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AUFBAU EINER EIGENEN EXISTENZ IN BERLIN

Im Dokument Konsequent den unbequemen Weg gegangen (Seite 70-136)

Ankunft in Berlin

"Ein glückverheissender neuer Lebensabschnitt! Endlich erhielt ich die Erlaubnis nach Berlin zu gehen, auf eigenen Füssen zu stehen. Daheim glaubte man freilich, Ernst und Mühen beruflicher Arbeit würden mich bald heilen und ins bequemere Elternhaus zurückführen. Diese Hoffnung habe ich enttäuscht - es war endlich vorbei mit dem Haustöchterdasein."186

Endlich war der Zeitpunkt der Unabhängigkeit für Adele Schreiber gekommen, sie führte zum ersten Mal ein eigenes Leben. Dass sie zu den selbständigen Frauen dazugehörte, war für sie der Beweis, dass sie einen Sieg errungen hatte. Sie fühlte sich erwachsen und war stolz auf sich. Nun lebte sie nicht mehr bequem und war versorgt, aber darum war es Adele Schreiber nie gegangen.

Sie drang darauf sich auszuprobieren, wollte ihre Fähigkeiten beweisen und nahm deshalb auch ein Arbeitsangebot an, das nicht ihren eigentlichen Vorstellungen entsprach, dafür aber ausbaufähig erschien.

Die Anstellung bei der Versicherungsgesellschaft in Berlin rettete sie. Mit dem Überdruss war es vorbei. "Ein Zufall brachte mir vor 12 Jahren das Anerbieten eines hervorragenden Fachmannes der Versicherungsbranche nach Berlin zu kommen, mich hier theoretisch im Versicherungswesen auszubilden, die Leitung einer von ihm geplanten grossen Frauen-Versicherungs-Gesellschaft zu übernehmen."187 Zwar war diese Beschäftigung nicht gerade das, was sie sich für ihren Start in ein eigenes Leben vorgestellt hatte, aber wenigstens war diese Festanstellung ein von den Eltern akzeptierter Grund, für den sie das Elternhaus verlassen durfte. Sicher hegte sie die Hoffnung, dass sich, erst einmal in Berlin angekommen, die Möglichkeit bieten würde, eine andere Arbeit zu finden. In der Reichshauptstadt Berlin ist sie am Puls der Zeit.

Sie stand zum ersten Mal in ihrem Leben auf eigenen Füßen und wusste, dass sie auf gar keinen Fall geschlagen und erfolglos nach Hause zurückkehren würde. Nun konnte sie ihren Eltern beweisen, dass sie mehr kann, als man ihr zugetraut hatte, und dass ihr früher Kampf um eine Ausbildung berechtigt gewesen war.

186 Nachlass BA Koblenz, Mappe 1, Blatt 24-27, Wie ich wurde, ca.1926

187 Nachlass BA Koblenz, Mappe 1, Blatt 1-4, o.T., ca.1910

Bei der Versicherung bezog Adele Schreiber ein festes Gehalt, bekam außerdem Provisionen und wurde 1899 Generalvertreterin der Versicherung für Berlin und die Vororte.188 Der Plan, eine Frauenversicherung zu gründen, wurde von der Versicherung jedoch fallengelassen und so beendete sie nach zwei Jahren ihre Tätigkeit in der Versicherungsbranche. Dass ihre Festanstellung und ihr festes Einkommen damit hinfällig wurden, scheint ihr kein großes Kopfzerbrechen bereitet zu haben, hatte sie sich doch, wohlweislich, bereits neben ihrer Arbeit nach anderen Verdienstmöglichkeiten umgesehen. Wie sie in den ersten Briefen schon betont hatte, hing sie nicht an monotoner Arbeit und die Tätigkeit in der Versicherung wird also nicht die Erfüllung ihrer Träume gewesen sein. Andere Betätigung lockte. "Auf diesem Umweg, (fast zwei Jahre war ich im Direktionsbüro einer Versicherungsgesellschaft tätig), fasste ich in der Presse, in der Frauenbewegung Berlins festen Fuss. Denn nach Büroschluss gab es reichlich Zeit zu eigener Schriftstellerei, zum Besuch von Vorträgen, etc. Die geplante Frauen-Versicherungsgesellschaft wurde schliesslich nicht begründet, damit verlor jedes weitere Verbleiben im Versicherungsfach für mich das Interesse. Ich konnte ja nun auch schon als Journalistin auf eigenen Füssen stehen."189

