeit enthoben war, war für die Unterschichten gar nicht anzustreben, da Arbeiterfrauen aus Gründen der Existenzerhaltung erwerbstätig sein mussten. Von daher hatten voneinander völlig verschiedene Problemstellungen Vorrang, wenn es um die Verbesserung der Lebensumstände ging, zu denen auch die Arbeitsbedingungen gehörten.

431 Der mittlere Flügel, die Gemäßigten, setzte sich gegen ein Frauenideal der Gesellschaft zur Wehr, das die Frauen in den häuslichen Bereich verwies. Doch sollten auch Kindererziehung und Hausarbeit nicht das einzige

Wirkungsfeld der Frau sein. Sollte der Kultureinfluss der Frauen erweitert werden, so wurde doch eindeutig die Hauptbestimmung der Frau in der Mutterschaft gesehen, womit die Grenzen der Emanzipationsbemühungen im mittleren Flügel benannt sind. Politisch waren die Gemäßigten meist liberal oder nationalliberal ausgerichtet, wodurch sich der mittlere Flügel erst spät für ein demokratisches bzw. Drei-Klassen-Wahlrecht für Frauen engagierte. Als Vertreterinnen können hier Helene Lange und Gertrud Bäumer genannt werden.

432 Der rechte Flügel, die Konservativen, in dem sich Frauen wie Mathilde Ludendorff und Agnes von Zahn-Harnack engagierten, legte sein Hauptaugenmerk auf das Recht für Bildung auch für die Frau, setzte sich für das kommunale und kirchliche Frauenstimmrecht ein und für die wirtschaftliche Selbständigkeit der ledigen Frau. Die Konservativen waren meist konfessionell gebunden und orientierten sich an den konservativen bis deutschnationalen Parteien. Sie verfolgten eine verbesserte Stellung der Frau in der Gesellschaft, konnten sich aber mit

emanzipatorischen Bestrebungen des mittleren und des radikalen Flügels nicht identifizieren.

Mathilde Ludendorff (1877-1966), Schriftstellerin. Sie war die Verkünderin eines deutschen Gottesglaubens unter Bekämpfung des Christentums und veröffentlichte zahlreiche Schriften, u.a. "Das Weib und seine Bestimmung"

1917 und "Deutscher Gottesglaube" 1927.; Lexikon der Frau, Bd.2, 1954 und Kürschners Deutscher Literaturkalender, Nekrolog 1936-1970, 1973

Agnes von Zahn-Harnack (1884-1950), Vorkämpferin für Frauenrechte. Einer Ausbildung zur Lehrerin folgten

Der linke Flügel, die Radikalen, zu dem Adele Schreiber zu zählen ist, forderten gleiche Menschenrechte für Männer und Frauen. Sie kämpften um ein demokratisches Frauenwahlrecht und setzten sich zudem für eine verbesserte Rechtsstellung der Frau ein. Die Frau sollte die Möglichkeit haben, sich als Persönlichkeit auszubilden, auch wenn ihre Rolle als Mutter und Ehefrau nicht unbedingt in Frage gestellt wurde. Politisch vorwiegend liberal, waren einige Vertreterinnen auch demokratisch oder sozialistisch orientiert. Vertreterinnen der proletarischen, an der SPD orientierten Frauenbewegung sind neben Clara Zetkin auch Minna Cauer, Henriette Fürth433, Lily Braun, Waltraud Zepler434 und Rosa Luxemburg435. Bei den radikalen bürgerlichen Frauen müssen Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann, Helene Stöcker und Alice Salomon genannt werden.436

War vom Beginn der Frauenbewegung bis in die 90er Jahre die Bildungsfrage in der bürgerlichen Frauenbewegung das Hauptthema gewesen, erstarkte am Ende des 19.Jahrhunderts der radikale Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung. Eine neue Generation von Frauen begann in der Frauenbewegung mitzuarbeiten, was neue Themen und Schwerpunkte zur Folge hatte. Obwohl um 1900 den Frauen ein starker Antifeminismus entgegenschlug, wenn sie es wagten, die

Studium und Promotion in Germanistik. Sie leitete verschiedene Frauenschulen, von 1913 bis 1919 sowie 1926 war sie Vorsitzende des "Deutschen Akademikerinnenbundes" und von 1931 bis 1933 die letzte Vorsitzende des BDF.

