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Spätestens seit C�P� Snows Streitschrift The Two Cultures (1959)3 ist oft be-klagt worden, dass kanonische Korpora zwar in der Literatur-, der Musik- und Kunst geschichte existieren, jedoch nicht in der Geschichte der Technik oder der Na turwissenschaften�4 Nun scheint der Kanonbegriff an sich, ebenso wie der Bil dungsbegriff, im informationsgeprägten digitalen Zeitalter einmal mehr zur Dis position zu stehen� Beide sollten aber nicht an das Konzept der Infor-mation verloren gegeben werden, wie auch jüngere Studien zum ‚Bildungs-kanon‘ betonen� Um Informationen angemessen reflexiv verarbeiten und für (eigene) Bil dungsprozesse nutzen zu können, benötigen alle Mitglieder einer Gesellschaft bzw� der menschlichen Gemeinschaft einen zugleich grundlegen-den und „ver änderbar[en], ausbau- und anschlussfähig[en]“ Vorrat an Wis-sen und Kompe tenzen�5 Diesen zu definieren ist Gegenstand kontroverser Diskussionen� Soge nannte Bildungsstandards werden in diesen Diskussionen meist national defi niert, sollen aber auch an glokalen6 gesellschaftlichen Ver-hältnissen und neuen Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft – soweit

3 Die begriffliche Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist aller-dings in einer Genese seit dem 18� Jahrhundert zu sehen; zusammenfassend vgl� etwa Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte� München 2001, S� 40f�

4 Vgl� Peter J� Brenner: Die kulturelle Bindungskraft kanonischen Wissens� In: Ute Erd-siek-Rave, Marei John-Ohnesorg (Hgg�): Bildungskanon heute� Berlin 2012, S� 27–33;

hier: S� 30�

5 Ute Erdsiek-Rave, Marei Ohnesorg: Vorwort� In: Ute Erdsiek-Rave, Marei John-Ohnesorg (Hgg�): Bildungskanon heute� Berlin 2012, S� 7–8; hier S� 7�

6 In dem von Roland Robertson (1992) eingeführten Kunstwort ‚Glokalisierung‘ wird das permanente und systematische Zusammenspiel globaler und lokaler Faktoren in der sich herausbildenden Weltgesellschaft gefasst� Vgl� Roland Robertson: Globaliza-tion. Social Theory and Global Culture� London 1992�

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prognostizierbar – ori entiert sein�7 Der Orientierungsrahmen Bildung für eine nachhaltige Entwick lung der deutschen Bund-Länder-Kommission für Bil-dungsplanung und For schungsförderung umriss als generelle „Leitlinie für eine zukunftsfähige Ge staltung pädagogischer Prozesse“ schon 1998 eine Reihe von didaktischen Prin zipien (und nachgeordneten Schlüsselqualifikationen), die auch für den Fremd sprachenunterricht schon seit längerem diskutiert werden�

Zu ihnen gehören: eine System- und Problemlöseorientierung, eine Verständi-gungs- und Werteori entierung, eine Kooperationsorientierung, eine Situations-, Handlungs- und Par tizipationsorientierung, Selbstorganisation und Ganzheit-lichkeit�8 Gleichzeitig soll das „Verstehen der Gesamtvernetzung der Kulturwelt mit der Natur“ die Ausprägung einer „ethische[n] Grundeinstellung“ fördern�9

Aus diesem Postulat folgt eine der Möglichkeiten, den Erwerb von Bil-dungsstandards, von Schlüsselkompetenzen und -qualifikationen, der oftmals anhand recht beliebig gewählter Gegenstände erfolgen soll, auch thematisch zu konturieren�10 In einer Publikation wie Bildungskanon heute, 2012 herausgege-ben in der Schriftenreihe des von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderten Netz-werkes Bildung, werden naturwissenschaftliche Einsichten und technische Er-rungenschaften explizit als Kulturgüter bezeichnet�11 Allerdings tragen sie nur eine geringe identitätsstiftende Bedeutung für die nach wie vor vorrangig natio-nal aufgefassten menschlichen Kulturen� Auch deshalb sind sie kaum zu finden in Kanon-Entwürfen, die – sofern sie überhaupt entstehen – hauptsächlich nati-onalen Paradigmen verpflichtet sind� Naturwissenschaftliche Erkenntnisse und technische Errungenschaften besitzen eine stärker universale Bedeutung – für

7 Vgl� auch Ute Rave: Bildungskanon heute – eine Einleitung� In: Ute Erdsiek-Rave, Marei John-Ohnesorg (Hgg�): Bildungskanon heute� Berlin 2012, S� 11–14; hier:

S� 11�

8 Vgl� Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung: Bil-dung für eine nachhaltige Entwicklung – Orientierungsrahmen� Bonn 1998 (Materiali-en zur Bildungsplanung und Forschungsförderung, 69), S� 9, 27ff�

9 Vgl� ebd�, S� 27�

10 Die Debatte um Wissensbestände, um Inhalte und Themen anhand derer Kompeten-zen erworben werden sollen, wird erst in jüngerer Zeit wieder intensiver geführt� Die Inhalte von Lehr- und Lernangeboten und -prozessen sind nicht beliebig; benötigt wird neben der Formulierung von Bildungsstandards, Schlüsselkompetenzen und -qualifikationen auch eine Definition dessen, anhand welcher Inhalte, Themen und Texte bzw� Medien im weiteren Sinne sie erworben werden sollen (vgl� auch Peter J�

Brenner: Die kulturelle Bindungskraft kanonischen Wissens� In: Ute Erdsiek-Rave, Marei John-Ohnesorg (Hgg�): Bildungskanon heute� Berlin 2012, S� 27–33)�

11 Vgl� ebd�, S� 30�

eine menschliche Kultur, deren Grundlage die über Jahrhunderte immer weiter fortschreitende aber nie vollständig gelingende Domestizierung der Natur ist� Sie prägen die Kultur in der Zeit einer zweiten Moderne12 in äußerst dynami schen Prozessen� Für das globale Lernen, auch im Unterricht Deutsch als Fremdspra-che, ist der Zusammenhang von Natur(wissenschaft), Technik und Kultur von großer Bedeutung�13

In aktuellen Positionspapieren etwa des Goethe-Instituts, aber auch in Vor-schlägen wie von Jutta Allmendinger zu notwendigen grundlegenden Verände-rungen in Bildungssystem und -auffassung14 wird das globale Lernen immer wieder als eine neue Herausforderung bezeichnet, ohne dass seine Konzeption im Fach Deutsch als Fremdsprache bislang breiter diskutiert worden wäre�

Das Konzept eines globalen Lernens bzw� einer global education erfuhr be-sonders im angloamerikanischen Raum seit den späten 1970er Jahren eine im-mer weitere Ausprägung� Lee Anderson analysierte bereits 1979 in seiner Studie Schooling and Citizenship in a Global Age die Entstehung einer global society und versuchte, elementare Kompetenzen, die zu Voraussetzungen einer global citizen-ship würden, zu umreißen� Graham Pike und David Selby entwickelten nachfol-gend ein elaboriertes didaktisches Konzept einer global education� In ihrer Studie Global Teacher – Global Learner (1988) formulierten sie auf der Grundlage eines holistischen Weltbildes Leitziele globalen Lernens� Als solche betrachteten sie ein Systembewusstsein, ein Perspektivenbewusstsein, ein Be wusstsein für den Zu-stand des Planeten Erde, ein Bewusstsein für das eigene Involviertsein in das Sys-tem ‚Welt‘ und die Vorbereitung auf das bewusste ei gene Handeln in ihm sowie ein Prozessbewusstsein�15 In Anlehnung an diese Arbeiten legte das Schweizer Forum Schule für eine Welt in den 1980er Jahren erstmals einen Katalog von

„Lernzielen für eine Welt“ vor und initiierte damit eine Debatte über das globale

12 Zu dem Begriff vgl� beispielsweise Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung� Frankfurt a�M� (Edition Zweite Moderne) 1997�

13 Zur Diskussion thematischer Orientierungen des Unterrichts Deutsch als Fremdspra-che überhaupt vgl� Almut Hille: Eine global und ökologisch orientierte Literatur im Kontext von Bildungsprozessen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache� In: Ziel-sprache Deutsch 40 (2013) 1, S� 3–15�

14 Vgl� Jutta Allmendinger: Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müs-sen, um unseren Kindern gerecht zu werden� München 2012, S� 215�

15 Vgl� Graham Pike, David Selby: Global Teacher – Global Learner� London u� a� 1988, S� 34f�; vgl� auch Klaus Seitz: Bildung in der Weltgesellschaft. Gesellschaftstheoretische Grundlagen globalen Lernens� Frankfurt a�M� 2002, S� 400�

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Lernen auch im deutschsprachigen Raum� Ge genwärtig fasst man in dem Begriff globales Lernen ein offenes, unabgeschlos senes Konzept, das recht verschiedene Ansätze eint� Es zielt in einer sehr wei ten, offenen Formulierung

– im Gegenstandsbereich auf die Vermittlung weltweiter Zusammenhänge sowie – in methodischer Hinsicht auf interdisziplinäre, ganzheitliche und

multi-perspektivische Lernverfahren�16

Im oben genannten Orientierungsrahmen Bildung für eine nachhaltige Ent-wicklung wird das globale Lernen als eine Dimension nachhaltiger Bildung dis-kutiert, die ökonomische, ökologische, soziale und kulturelle Aspekte integriert�

Die „damit gebotene Perspektive umfassender Vernetzung“17 muss in Lehr- und Lernprozessen produktiv gemacht werden; als innovative methodische Mög-lichkeiten gelten u� a� Projektarbeit, Umwelterkundungen, Rollen- und Plan-spiele, das szenische Spiel, Zukunftswerkstätten oder Runde Tische�18