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Künstlerische Reflexionen des Atomzeitalters

Im Dokument Fotografie und atomare Katastrophe (Seite 21-37)

Die Reaktion der Kunst auf die Entwicklungen und Ereignisse des Atomzeitalters ist Teil der Geschichte dieser Epoche. Dabei stellten die bis dahin unvorstellbaren energetischen und naturwissenschaftlichen Innovationen eine Revolution des Weltbildes dar, die in der Kunst primär als Krise wahrgenommen wurde. Unterstützt wurde diese Wahrnehmung natürlich durch die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki, die in einer

76 Vgl. Krökel 1998: 214.

77 Macho 2005.

78 Vgl. Bürkner 2009a: 61-64.

79 Cooke 2009: 18.

80 Salewski 1998: 7.

81 Vgl. Bürkner 2011.

gen Lesart als Auftakt des atomaren Zeitalters rezipiert wurden. Künstlerische Repräsenta-tionen wurden durch Ereignisse angestoßen und prägten ihrerseits das gesellschaftliche Verständnis des Atomzeitalters und damit verbundene Projektionen oder Ängste. Wie Ul-rich Krökel festhält, stehen „’Bombe und Kultur’ […] in einem Wechselverhältnis.“82 Spen-cer R. Weart begreift die in diesem Zusammenhang stehenden künstlerischen Positionen als Teil impliziter gesellschaftspsychologischer Denkmuster des Atomzeitalters, die er als images zusammenfasst:

„The images, by connecting up with major social and political forces, have exerted a strange and powerful pressure within history.“83

Im Folgenden dienen insbesondere Spencer R. Wearts Arbeit zu Literatur und Film sowie Stephen Petersens methodisch und quellenkritisch beispiellose Analyse des Verhältnisses von bildender Kunst und Atomzeitalter als Folie.84

2.1.3.1 Literatur und Film

An dieser Stelle soll knapp auf die Rolle der Literatur und des Films eingegangen werden, die Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Auseinandersetzungen ist.85 Innerhalb dieser Beschäftigungen der Literatur und des Films lassen sich Tendenzen der Moralisierung, der Internalisierung und der radikalen Auseinandersetzung mit atomaren Bedrohungen unter-scheiden.

Die literarische Auseinandersetzung zeigt bereits 1914 mit H.G. Wells’ The World Set Free einen deutlichen Bezug zum dichotomen Potenzial der Atomenergie, das im Roman erst als Energiequelle und letzten Endes als Instrument des Atomkriegs genutzt wird. Diese imagi-native Rolle der Literatur, die im Falle Wells vom Physiker Frederik Soddy direkt inspiriert war und kollektive Emotionen gegenüber der Atombombe antizipierte, wich nach 1945 vornehmlich einer reflektierenden Rolle. Ethik und Wissenschaft waren hierbei die Bezugs-pole einer stark moralisierenden Literatur von u.a. Günther Grass, Friedrich Dürrenmatt oder Wolfgang Weyrauch.86 Weart betrachtet die moralische Perspektive der Literatur auf

82 Krökel 1998: 190. Auch Krökel bestätigt die Wirkungskraft der imaginativen Bilder, auch wenn er die politische Einflussnahme der Kunst auf die Ereignisse des Atomzeitalters bezweifelt; vgl. Krö-kel 1998: 216. Dabei vernachlässigt KröKrö-kels Einschätzung jedoch das konstitutive Wechselverhältnis von Bildern und Gesellschaft.

83 Weart 1988: XI.

84 Vgl. Weart 1988 sowie Petersen 2004.

85 Siehe dazu Krökel 1998, Nadel 1995, Raulff 2008 sowie Weart 1988.

86 Vgl. Krökel 1998: 192-196.

Hiroshima unter dem Schlagwort des „interior holocaust“87. Auschwitz und Hiroshima, Symbole des Sadismus des 20. Jahrhunderts, wurden miteinander unter einem moralisie-renden Appell assoziiert.