Nach dem Krieg gründete sie für den "Berliner Frauenbund" eine Hochschulgruppe, die sich 1949 in den "Bund Deutscher Akademikerinnen" umbenannte. Sie veröffentlichte u.a. "Der Krieg und die Frauen" 1915 und gemeinsam mit H.Sveistrup 1934 "Die Frauenfrage in Deutschland, 1790-1930", ein Standardwerk der Frauenbewegung.;

Lexikon der Rebellinnen, S.284

433 Henriette Fürth (1861-1938), Politikerin. Als Mutter von acht Kindern machte sie 1891 in einer Publikation auf die Mängel im Pflegekinderwesen aufmerksam, veröffentlichte 1907 "Mutterschutz durch

Mutterschaftsversicherung", arbeitete in der privaten Fürsorge und in einer Rechtsschutzstelle für Frauen in Frankfurt. Sie kämpfte für das Frauenstimmrecht, von 1919 bis 1924 war sie Stadtverordnete der SPD, 1933 entließen die Nazis sie aus allen Ämtern und sie verließ Frankfurt.; Lexikon der Rebellinnen, S.100/101

434 Waltraud Zepler (Daten unbekannt), Frauenrechtlerin. Sie arbeitete vorwiegend schriftstellerisch für den revisionistischen Flügel der sozialdemokratischen Frauenbewegung und trat für eine Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Frauenbewegung ein.; Weiland, D.: Geschichte der Frauenemanzipation in Deutschland und Österreich, 1983

435 Rosa Luxemburg (1871-1919), Revolutionärin und Theoretikerin der internationalen Arbeiterbewegung

polnischer Herkunft. 1893 zählte sie mit ihrem Lebensgefährten Leo Jogiches zu den Gründern der Sozialdemokratie des Königreichs Polen. Nach ihrer Promotion 1897 siedelte sie 1898 nach Berlin über, wo sie sich als Mitglied der deutschen Sozialdemokratie zu einer international geachteten marxistischen Theoretikerin und Politikerin

entwickelte. Sie veröffentlichte zahlreiche Schriften, beteiligte sich 1905/06 und 1918/19 aktiv an Revolutionen, lehrte von 1907 bis 1914 an der SPD-Parteischule und trat gegen Militarismus und für den Schutz der

Menschenrechte auf. Als Mitbegründerin der KPD wurde sie gemeinsam mit Karl Liebknecht von aufgehetzten Soldaten bestialisch ermordet.; Lexikon der Rebellinnen, S.174/175

436 Adele Schreiber wechselte vom bürgerlichen Lager, wo sie sich gemeinsam mit Helene Stöcker im "Bund für Mutterschutz" engagiert hatte, zur proletarischen Bewegung als sie sich 1920 für die SPD in den Reichstag wählen ließ.

politische Arena zu betreten, um ihren Widerstand gegen herrschende Zustände zu artikulieren, begannen die Frauen immer neue Themenbereiche in ihr Engagement einzubeziehen. In den Vordergrund traten nun Diskussionen um eine "Neuen Ethik", um "Sittlichkeitsfragen" und um das Frauenstimmrecht, Themen die die nächsten zwanzig Jahre in der Frauenbewegung prägten.

Feministinnen der damaligen Zeit waren keine militanten Frauen, die sich primär für das Frauenwahlrecht einsetzten und gehörten auch nicht immer einer Partei oder Kirche an. Es waren meist Frauen aus der Mittelschicht, die eine sinnvolle Aufgabe für ihr Leben suchten. Sie waren gebildet und das Fehlen eines wirklichen Lebensinhaltes stand ihnen stets vor Augen, da Ehe und Kinder von Beginn an für sie nicht als einziges Lebensziel akzeptiert werden konnte, und sie sich zudem in der Rolle, der auf einen Ehemann wartenden jungen Frau, nicht wohlfühlten.