In Berlin, dem Zentrum der Arbeiter- und Frauenbewegung fand sie vielfältige Möglichkeiten, ihren Horizont zu erweitern und ihren eigenen Arbeitsbereich zu vergrößern. Für sie war es ein Glück, dass die Frauen seit der Mitte des 19.Jahrhunderts begonnen hatten, sich in öffentliche Belange der Gesellschaft einzumischen und zu Beginn des 20.Jahrhunderts schon so weit in die Öffentlichkeit hinausgetreten waren, dass bereits organisatorische Strukturen existierten, die zwar noch nicht zufriedenstellend waren, in die sie sich aber integrieren konnte.190 Adele

188 Vertrag mit: Deutscher Anker Pensions- und Lebensversicherungs-Aktiengesellschaft in Berlin, Grundkapital 8 Millionen Mark, Friedrichstr. 236, Berlin, 16.12.1899; Nachlass BA Koblenz, Mappe 16

189 Nachlass BA Koblenz, Mappe 1, Blatt 1-4, o.T., ca.1910

190 Durch übergreifende gesellschaftliche Veränderungen, wie die Französische Bürgerliche Revolution und die stattfindende Industrialisierung beispielsweise, war es überhaupt erst zu grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen gekommen, die zur Entwicklung einer Frauenbewegung beigetragen hatten. Die Umwandlung der Gesellschaft von einer traditionellen, vorindustriellen in eine moderne, industrielle brachte neue

Lebensmöglichkeiten mit sich: "Es ist das Kennzeichen einer modernen Gesellschaft, dass der Platz eines jeden in der Gesellschaft weniger festgelegt ist. ... Die Gesellschaft bietet neue Arbeitsplätze, neue Wohnorte, neue Bildungswege und neue Lebensformen an, die es früher in dieser Vielfalt nicht gab."; Kolinsky, Eva: Women in 20th-century Germany. A reader, Manchester/ N.Y. 1995, S.9

Von diesen neuen Lebensmöglichkeiten blieben die Frauen zunächst aber wieder weitestgehend ausgeschlossen, was sie mit der Zeit aber nicht mehr hinzunehmen bereit waren. Mit der 1871 erfolgten Gründung des Deutschen

Kaiserreiches und der damit verbundenen Schaffung einer Verfassung für den gesamten Nationalstaat Deutschland wurden die Hoffnungen der Frauen auf mehr Rechte endgültig enttäuscht. Das verstärkte den Kampf der Frauen um Anerkennung nur.

Schreiber beschreibt Deutschland zur damaligen Zeit in Stichpunkten191 wie folgt: "Latenter Antisemitismus, Knebelung freier Kritik (Majestätsbeleidigungsprozesse). ... Trotz alledem - Deutschland ein Rechtsstaat. Persönliche Sicherheit, unbestechliches Beamtentum, wissenschaftliche, kulturelle, industrielle, technische Höchstleistungen, steigende Volksbildung, sozialer Fortschritt, Hoffnung für Idealisten. Wilhelms Machthunger ... Misstrauen des Auslandes."192 Damit beschreibt sie prägnant die herrschenden Gegensätze.

Um den Kampf für die Chancengleichheit der Frau in der Gesellschaft nicht verloren zu geben, verstärkten die Frauen, in dem ihnen möglichen Rahmen, ihre Anstrengungen, als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt zu werden. Für die Weiterentwicklung ihrer politischen Ansichten, sowie um Einsichten in aktuelle Tagespolitik zu gewinnen, war Berlin die ideale Stadt. In Berlin wimmelte es von den verschiedensten sozialreformerischen Gruppen - bürgerliche und proletarische Frauenvereine, die Sozialpolitiker, Monisten, Pazifisten, die Ethische Gesellschaft. Vorträge über die verschiedensten Themen fanden allabendlich statt, wie Lida Gustava Heymann193 in ihren Memoiren bestätigt: "... laufend wurden Themen erörtert über Armen- und Waisenpflege, zur Arbeiterinnen-, Sittlichkeits-, Mädchenschul-, Alkoholfrage, über Versicherungswesen, zur Kleiderreform usw."194 Die lange aufgesparte Kraft konnte sich in den verschiedenen Arbeitsbereichen entfalten, eine Tätigkeit zog immer weitere Aufgabenfelder nach sich und Adele Schreiber war glücklich, endlich gebraucht zu werden und zur gesellschaftlichen Entwicklung beitragen zu können. Sie hatte sich von dem Stigma, nur die Tochter des bekannten Arztes zu sein, befreit und konnte sich selbst beweisen, ganz selbständig und eigenverantwortlich sein. Sie war in der folgenden Zeit unentwegt tätig, knüpfte Kontakte, lernte und arbeitete. Adele Schreiber berichtete über die von ihr besuchten Versammlungen sowie über stattfindende Kongresse und konnte so ihre bereits im Elternhaus begonnene Arbeit für verschiedene Zeitungen, durch ihr Interesse an sozialen Fragen und der Tagespolitik in Berlin, weiter ausbauen.