Dabei wurde die Schuld für die Ereignisse oftmals in die Personen verantwortlicher Wis-senschaftler und Politiker externalisiert, während z.B. für Max Frisch die Frage nach der atomaren Katastrophe eine innere war. Angesichts der Atombombentests des Bikini-Atolls beschrieb er „das Bewusstsein, dass wir uns entscheiden müssen, das Gefühl, dass wir noch einmal die Wahl haben und vielleicht zum letztenmal; ein Gefühl von Würde; es liegt an uns, ob es eine Menschheit gibt oder nicht.“88

Diese Verinnerlichung der atomaren Katastrophe begegnet uns auch im Film. Alain Resnais verlagert in Hiroshima mon Amour von 1959 die externe Apokalypse in ein inneres spirituel-les Problem, wobei er eine eschatologische Wiedergeburt nach der Zerstörung als klassi-schen apokalyptiklassi-schen Topos verfolgt.89 Akira Kurosawa lässt in Bilanz eines Lebens von 1955 das Trauma der Atombombenangriffe tief in die Psyche seines Protagonisten sinken.

Von seiner Angst vor einem erneutem Atombombenangriff und dem Unverständnis seines sozialen Umfelds in die Scheinwelt der Psychose getrieben, wähnt sich der Protagonist auf einem fremden Stern in Sicherheit vor den Atomwaffen der Menschheit. Letztlich projiziert er am Fenster des Sanatoriums die Phantasie einer von Atomwaffen entzündeten Erde auf den Anblick der Sonne:

„Da! Da! Sehen Sie es nicht? Die Erde brennt! Jetzt ist es soweit. Die Erde verbrennt!

Sehen Sie doch! Es hängt wie Feuer am Himmel. Endlich ist alles vorbei! Die Erde ist abgebrannt.“90

Dabei ist bemerkenswert, dass sich Kurosawa in seinem Episodenfilm Yume von 1990, vier Jahre nach dem Störfall von Tschernobyl, den apokalyptischen Folgen einer Reaktorhavarie widmet und damit die katastrophalen Seiten von militärischer und ziviler Nutzung der A-tomenergie analogisiert.91 Auch Yume repräsentiert als Verfilmung tatsächlicher Träume Kurosawas die psychologisch internalisierte nukleare Katastrophe.

Jenseits der Moralisierung und Internalisierung stehen hingegen die zahlreichen Filme und Romane der Science-Fiction, wie die durch den Unfall der Daigo Fukuryu Maru

87 Weart 1988: 408.

88 Zitiert nach Krökel 1998: 192.

89 Vgl. Maclear 1999: 145-155 sowie Weart 1988: 413.

90 Kurosawa 1955.

91 Vgl. Hofmann und Kreye 2011.

nen Godzilla-Filme in Japan und andere Werke, die die dichotome Macht der Atomenergie auf radikale Weise darstellen.92 Stanley Kubricks schwarze Komödie Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb von 1964 stellt die Lust an der Zerstörung und Ausübung der atomaren Macht in Form eines rauschhaften Exzesses dar. Vor der dichten Montage dokumentarischer Aufnahmen von Atompilzwolken, die – begleitet von Vera Lynns Lied We'll Meet Again – den lakonischen Abschiedswalzer des Films markiert, voll-führt Major Kong den für die Ikonografie der Populärkultur berühmten Ritt auf der Bom-be und damit die zynische HingaBom-be an das Energiepotenzial des Atomzeitalters.

Diese Unterschiedlichkeiten der künstlerischen Ansätze angesichts der Implikationen des Atomzeitalters vertiefen sich in der genaueren Betrachtung der Strategien der bildenden Kunst.

2.1.3.2 Bildende Kunst

In weiten Bereichen der bildenden Kunst wurde nach 1945 eine Krise der Repräsentation artikuliert. Diese Krise war auch dem Willen geschuldet, angesichts des Umsturzes tradier-ter Weltbilder durch die Atomphysik, adäquate Mittel der Auseinandersetzung mit dieser neuen Welt zu finden. Im Folgenden sollen grundlegende Tendenzen der künstlerischen Auseinandersetzung mit den Ereignissen des Atomzeitalters exemplarisch dargelegt wer-den. Dabei steht vornehmlich die Zeit von 1945 bis in die frühen 1970er Jahre im Vorder-grund, um grundlegende Strategien zu verdeutlichen, die sich in den 1980er und 1990er Jahren bis in die Gegenwart modifizieren und fortschreiben.93 Dabei wird in Anlehnung an Stephen Petersens Klassifizierung von Strategien der Dematerialisierung, Vitalität, Explosivität und der Repräsentation ausgegangen.94

Auf abstrakter Ebene steht unter dem Topos der Dematerialisierung die grundlegende Ver-unsicherung, die die Spaltbarkeit des Atoms und die darin liegenden Kräfte mit sich brin-gen. Unter dem Schlagwort Vitalität werden dabei Tendenzen vor allem der amerikanischen Nachkriegskunst und des Designs vorgestellt, die, angetrieben durch die Prämissen der nuklearen Energie, einen Fokus auf eine amorphe, betont organische Formensprache

92 Siehe Kapitel 2.1.2.

93 Die Fortschreibung dieser grundsätzlichen Strategien nach 1980 stellt auch einen Teil der Analy-sen der fotografischen Auseinandersetzung mit Hiroshima und Nagasaki sowie Tschernobyl dar.