In Verbindung mit dem Erbe aus Elternhaus und Schulen führten die Auseinandersetzung mit den sozialen Problemen Adele Schreiber zu ihren persönlichen Überzeugungen, die Grundlage ihrer politischen, pädagogischen und philosophischen Anschauungen wurden. Ihr Engagement bezog sich immer auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Benachteiligten in der Gesellschaft, besonders widmete sie sich der unverehelichten Mutter und ihrem Kind. Genauso kämpfte sie aber, auch in ihrem eigenen Interesse, für die Gleichberechtigung der Frauen. Auf der Suche nach progressiven Vorbildern wurde sie bei den Frauen der Romantik fündig. Frauen wie Henriette Herz437 oder Rachel Varnhagen438 dienten ihr als Vorbilder für einen weiblichen Lebensentwurf, in dem eigene Interessen sowie das Wirken in der Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spielen. Die Frauen der Romantik wurden durch ihre Teilnahme und besonders durch ihre Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens Wegbereiterinnen der Emanzipationsbestrebungen der Frauen im wilhelminischen Deutschland. Durch den unübersehbaren Einfluss der oben genannten Frauen in der damaligen Gesellschaft wurde die männliche Theorie des schwachen Geschlechts ad

437 Henriette Herz (1764-1847), Schriftstellerin. Als Jüdin erhielt sie eine umfassende Bildung, sprach neun Sprachen und gründete einen freimaurerischen "Tugendbund" zur Pflege der Freundschaft. Ihr literarischer Salon, der erste in Berlin, war Treffpunkt der Romantiker. Ab 1813 bildete sie junge Mädchen für den Beruf der Erzieherin aus.; Lexikon der Rebellinnen, S.126/127

438 Rahel Levin Varnhagen von Ense (1771-1833), Philosophin und Salonière. Die wohl bekannteste Berliner Jüdin des 19.Jahrhunderts brachte sich selbst fünf Sprachen bei und begann nach umfangreicher literarischer Bildung mit ihrem Salon, dem ersten einer unverheirateten Frau, der von 1790 bis 1806 in ihrem Elternhaus stattfand. Viele der bekanntesten Zeitgenossen besuchen den Salon, wie auch die Gebrüder Humboldt und Jean Paul. 1914 heiratete sie den jüngeren Karl August Varnhagen von Ense, nachdem sie vom jüdischen Glauben zum Protestantismus

konvertiert war, und lebte u.a. in Wien. Nach ihrer Rückkehr 1819 nach Berlin eröffnete sie ihren zweiten Salon, den u.a. B.von Arnim, G.W.F. Hegel und F. Grillparzer besuchten. Ihr Nachlass umfasst mehrere tausend Briefe und Tagebücher.; Lexikon der Rebellinnen, S.270/271

absurdum geführt. Adele Schreiber stellte außerdem fest, dass im Ausland die Verfechterinnen der politischen Gleichberechtigung der Frau, wie Condorcet439, Olympe de Gouges440 oder Mary Wollstonecraft441, viel radikaler auftraten.442

Damit es auch den deutschen Frauen möglich wurde, ihre Rechte selbst zu vertreten, mussten sie für politische Fragen interessiert werden. Aufklärungsarbeit nahm somit einen großen Stellenwert in der politischen Arbeit ein. Durch Einblick in das Funktionieren der Gesellschaft sollten die Frauen zu eigenen Urteilen gelangen und daraus eigene Wege der Mitgestaltung ableiten. Die Frauen forderten, dass der Staat die Voraussetzungen schaffen müsse, dass es neben der Mutterrolle für sie nicht ausgeschlossen sei, die Fortbildungsangebote zu nutzen.

Die Frauen wollten eine kulturelle Erneuerung erkämpfen, die mit den konventionellen Vorstellungen von Weiblichkeit nicht vollständig brach. Der Mut, das Engagement und das kritische Denken, mit der sie diese feministische Vision bereit waren umzusetzen, ist bis heute relevant geblieben. "Schon 1901 setzte ich mich in Wort und Tat für Stiefkinder der Gesellschaft ein, war an der Gründung von Mütterheimen, von Vereinigungen wie der Bund für Mutterschutz, die Deutsche Gesellschaft für Mutter- und Kindesrecht und deren Zweigen aktiv beteiligt. Das grosse Werk der englischen Pionierin Josefine Butler, der Kampf gegen die Reglementierung der Prostitution und gegen