191 Die Notizen wurden von ihr für einen Vortrag nach 1945 ausgearbeitet.

192 Nachlass BA Koblenz, Mappe 58, Viermal Deutschland, verfasst nach 1945

193 Lida Gustava Heymann (1868-1943), Pazifistin und Frauenrechtlerin. Ihr ererbtes Vermögen nutzte sie für sozialpolitische Aktivitäten. Sie war Leiterin des Hamburger Vereins "Frauenwohl", gehörte dem "Verband fortschrittlicher Frauenvereine" an und kämpfte in führender Position für das Frauenstimmrecht. Sie begründete 1915 in Den Haag die "Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit" mit und kehrte gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Anita Augspurg 1933 nach einem Auslandsaufenthalt nicht nach Deutschland zurück.; Lexikon der Rebellinnen, S.127

Sie veröffentlichte gleichzeitig in sozialdemokratischen wie in bürgerlichen Blättern, weil ihr daran gelegen war, auch die bürgerlich-liberalen Kreise zu erreichen. Sie wollte ihre Ideen erklären und verbreiten, zudem brauchte sie jedes Honorar zum Leben. Dieses Suchen nach Verdienstmöglichkeiten war vielleicht mit ein Grund, warum sie nicht Mitglied der Sozialdemokratischen Partei wurde. Als Sozialdemokratin wurde man scharf angegriffen, veröffentlichte man etwas in bürgerlichen Blättern. Diese Engstirnigkeit lag ihr nicht, und sie konnte sie sich gar nicht leisten.

Ihr Fleiß, ihre Unermüdlichkeit und ihr Ehrgeiz machen deutlich, wie sehr ihr daran gelegen war zu demonstrieren, dass sie ohne die Hilfe der Familie auskam. Die Notwendigkeit der ökonomischen Unabhängigkeit stellte sich mit ihrem Weggang aus dem Elternhaus, da ihr bewusst war, dass sie nur mit einem von ihr selbst erstrittenen Lebensunterhalt ihren Eltern gegenüber den Beweis antreten konnte, als Frau in einer Gesellschaft bestanden zu haben, die ihr eigentlich nicht die berufliche Selbständigkeit, sondern die Rolle der Mutter zugedacht hatte. Sie bemühte sich, durch breitgestreute Aktivitäten Lebenssicherheit zu schaffen, denn das erste Mal in ihrem Leben befürchtete sie finanzielle Probleme.

Sie musste Geld verdienen.

So verfasste sie Zeitungsartikel über aktuelle Fragen der Zeit, sowie Buchrezensionen zumeist im Ausland erschienener Bücher. Darüber hinaus sollten Vorträge in der Folgezeit ihren Unterhalt sichern. Die Kontakte zu Frauen, die in Berlin in der Frauenbewegung tätig waren und zu denen sie bereits vor ihrem Beginn in Berlin versucht hatte Kontakte zu knüpfen, kann sie nun durch persönliche Bekanntschaft festigen. So eröffnete sich ihr mit der Zeit ein umfangreiches Tätigkeitsfeld.

Die verschiedenen Tätigkeiten Adele Schreibers schufen ihr einen Namen in der Frauenbewegung und ihre Erwerbsmöglichkeiten nahmen zu. Sie wusste, wovon sie sprach, denn für die Benachteiligung anderer in der Gesellschaft hatte sie schon als Jugendliche ein waches Empfinden. Der Entschluss, durch die eigene Arbeit für die Gleichberechtigung der Frauen zu kämpfen, lag in ihren eigenen persönlichen Erfahrungen begründet, denn auch sie hatte ja von Kindesbeinen an um ihre geistige Entwicklung und Unabhängigkeit kämpfen müssen. Durch ihre eigene Stellung als Frau in der Gesellschaft ist Adele Schreiber für alle Fragen der