94 Für die folgenden Aspekte der Dematerialisierung, der Explosivität und der Repräsentation dient Ste-phen Petersens maßgeblicher Aufsatz Explosive Propositions – Artists React to the Atomic Age als Folie;

vgl. Petersen 2004. Eine ähnliche Kategorisierung macht Gabriele Huber in ihrer sehr umfassenden Auseinandersetzung mit der italienischen Avantgarde nach 1945 aus. Sie unterscheidet dabei katego-rial zwischen Neorealismus, Hermetismus und Blow up; vgl. Huber und Baj 2003: 41ff.

zen. Ein weiterer Topos, den Stephen Petersen als maßgeblich markiert, ist die Explosivität als Thema der bildenden Kunst, die in den 1950er Jahren sogar dazu führt, dass die Selbst-zerstörung der Kunst als einzig adäquate Ausdrucksform im Atomzeitalter interpretiert wird.95 Darüber hinaus spielen Tendenzen eine große Rolle, die traditionelle Repräsentati-onsbegriffe beibehalten und sich primär Formen des Realismus und des Expressionismus bedienen.

Dematerialisierung

Mit der Entdeckung der Spaltbarkeit des Atoms im Jahr 1938, deren Konsequenzen mit den Atombombenabwürfen über Japan einerseits und den euphorischen Programmen zur zivilen Nutzung der Atomenergie der 50er Jahre andererseits für die Gesellschaft veran-schaulicht wurden, wurde in der Kunst eine Krise bisheriger Materialitätsbegriffe artiku-liert. So schrieb der Bildhauer Etienne Beothy 1951:

„Before the atomic age it was thought that matter was inert by ‚nature’ and it was imag-ined that there was a divine flicker that had put everything into movement. The new age begins with the apocalyptic discovery: all is an ocean of whirlpools and radia-tion.”96

Dieses naturwissenschaftlich begründete Misstrauen in die Gegenstände der sichtbaren Welt schließt an eine Kontinuität der Kulturgeschichte der Strahlung und der Mikrophysik an.97 Schließlich bezog bereits 1913 Wassily Kandinsky die abstrakte Form seiner Reminiscen-ces auf die Teilbarkeit des Atoms.98 Dieser Bruch mit dem materialen Positivismus wurde mit der als epochal rezipierten atomaren Katastrophe von Hiroshima und Nagasaki zu ei-nem Gemeinplatz der Kunst.

So widmete sich auch Salvador Dalí nach 1945 mit Emphase diesem Umsturz der Materia-litätsbegriffe, der für ihn mit einer mystizistischen Weltordnung zu vereinbaren war:

„Die Atomexplosion vom 6. August hatte mich seismisch erschüttert. Hinfort war das Atom der bevorzugte Gegenstand meiner Überlegungen. […] Ich wandte meine para-noisch-kritische Methode an, um diese Welt zu erforschen. Ich möchte die verborge-nen Kräfte und Dinge begreifen, um sie zu beherrschen, und ich habe die geniale Intu-ition, dass ich, um zum Kern der Wirklichkeit vorzudringen, eine ungewöhnliche Waffe besitze: den Mystizismus, das heißt die tiefe intuitive Erkenntnis dessen, was ist, die

95 Vgl. Petersen 2004: 579.

96 Zitiert nach Petersen 2004: 598.

97 Siehe Kapitel 2.2.

98 Vgl. Petersen 2004: 580 sowie Martino 1995: 562.

unmittelbare Kommunikation mit dem Ganzen, die absolute Vision von Gnaden der Wahrheit, von Gottes Gnaden.“99