439 Marquis Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet (1743-1794), französischer Philosoph,

Mathematiker und politischer Aktivist. Neben seiner erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeit, war er von Beginn an ein begeisterter Unterstützer der französischen Revolution. Er war ein Verfechter der Frauenrechte und publizierte 1790 die Schrift "Sur l´admission des femmes au droit de cité", in der er für die Einsetzung der Frauen in alle politischen und städtischen Rechte plädierte, inklusive des Stimmrechts. Die Jacobiner brachten ihn ins Gefängnis, wo er starb.; www.tasc.ac.uk/histcourse/suffrage/coredocs/biograp2.htm

Sophie de Condorcet (1764-1822), Sie teilte die Ideen ihres Mannes, war wie er Anhängerin der Girondisten und plädierte für eine aufgeklärte Verfassung. Wie ihr Mann wurde auch sie von den Jakobinern inhaftiert, jedoch konnte sie am 9.Termindor befreit werden und führte in der Zeit danach einen liberalen Salon.; Dictionnaire des personnages historiques francais, 1962

440 Olympe de Gouges (1748-1793), eigentlich Marie Gouze, französische Feministin und Schriftstellerin. Während der französischen Revolution eher eine Außenseiterin, kämpfte sie für die Unterdrückten, war in der Frauensache radikal, in der Politik eher gemäßigt. Als Gegnerin Robespierres und der konstitutionellen Monarchie veröffentlichte sie 1791 ihre "Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin". Sie starb unter der Guillotine.; Lexikon der

Rebellinnnen, S.110

441 Mary Wollstonecraft (1759-1797), englische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. Der Versuch eine eigene Schule zu gründen scheiterte, sie legte daraufhin ihre Erkenntnisse in der Schrift "Gedanken über die Erziehung von Töchtern" nieder, musste aber eine Stellung als Erzieherin annehmen, um Geld zu verdienen, dann fand sie eine Stellung in einem Verlag. Ihre Begeisterung und ihr brilliantes Plädoyer für die französische Revolution machten sie über Nacht berühmt, 1792 veröffentlichte sie "Eine Verteidigung der Rechte der Frau". Bei der Geburt ihrer zweiten Tochter, Mary Shelley (Frankenstein), starb sie.; Lexikon der Rebellinnen, S.281/282

442 Ende der 20er Jahre begann Adele Schreiber mit einer weiblich akzentuierten Geschichtsschreibung, nachdem sie entdeckt hatte, dass von bedeutenden Frauen in der Geschichte fast nie die Rede war, dass niemand ihre Taten und ihren Einfluss erwähnte und sie so dem Vergessen anheimfielen. Daraufhin begann sie, bedeutende Frauen aus

die doppelte Moral, die sich so grausam an den Frauen vor allem der mittleren Schichten auswirkt, hatte auch in Deutschland ein Echo in der Abolitionistischen Föderation gefunden - gerne habe ich mich in ihren Dienst gestellt."443

Trotzdem Adele Schreiber in der Frauenbewegung arbeitete, wollte sie nie Frauenrechtlerin genannt werden, da diese Bezeichnung im öffentlichen Sprachgebrauch als Diskriminierung benutzt wurde. Auguste Fickert äußerte sich schon 1895 genau im gleichen Sinne: "Es ist überhaupt ein kleinlicher Standpunkt, das sich um seine Rechte herumstreiten, er hat den bürgerlichen Frauen den Namen Frauenrechtlerinnen eingetragen, ein Name, der immer einen üblen Beigeschmack von Engherzigkeit und Rechthaberei haben wird."444

Lida Gustava Heymann berichtete, dass, ganz im Gegenteil zur öffentlichen Meinung, die radikalen Frauen "bei allem heiligen Ernst für die Sache" eine "lustige Arbeitsgemeinschaft"

waren, dass nach der Gründung des Vereins "Frauenwohl" - mit unverhüllter Sachlichkeit Protest gegen alles eingelegt wurde, was ungerecht erschien.445

