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2 Institutionelle und gesundheitsförderliche Gegebenheiten der Sportvereine im Hinblick auf Suchtprävention

3.2 Integrative Modelle zur Gesundheitsförderung

3.2.2 Anforderungs-Ressourcen-Modell zur Gesundheit (Peter B ECKER )

3.3.1.6 Körperliche Entwicklung und Körperkonzept

Infolge heftiger Hormonschübe (Östrogen und Testosteron) sind körperliche Verände-rungsprozesse im Jugendalter unübersehbare Zeichen der Neubestimmung der Per-son-Umwelt-Beziehung. Am offensichtlichsten ist die rasch verändernde Körpergröße.

Statt 5 cm pro Jahr durchschnittlicher Längenwachsum in der mittleren Kindheit, wach-sen Mädchen im Alter von ca. 10 - 15 Jahren 9 cm/Jahr. Bei Jungen verläuft der Wachstumsschub ähnlich, allerdings erst rund zwei Jahre später (KOLIP 1997, 82;

OERTER & MONTADA 1995, 333 u. 339). Die Körperteile wachsen nicht synchron (z. B.

wachsen Beine und Arme schneller als der Rumpf), was sich durch Disproportionen des Körpers und Störungen in der motorischen Koordination äußert und Bewegungen schlacksig und ungelenkig erscheinen lässt. Insbesondere Mädchen fühlen sich infolge ihres wachsenden Busens und der einsetzenden Menstruation in ihren Bewegungen

eingeschränkt. Aufgrund der körperlichen Veränderungen fühlen sich die Jugendlichen zunächst verunsichert. Diese Unsicherheit wird im Alltag oft durch eine Abwertung des anderen Geschlechts überspielt (HELFFERICH 1994). In der Zeit körperlicher Verände-rungsprozesse kann das Sporttreiben zweierlei Wirkungen haben: Entweder fürchten Jugendliche negative Reaktionen, wenn sie ihre Disproportionen zur Schau stellen und sie verzichten deshalb auf Sport. Oder sie nutzen (bewusst oder unbewusst) das re-gelmäßige Sportangebot, um sich und ihren Körper besser kennenzulernen und Unbe-hagen infolge von Disproportionen durch ein angenehmes Körpergefühl auszugleichen.

In den letzten 150 Jahren gab es eine beträchtliche säkuläre Akzeleration mit Vorver-lagerung des Menarchealters57 und der sexuellen Aktivitäten (OERTER & MONTADA

1995, 343; TILLMANN 1992, 19, KOLIP 1997, 97 - 98; BAACKE 1994, 99). Über die Ursa-chen der Vorverlagerung der körperliUrsa-chen Reife ist oft spekuliert worden. Hinweise sprechen dafür, dass die Verbesserung der Lebensbedingungen (bessere Ernährung, weniger Kinderarbeit, bessere Wohnbedingungen, genetische Veränderungsprozesse) diesen Teil der Entwicklung beschleunigen (TILLMANN 1994, 191; BAACKE 1994, 41).

Unterschiedliches Reifeniveau kann sich im Umgang mit Alkohol und Nikotin bemerk-bar machen (OERTER & MONTADA 1995, 337; KOLIP 1997, 96). So kommen SILBEREISEN, VASKOVICS & ZINNECKER (1996, 229 - 245) in ihrer Studie "Jungsein in Deutschland - Jugendliche und junge Erwachsene 1991 und 1996" zu folgenden Er-gebnissen: 1991 fand sich ein erhöhter Alkoholkonsum bei frühreifen Mädchen (als Attribut des Erwachsenenseins) und spätentwickelten Jungen (Alkohol als Kompensa-tionsmittel für das Manko eines vermeintlich unterentwickelten Körpers). Zwischen den alten und neuen Bundesländern gab es noch Unterschiede: die körperliche Reife im Osten wurde 1991 noch früher erreicht als im Westen. Dies schloss frühere Status-übergänge wie einen früheren Diskothekenbesuch (mit 13 - 14 Jahren) oder einen frü-heren Alkoholkonsum mit ein. Die Ost-West-Unterschiede haben sich in dieser Frage-stellung inzwischen nivelliert. Die Jugendlichen aus den neuen Bundesländern haben sich den Jugendlichen aus den alten angepasst.