194 Heymann, Lida Gustava: Erlebtes – Erschautes. Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden

1850-Gleichberechtigung von Mann und Frau sensibilisiert, was ihr Aufmerksamkeit verschafft und sich in der Anerkennung ihrer Arbeit ausdrückt: "Meine Artikel fanden immer guten Absatz, erweckten Interesse, schufen mir einen Kreis von Gesinnungsgenossen ..."195 Durch ihr Leben in Berlin kommt sie in unmittelbaren Kontakt mit großstädtischem Leben. Die Lebensbedingungen des Proletariates, der Besuch revolutionärer Versammlungen, die zumeist unter Polizeischutz abgehalten wurden, stärken in ihr die Überzeugung, dass die bestehenden Verhältnisse verändert werden müssen, wobei den Frauen die wichtige Aufgabe zukommt, innerhalb der nötigen Veränderungen ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

Für all die jungen Frauen, die sich wie Adele Schreiber so sehr nach einem eigenen erfüllten Leben gesehnt hatten, die jedoch erst spät aus ihrem Elternhaus entlassen wurden, tat sich eine neue, aufregende Welt auf. Die Frauen erkannten ihre eigene Stärke und erfuhren ein völlig neues Lebensgefühl der Unabhängigkeit. Von ihnen selbst hing plötzlich ihr eigenes Leben ab und dieses Gefühl des Erwachsenseins gab ihnen Kraft. Sie konnten für sich entscheiden, welcher politischen Überzeugung und welchen Ideen sie anhängen wollten. Die unabhängigen jungen Frauen fanden sich zusammen und auch die Kraft einer Gruppe, die Freude, Gleichgesinnte zu treffen, bestimmte ihr neues Leben.196 Nach ihrem Leben in Kurorten war natürlich auch Adele Schreiber begeistert von der Großstadt. Als aufmerksame Beobachterin war sie von der Vielfalt und den Kontrasten begeistert: "Wie ungeheuer schnell ist diese Stadt gewachsen! Im alten Westen wohnten meine Bekannten, unter ihnen der würdig väterliche Julius Rodenberg mit seiner gütigen Frau, der witzig-humorvolle Julius Stettenheim, der in der Generation jener Zeit etwa so populär war wie in der heutigen Roda-Roda197. Und dann Hedwig Dohm198, die entzückendste aller alten Frauen, die ich je gekannt ..."199

1940, Meisenheim am Glan 1972, S.94

195 Nachlass BA Koblenz, Mappe 1, Blatt 1-4, o.T., ca.1910

196 Auch Lida Gustava Heymann schreibt: "Ich war frei, konnte mein Leben selbst gestalten, arbeiten, schaffen - mich beseelte ein neues Glücksgefühl."; Heymann, L.G.: Erlebtes ..., S.38

Gleiches galt auch für Käte Frankenthal: "Das Leben in Berlin sagte mir ungemein zu. Wenn ich mich auch nie über Beschränkung meiner Freiheit zu beklagen hatte, fühlte ich doch erst jetzt, wie viele Beschränkungen die Kleinstadt, in der meine Eltern so wohl bekannt waren, an sich auferlegte."; Frankenthal, Käte: Jüdin, Intellektuelle, Sozialistin.

Lebenserinnerungen einer Ärztin in Deutschland und im Exil, Frankfurt/ M./ New York 1985, S.15

197 Alexander Roda-Roda (1872-1945), Schriftsteller. Bis 1899 hieß er Rosenfeld, ab 1902 arbeitete er als

Schriftsteller und Journalist und war Mitarbeiter an zahlreichen Zeitungen wie der "Neuen Freien Presse" und dem

"Simplicissimus" und schrieb sehr humorvolle Geschichten. Ab 1905 lebte er abwechselnd in München und Berlin.

Durch seine Veröffentlichungen kam er in Konflikt mit dem Ehrenkodex der Armee, 1907 wurde ihm sein Offiziersrang aberkannt. 1940 emigrierte er über Lissabon in die USA.; Österreichisches biographisches Lexikon 1815-1950, Bd.9, 1988

Durch ihr Elternhaus kannte sie viele bedeutende Leute persönlich und die schon im Elternhaus geknüpften Kontakte konnte sie nun durch Besuche vertiefen. Vielleicht konnten ihr die elterlichen Freunde auch nützlich sein, Arbeit als Journalistin zu finden. Bei den alten Freunden ihrer Eltern war sie willkommen. Das wird für sie den Beginn in der großen Stadt erleichtert haben, da sie sonst niemanden kannte. Sie konnte sich austauschen und hatte Gelegenheit, sich schnell einen Kreis von Bekannten und Freunden in Berlin aufzubauen. Zudem nutzte sie die Bildungsmöglichkeiten, die sich ihr boten. Sie ging mitten hinein ins volle Leben, war interessiert und neugierig und bildete sich ihre eigene Meinung. Sie diskutierte und suchte immer neue Wege, um ihre Überzeugungen in sinnvolle Tätigkeit umzusetzen.