Kongresse zu sozialen Problemstellungen

Adele Schreiber besuchte Kongresse mit verschiedenen sozialen Problemstellungen und nahm an den dortigen Diskussionen teil, die als Spiegelbild der Gesellschaft demonstrierten, welche durchaus sehr unterschiedlichen Standpunkte zu einem Thema von verschiedenen Vertretern auf den Kongressen repräsentiert wurden. Man erkennt Adele Schreibers Ehrgeiz, immer auf dem Laufenden zu sein und aktuelle Informationen zu haben. Sie nahm an den Diskussionen teil, widerstreitende Meinungen wurden ausgetauscht und man traf immer auf ähnlich interessierte und ambitionierte Leute, mit denen sich Ideen austauschen ließen, die Anregung und Weiterentwicklung versprachen. Kontakte wurden neu geknüpft und auch gepflegt, denn auf ein funktionierendes Netzwerk war sie als selbständige Journalistin unbedingt angewiesen.

verschiedenen Zeiten zu porträtieren um so zu zeigen, dass es zu allen Zeiten auch starke und fortschrittliche Frauen gegeben hatte.

443Nachlass BA Koblenz, Mappe 1, handschriftliche Erinnerungen

Josephine Butler (1828-1906), englische Sozialreformerin. Sie kämpfte gegen die staatlich geschützte Prostitution und durch ihre Initiative wurde 1875 in Liverpool die Gründung der Internationalen Abolitionistischen Föderation beschlossen.; Naumann, G.: Minna Cauer ..., Biographische Angaben ...

444 Allgemeiner Österreichischer Frauenverein, 1895, 3. Jahresbericht, S.6f.; zit. nach: Anderson, H.: Vision ..., S.23

445 Heymann, L.G.: Erlebtes ..., S.57

Die oftmals heftigen Diskussionen, die auf den Kongressen abliefen, werden anhand von Zeitungsartikeln deutlich, die Adele Schreiber für die aktuelle Tagespresse verfasste, als sie beispielsweise vom Bremer Kongress gegen den Alkoholismus446 berichtete. Der Kongress wurde insgesamt, so schrieb sie, von "unnachsichtigen Abstinenten"447 dominiert, die nicht bereit waren, Kompromisse einzugehen. Zwar waren sich alle Anwesenden weitgehend über den Schutz der Kinder und Jugendlichen einig, alle weiteren Meinungen gingen jedoch auseinander.

Der überzeugte Verfechter der Totalabstinenz, Professor Forel448, erklärte in seinem Vortrag

"unseren Alkoholgenuß für ebenso unberechtigt und verderblich, wie den Opiumgebrauch der Chinesen"449. Die amerikanische Vertreterin Mrs. Mary Hunt aus Boston verwies darauf, dass in allen amerikanischen Schulen die Erziehung zur Totalabstinenz Fuß gefasst hat. Doch nicht nur den Kindern, auch den Erwachsenen sollte der Alkohol ganz grundsätzlich verboten werden, so zum Beispiel den Lehrern. Ein Ansinnen, gegen das Adele Schreiber sich verwahrte: "Ohne weiter auf die Abstinenzfrage der Lehrer einzugehen, sei nur bemerkt, dass diese Argumentation keineswegs glücklich gewählt ist - sollen Lehrer oder Eltern gleichfalls nicht spät zu Bette gehen, das Theater meiden, nicht rauchen, keinen Ball besuchen, keine Romane lesen etc., weil all diese Dinge für Kinder zu verurteilen sind?"450 Auch von der Leitung der Sozialdemokratischen Partei wurde in diesem Zusammenhang gefordert, dass sie für die Abstinenzlerbewegung einzutreten habe. Adele Schreiber befand, dass diese Bemühungen eindeutig zu weit gingen und den Erwachsenen nicht das Recht auf Selbstbestimmung genommen werden sollte. Sie war gegen eine Reglementierung der erwachsenen Menschen. Solcherart Bevormundung war ihr prinzipiell zuwider.