Dalís Hingabe an die Implikationen des Atomzeitalters sollte in die Begründung des Nukle-aren Mystizismus münden, dem eine naturwissenschaftlich inspirierte materielle Zersetzung zugrunde liegt. Die physikalische Möglichkeit, aus Materie Energie zu schaffen, nahm Dalí als anregend für religiöse Überzeugungen wahr.100 Der Wandel von Materie in Energie durch das künstlerische Schaffen stellt deshalb für Dalí die wichtigste Schnittmenge zwi-schen Mystik und Atomzeitalter dar:

„Ich entmaterialisierte bildnerisch die Materie; dann vergeistigte ich sie, um Energie zu schaffen. Der Gegenstand ist ein lebendiges Wesen dank der Energie, die er einschließt und ausstrahlt, dank der Dichte der Materie, aus der er sich zusammensetzt. Jedes mei-ner ‚Sujets’ ist zugleich ein Mimei-neral, das an dem Pulsschlag der Welt teilhat, und ein le-bendiges Stück Uran.“101

Abb. 1: Salvador Dalí: „Melancholische Atom- und Uranidylle“, 1945

Ein Beispiel für diesen Fokus auf die Implikationen der destabilisierten Materialität ist das Gemälde Melancholische Atom- und Uranidylle von 1945. (Abbildung 1) Vor dem Hintergrund eines bühnenähnlichen Raums, dessen Decke am rechten oberen Bildrand geöffnet ist, finden sich zahlreiche figurative und emblematische Elemente, die dem Sinnzusammen-hang der Atombomben der USA entlehnt sind. Im rechten Vordergrund ist eine miniaturi-sierte Darstellung einer Explosion zwischen Wolkenmassen und Wasserwellen platziert; im Hintergrund findet sich die zum graphischen Element verfremdete Silhouette eines Bom-ben abwerfenden Kriegsflugzeuges. Das Gemälde ist überdies bestimmt von Miniaturen diverser Figuren und Gegenstände, die in der materiellen Auflösung begriffen sind. Einer

99 Dalí und Parinaud 1974: 234.

100 Vgl. Weigel 2005: 257-258.

101 Zitiert nach Descharnes und Néret 1993: 419.

von zwei dargestellten Baseball-Spielern – Ikonen der US-amerikanischen Populärkultur – scheint im Schwung die menschliche Form zu verlieren und sich in geometrische Körper zu transformieren. Ebenso findet sich ein stilisierter Schädel, der die Farbe der Raumwände angenommen hat und in ein Bassin von Flüssigkeit übergeht.

Die Verwendung von Motiven aus früheren Gemälden Dalís wie die schmelzenden Ziffer-blätter deutet Petersen als Externalisierung bereits vorhandener Ängste mit dem Ereignis der Atombombe.102 Ein von Schrecken gezeichnetes menschliches Antlitz im linken unte-ren Bildrand repräsentiert nach Gavin Parkinson die Perspektive des Beobachters des Atomzeitalters, das in Dalís Gemälde wie ein Bühnenstück inszeniert wird:

„The startled human face at bottom left looks at the apocalyptic spectacle of the nu-clear age, in which the melodramatic imaginary and dramatic real are conjoined as a deeply ironic, tragi-comic, utopian opera, indebted to Hieronymus Bosch.”103

Auf ähnliche Weise lässt sich in Jackson Pollocks Arbeit die existentielle Revolutionierung der Raumbegriffe durch die Atomenergie als Appell an die Kunst verstehen, sich diesen Innovationen auf neue Weise zu stellen und von traditionellen Versuchen der Repräsentati-on Abstand zu nehmen. In den drip paintings ab 1947 zelebrierte Pollock eine Abkehr vom repräsentativen Naturalismus.104 Zugleich artikulierte sich in großformatigen, mikrokosmi-schen Tropfengemälden ein radikaler Naturalismus im Sinne der fragmentierten Materie des Atomzeitalters. Die amerikanische abstrakte Kunst wurde auch in Diskursen der Öf-fentlichkeit zum epistemischen Modell der Komplexität der nuklearen Welt. So wurden z.B.

im Magazin Fortune vom Dezember 1946 Fotografien der Atombombentests auf dem Biki-ni-Atoll den flächigen Farbkompositionen Ralston Crawfords gegenübergestellt. Mit diesen Gemälden wurde Crawford von der Zeitschrift beauftragt und zu den Tests auf dem Atoll entsandt. Im selben Band diente Pollocks Gemälde Shimmering Substance der Illustration von Spekulationen über die Auswirkungen von Atombomben. Wie Jean Guilbaut kritisch an-merkt, war die Rolle der abstrakten Kunst als epistemisches Werkzeug eines neuen Zeital-ters zu großen Teilen massenmedial definiert und nicht unbedingt zwingender Bestandteil der künstlerischen Konzeption:

„Zeitschriften wie ‚Fortune’ vermittelten dem Publikum die Bedeutung abstrakter Kunst, ihre Versuche, das Undarstellbare darzustellen und das Undenkbare

102 Vgl. Petersen 2004: 581.

103 Parkinson 2008: 204.

104 Vgl. Boehm 2007: 101.

cken. Es wurde vorbereitet, das Undenkbare in seinem alltäglichen Leben zu akzeptie-ren.“105

Nach Guilbaut diente Pollocks Kunst hierbei auch der Mystifizierung des Faszinosums Atombombe:

„Pollocks Bilder verweisen auf ein schillerndes, blendendes, vibrierendes Licht und ei-ne intensive Hitze, die jeden Gegenstand zerstört und alle Dinge zu eiei-nem komplizier-ten, verknäulten Netz aus dicken, klebrigen, ununterscheidbaren Windungen macht.

Sie verleihen der Faszination vom Mythos des Feuerdiebs ihren Ausdruck. […] Es ist daher nicht überraschend, dass Kunstkenner ein wachsendes Interesse an einer moder-nen Kunst zeigten, die in ihren Augen das Wesen von Modernität repräsentierte.“106 Auch Yves Klein begegnete dem zentralen Problem der Materialität der Atombombe. In seinem 1958 verfassten Text Ma position dans le combat entre la ligne et la couleur stellt er die Grundvoraussetzung des Atomzeitalters fest, jegliche Materialität in die ultimative vorstellbare Abstraktion zu verwandeln:

„Il nous faut – et ceci n’est pas une exagération – penser que nous vivons á l’ére atomique, où tout ce qui est matériel et physique peut disparaitre du jour au lendemain pour céder la place á tout ce que nous pouvons imaginer de plus abstrait.“107

Im selben Jahr verfasste Klein einen Brief an den Präsidenten der Internationalen Konferenz zur Aufdeckung atomarer Explosionen mit dem Anliegen, Atom- und Wasserstoffbomben blau einzufärben, damit die Explosionen und Substanzen sichtbar seien.108 Die Farbe hatte da-mit für Klein die Aufgabe, eben jener Abstraktion der unsichtbaren Kernenergie entgegen-zuwirken und ihr gleichzeitig auf den Grund zu gehen. In der bildnerischen Arbeit erfüllt die Farbe diesen politischen Anspruch. Auf einer Japanreise in den 1950er Jahren lernte Klein die invertierten Schatten, die Opfer der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki auf Straßen und Häusern hinterließen, kennen.109 Der Film Ikite-iteyokata von Fumio Kamei über diese Abbildungen offenbarte ihm, so Sidra Stich, ein schmerzhaftes Paradoxon von Vergänglichkeit und Konstanz in der Abbildung.110

105 Guilbaut und Biesenkamp 1997: 125.

106 Guilbaut und Biesenkamp 1997: 127.

107 Klein 2003: 50-51.

108 Vgl. Petersen 2004: 601 sowie Huber und Baj 2003: 126.

109 Siehe dazu ausführlich Kapitel 3.3.1.

110 Vgl. Stich 1994: 179.

Abb. 2: Yves Klein: „Hiroshima“, 1961, aus der Serie „Anthropometries“

Dieses Prinzip der Abbildung der Atombombe fand Analogien in der Serie Anthropometries.

Das Klein Blue bildet so in der Arbeit Hiroshima eine Silhouette um einen menschlichen Körper und versucht, jenen Schatten als Produkt der körperlichen Zersetzung festzuhalten.

(Abbildung 2) Die Metapher des Schattens der Atombombenopfer wird in den fotografi-schen Annäherungen, wie bei Robert Raufotografi-schenberg, überrafotografi-schend ähnliche Verfahren zei-gen.111

Auf breiter Basis widmete sich auch die italienische Künstlergruppe Arte Spaziale der Revo-lutionierung der Materialitätsbegriffe des Atomzeitalters und setzte sich damit deutlich von Traditionen der Repräsentation ab. Lucio Fontana beschrieb im ersten Manifest der Bewe-gung, dem Manifesto Bianco von 1946, die Konsequenzen der Instabilität und Vergänglichkeit der sichtbaren Formen aller Dinge der Welt:

„Darum halten wir uns an die Materie und ihre Entwicklung, aus der alles Leben her-vorgeht. Unsere Energie ist die Materie selbst, ihre Notwendigkeit zu sein und sich zu entwickeln. Wir fordern eine Kunst, die frei ist von aller ästhetischen Künstlichkeit.