In Berlin, dem Zentrum des politischen Lebens, war sie so in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg ununterbrochen tätig. Sie engagierte sich nicht nur im Kampf für die Gleichberechtigung der Frau, sondern schloss sich auch dem Kampf gegen Prostitution, für eine bessere Lage der Arbeiterinnen und der ledigen Mutter an. Dabei wurde die Arbeit in der Öffentlichkeit, in Presseartikeln und mittels Vorträgen für sie die wichtigste Möglichkeit, in der Gesellschaft auf den Willen der Frauen hinzuweisen, an den Veränderungen mitarbeiten zu wollen. Durch rege Vortragstätigkeit, zahlreiche Veröffentlichungen in der Presse und der Mitarbeit in Vereinen erkämpfte sie sich schnell einen festen Platz in der bürgerlichen Frauenbewegung. Die propagandistische Tätigkeit verband sie indes immer auch mit praktischer Arbeit, da ihr die Notwendigkeit bewusst war, durch praktische Umsetzungen der Forderungen ihren neuen Ansprüchen an die Gesellschaft Gewicht zu verleihen. Sie wollte nicht nur zu Hause sitzen und schreiben, sondern sie war ebenso an der Umsetzung der ihr logisch und umsetzbar erscheinenden Ideen interessiert. Die praktische Tätigkeit war sie von ihrem Elternhaus her gewöhnt, und sie machte ihr deshalb keine Probleme. Ihr war daran gelegen, wirkliche Resultate zu sehen, und sie arbeitete im Bewusstsein dessen was möglich war. Adele Schreiber informierte sich über die Settlementsarbeit in England, knüpfte Kontakte zur Heilsarmee und engagierte sich

198 Hedwig Marianne Adelaide Dohm (1831-1919), Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. Nachdem ihre fünf Kinder groß waren, begann sie zu schreiben und griff frauenfeindliche Positionen an. Sie kämpfte für die politische, rechtliche und wirtschaftliche Gleichberechtigung der Frau und forderte als erste bürgerliche Radikale 1873 das Frauenstimmrecht. Sie stand der Frauenbewegung nahe und gründete 1888 mit anderen Frauen den "Frauenverein Reform", der sich für Koedukation und freie Berufswahl von Frauen und Mädchen einsetzte. Neben

emanzipatorischen Schriften verfasste sie Gedichte, Romane und Novellen.; Lexikon der Rebellinnen, S.76/77

199 Nachlass BA Koblenz, Mappe 1, Begegnungen und Erinnerungen

bei der Gründung von Mütterheimen. Auf diese Aspekte ihres Lebens wird in nachfolgenden Kapiteln näher eingegangen werden.

Verbundenheit zur Heimat und zu ihren Eltern

Den Kontakt zu ihren Eltern und zu ihrer Heimat erhielt sie trotz des aufregenden Lebens in Berlin aufrecht, auch wenn ihre Eltern sich nicht recht damit abfinden konnten, dass ihre Tochter eigenständig ist und weit weg von zu Hause lebt. Besonders ihre Mutter war unglücklich, dass ihre Tochter aus dem Haus gegangen war, wünschte ihr aber dennoch Erfolg zu ihrem neuen Leben. Ihre Mutter schrieb kurz nach ihrem Umzug: "Meine geliebte Ada! Einmal habe ich dir schon einen langen, langen Brief geschrieben, der aber so traurig, so weltschmerzlerisch wurde, dass er in den Papierkorb wanderte. Heute bin ich wieder ruhiger u vernünftiger u wünsche dir in erster Reihe aus ganzer Seele Glück zu dem schönen Anfang deiner neuen Laufbahn. Möge dieselbe dir auch fernerhin viele Freuden bringen, dich in jeder Hinsicht zufrieden stellen u wenigstens die Hälfte von dem halten was sie heute verspricht. Du siehst, mein Schatz, ich bin etwas skeptisch, aber das ist immerhin besser als mein früherer Optimismus."200 Und auch ihr Vater nahm teil an ihrem neuen Leben, indem er ihr zunächst einen eigenen Pass besorgte:

"Meine liebe Adele! Heute endlich ist der Paß angelangt. Nun kannst Du ruhig durchgehen. Wer soll Dich in ganz Europa ausfindig machen? Soeben wird die Kleider- und Schuhvertheilung vorgenommen. Ich werde gerufen. Behüt Dich Gott! Dein treuer Vater Schreiber. ... Vergiß nicht, Deinen Namen im Paße niederzuschreiben."201 Die Eltern sorgten sich unverkennbar um ihre Tochter und unterstützten sie sogar zeitweise finanziell. 1901 schickte ihr Vater eine Postanweisung über 80 Kronen und bedauerte, nicht mehr schicken zu können.202 Gleichzeitig erkundigte er sich nach ihrer Arbeit und wollte wissen, ob in der Vossischen Zeitung schon etwas von ihr erschienen sei.203 Zweifellos war er auch im Hinblick auf seine Tochter ehrgeizig, denn er

200 Nachlass BA Koblenz, Mappe 16, Brief von Clara Schreiber an Adele Schreiber vom 6.9.1898

201 Nachlass BA Koblenz, Mappe 16, Brief von Dr. Josef Schreiber an Adele Schreiber vom 14.9.1898

202 Nachlass BA Koblenz, Mappe 16, Karte von Dr. Josef Scheiber an Adele Schreiber vom 2.10.1901

Das entsprach fast dem Monatslohn eines Gärtners, wie dem folgenden Zitat zu entnehmen ist. Ihr Vater schrieb: Es werden "voraussichtlich nur 5 Personen im Hause sein - dazu 14 Diener - ohne Gärtner, der allein 100 Kr. monatlich bekommt. Mit herzl. Grüßen Dein treuer Vater Schreiber."; Nachlass BA Koblenz, Mappe 17, Brief von Josef Schreiber an seine Tochter Adele Schreiber vom 8.12.1904

203 Bereits am 24.5.1901 hatte sie dort einen Artikel über die Settlements-Bewegung in England veröffentlichen können, am 19.7.1901 erschien noch ein weiterer Artikel von ihr über Erziehungskolonien.

wusste um ihre Begabung und wünschte ihr Erfolg. Er kannte ja ihren langen Kampf um ihre Unabhängigkeit und wusste um ihre Kraft und ihr Durchhaltevermögen.

Aus den wenigen erhaltenen Briefen und Karten lässt sich entnehmen, dass die Eltern, bei allen Vorbehalten, stolz auf die Arbeit ihrer Tochter waren. Über ihre verschiedenen Unternehmungen waren sie stets gut unterrichtet, konnten sich aber kaum vorstellen, wie sie ihr großes Arbeitspensum bewältigte. "Liebe Adele! Von dem Erfolge Deines Bp. [Budapest, A.B.]

Aufenthaltes habe ich durch Mama gehört. Ich freue mich damit und wünsche Dir Glück dazu.

Wie Du soviel körperliche und geistige Kraft aufbringst ist mir ein Räthsel u frage ich mich, wie lange kann ein Mensch das alles leisten, ohne Schiffbruch zu leiden?"204 Nicht gerade aufbauende Worte, aber anschaulich wird, dass sie in ihrer Eigenständigkeit und Leistungsfähigkeit von ihren Eltern anerkannt wurde, denn der Vater fragte sie, die Veröffentlichung der eigenen Arbeiten betreffend, nach ihrer Meinung. Aus dem von Autorität geprägten Vater-Tochter-Verhältnis ist eine gleichberechtigte Beziehung geworden. Sie hatten

Wie Du soviel körperliche und geistige Kraft aufbringst ist mir ein Räthsel u frage ich mich, wie lange kann ein Mensch das alles leisten, ohne Schiffbruch zu leiden?"204 Nicht gerade aufbauende Worte, aber anschaulich wird, dass sie in ihrer Eigenständigkeit und Leistungsfähigkeit von ihren Eltern anerkannt wurde, denn der Vater fragte sie, die Veröffentlichung der eigenen Arbeiten betreffend, nach ihrer Meinung. Aus dem von Autorität geprägten Vater-Tochter-Verhältnis ist eine gleichberechtigte Beziehung geworden. Sie hatten

Im Dokument Konsequent den unbequemen Weg gegangen (Seite 70-136)