446 Nachlass BA Koblenz, Mappe 69, 13.5.1903, "Bremer Kongreß gegen den Alkoholismus", in "Meraner Zeitung"

447 Ebd.

448 August Forel (1848-1931), Dr. med., Dr. jur., Dr .med. h.c., Mediziner. Er studierte in Zürich, promovierte dort und wurde 1873 Assistenzarzt an der Kreisirrenanstalt in München, wo er sich 1877 für Psychiatrie habilitierte. 1879 wurde er Professor des Faches in Zürich und Direktor der kantonalen Irrenanstalt Burghölzli. 1898 legte er seine Stellungen nieder, um zuerst in Chigny, dann in Yvorne als Privatgelehrter zu leben. Besondere Verdienste erwarb er sich um die Anatomie des Gehirnes. Den Zuständen bedingter Zurechnungsfähigkeit widmete er eingehende Studien, die ihn zu den Bemühungen um eine Reform des Strafrechtes führten. Er gehörte auch zu den

hervorragendsten Vertretern der Abstinenzbewegung, der Volksbildungs- und Volkserziehungsidee sowie des Völkerfriedens. Er verfasste u.a. "Zur staatlichen Regulierung der Prostitution" 1891 und "Gesammelte hirnanatomische Abhandlungen" 1907.; Kürschners deutscher Gelehrten-Kalender, Jg.4, 1931

449 Nachlass BA Koblenz, Mappe 69, 13.5.1903, "Bremer Kongreß gegen den Alkoholismus", in "Meraner Zeitung"

450 Ebd.

Ebenso radikale Ansichten wie die Vertreter der Totalabstinenz, wenn auch hinsichtlich der Fortpflanzung, vertraten die auf dem Kongress anwesenden Rassehygieniker Dr. Ploetz451 und Dr. Rüdin452, die dafür plädierten, dass alle aus Verbindungen mit Trinkern hervorgegangenen Schwangerschaften abgebrochen werden müssen. Dagegen wandten sich verschiedene Kongressteilnehmer, unter ihnen auch Professor Forel, die eine derartige gewaltsame Rassenhygiene ablehnten. Auch Adele Schreiber bezweifelte die Möglichkeit, dass solche radikalen Ideen jemals aus der Theorie in die Praxis übertragen werden könnten. Zudem misstraute sie, auch wenn sie sich bewusst war, dass sie auf diesem Gebiet nur Laie war, der Richtigkeit der Aussage, dass durch solche Auslese die Rasse verbessert werden könnte. Sie hatte als Vertreterin der Schwachen, als die sie sich verstand, starke moralische Bedenken, die Hilflosen einer derartigen Fremdbestimmung auszusetzen, gegen die sie wehrlos sind und die sie zu Opfern machen müsse. Die Folgen eines so radikalen Eingriffes waren für sie überhaupt nicht absehbar: "Eine gesetzliche Auslese, wie sie Rüdin vorschlägt, müßte sich doch nicht auf die Alkoholiker allein erstrecken, sondern auf alle anderen Kranken. Es könnte sich leicht ereignen, dass gerade ein künstlich `ausgejätetes´ Land eine ganz unersetzliche Einbuße an Kulturfaktoren erleiden und in seiner ganzen Entwicklung hinter einem sich natürlich entfaltenden zurückbleiben würde. Beweisen läßt sich freilich weder die eine noch die andere Anschauung."453

Neben der Alkoholdebatte wurde das Problem der Heimarbeit ins Gesichtsfeld der Öffentlichkeit gerückt. Ganze Familien waren in ihrer Armut gezwungen, unter schlechtesten Wohnverhältnissen im Akkord Waren herzustellen. Auf dem Heimarbeiter-Kongress 1904 wurden die unmenschlichen Bedingungen diskutiert, unter denen die Heimarbeiter tagtäglich

451 Alfred Ploetz (1860-1940), Mediziner. Er studierte u.a. in Zürich und Basel und promovierte 1890. Er ging dann nach Amerika, war im Osten der Vereinigten Staaten als praktischer Arzt tätig und lebte, nach Deutschland

zurückgekehrt, in Berlin und München. Dort war er hauptsächlich mit experimentellen Untersuchungen über die Änderung der Erbmasse beschäftigt und gehörte zu den Begründern der Rassenhygiene in Deutschland. Weitere

zurückgekehrt, in Berlin und München. Dort war er hauptsächlich mit experimentellen Untersuchungen über die Änderung der Erbmasse beschäftigt und gehörte zu den Begründern der Rassenhygiene in Deutschland. Weitere

Im Dokument Konsequent den unbequemen Weg gegangen (Seite 136-179)