Wir nutzen das Natürliche und Reale im Menschen. Wir schwören allen ästhetischen Verfälschungen ab, die eine auf Spekulationen beruhende Kunst erfunden hat. So ste-hen wir der Natur näher, als es die Kunst im Laufe ihrer Geschichte jemals getan hat.“112

Die nicht an Trägerobjekte gebundene Energie sollte das traditionelle Kunstobjekt erset-zen. Die Hinwendung zum Atomaren ging somit auch hier mit einem Ikonoklasmus ge-genüber traditionellen Repräsentationsformen einher. Zahlreiche Arbeiten der Gruppe verließen die Leinwand und die traditionelle Skulptur, um sich Raumobjekten und wissen-schaftlich anmutenden Anordnungen zu widmen. Fontana artikulierte seinen neuen Raum-begriff, der vom Bild abgelöst die physikalische Materie erkundet, z. B. durch die Arbeit mit

111 Siehe Kapitel 3.3.

112 Fontana 1996: 211.

Neonröhren in Ambiente spaziale von 1951. Überdimensionierte Schleifen von Neonlicht schwebten wie die Spur einer zeichnerischen Bewegung im Raum über den Köpfen der Besucher der IX. Triennale in Mailand.113 Nach Gabriele Huber sind Fontanas tagli, mit Messerschnitten versehene Leinwände, ebenso nicht als piktorale Arbeit, sondern als Spur einer räumlichen Geste zu begreifen.114

In einer durchaus auch enthusiastischen Begrüßung eines Umsturzes der Denkgewohnhei-ten und der Materialitätsbegriffe durch die Entdeckung der atomaren Energie schwebte neben Lucio Fontana Künstlern wie Gianni Dova oder Roberto Crippa eine Kunst vor, die in der abstrakten Bewegung der mikrokosmischen physikalischen Materie bestand. Diese Neuausrichtung der materiellen Grundkomponenten der Kunst wirkte u.a. in der Düssel-dorfer Gruppe ZERO um Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker und ihrer Kon-zentration auf Lichtkinetik fort.115 Die Entwicklung hin zur Aktionskunst wurde dabei ent-scheidend von der räumlichen Gestik der Spatialisten, insbesondere Lucio Fontanas, geprägt.116

In all diesen Tendenzen zeigt sich eine radikale Hinwendung zur materiell nicht greifbaren Welt der atomaren Energien. Die Abkehr von der Materie ging dabei mit einer Abkehr vom Begriff des künstlerischen Genius einher. Als absolute Abstraktion diktierten die physikali-sche Beschaffenheit der Materie sowie die Zerstörungskraft der Kernspaltung einen Abs-traktionsgrad, gegen den das Konzept eines menschlichen Schöpfungsgeistes zwangsläufig an Bedeutung verliert. So kommt es im Atomzeitalter auch zu einer neuen Zusammenfüh-rung von Wissenschaft und Kunst, von der u.a. die Konstruktionen der Arte Spaziale zeu-gen.

Vitalität

Bereits im nuklearen Mystizismus Dalís kündigt sich eine spiritistisch anmutende Konzent-ration auf das Wesen der Dinge an, die durch die Entdeckung der Atombombe in ihren Phantasmen angetrieben wurde. Die Offenbarung der unbekannten Kräfte der Materie beflügelte Denktraditionen, die dem Vitalismus verschrieben waren, also vom frühneuzeit-lichen Topos ausgingen, dass lebende Dinge sich durch eine gemeinsame Lebensenergie gleichen. Die Phantasie dieser Lebensenergie in ihren unterschiedlichen Variationen

113 Vgl. Nori und Joester 1996: 50-51 sowie Gottschaller 2008: 34.

114 Huber 1993: 40.

115 Vgl. Kuhn 1991: 182-184.

116 Vgl. Feiler 1997: 138.

tierte sich nicht selten als amorphes Fluidum.117 In der modernen Rezeption wurde dieser

tierte sich nicht selten als amorphes Fluidum.117 In der modernen Rezeption wurde dieser

Im Dokument Fotografie und atomare Katastrophe (Seite 21-37)