1996 ergibt sich ein etwas anderes Bild: Anhand einer Stichprobengröße von 828 wur-den 13- bis 16-Jährige nach ihrem subjektiven und objektiven Status ihrer körperlichen Reife (Wachstumsschub58 bei Jungen und erste Menstruation bei den Mädchen) sowie

57 Schätzungen zufolge hat sich der Beginn der ersten Periode bei den Mädchen in der Zeit von 1830 bis 1960 alle zehn Jahre etwa vier bis fünf Monate nach vorne verschoben, so dass ein Mädchen heute im Durchschnitt 4 1/3 Jahre eher reif ist als vor 150 Jahren; ähnliches gilt für Jungen (BAACKE 1994, 99).

58 Wachstumsschub wurde an den Kriterien Körpergröße, stärkerer Bartwuchs, Stimmbruch, Muskelent-wicklung und Körperbehaarung festgemacht.

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nach sieben Statusübergängen59 aktuell bzw. retrospektiv befragt. Ergebnis war, dass alle Jugendlichen bis auf die Gruppe der 15- bis 16-jährigen Jungen in der objektiven Bewertung dann zu einem frühzeitigen Alkoholkonsum neigten, wenn sie auch körper-lich frühzeitig entwickelt waren (Tab. 12).

früh entwickelt gleich entwickelt spät entwickelt

< 11 Jahre erste Menstruation > 14 Jahre erste Menstruation

weiblich

objektiv subjektiv objektiv subjektiv objektiv subjektiv

13 - 14 Jahre 36.0 38.5 20.4 28.7 22.0 31.8

15 - 16 Jahre 58.8 60.4 58.1 58.8 44.9 56.0

< 11 Jahre Wachstumsschub > 15 Jahre Wachstumsschub

männlich

objektiv subjektiv objektiv subjektiv objektiv subjektiv

13 - 14 Jahre 23.5 27.3 20.3 23.5 10.0 23.5

15 - 16 Jahre 40.4 65.7 53.7 55.7 58.3 53.6

Tab. 12: Körperliche Reife nach subjektiver und objektiver Bewertung im Zusammenhang mit dem Statusübergang "erster Alkoholrausch", Angaben in Prozent (Daten aus SILBEREISEN ET AL. 1996, 229-245),

Die körperliche Sozialisation, auch "Körperkarriere" (BAUR 1989), erfolgt geschlechts-spezifisch sowie über individuelle Lebensläufe. Vielfach unbewusst und auf unter-schiedliche Art und Weise werden geschlechtsdifferente Verhaltensweisen zunächst in den Eltern-Kind-Interaktionen sozial eingespurt, „wobei in unserer Gesellschaft der Mann eher die instrumentelle Seite des Verfügens und der Produktion verkörpert und vornehmlich die Frau auf den Bereich Familie und Haushalt mit den dort vorherrschen-den expressiven und emotionalen Verhaltensorientierungen konzentriert ist“ (WEIß

1999, 77). Bereits im Säuglingsalter verläuft die Stimulation bei Jungen eher über tak-tile und motorische Wege, bei Mädchen eher über die verbale Kommunikation. Ähnli-ches Verhältnis ergibt sich später, wenn Jungen eher ein instrumentelles Verhältnis zum eigenen Körper bilden, wobei im Spielen kraftbetonter Einsatz und Erfahrungen über Leistungs- und Belastungsfähigkeit des Körpers dominieren. Im Spielen wird eher der gesamte Körper mit einbezogen unter großräumiger Nutzung der Flächen. Demge-genüber gehen Mädchen eher gefühlsvoll und ästhetisch mit ihrem Körper um, zeigen größeres Interesse an Spielen mit geregeltem Ablauf oder bevorzugen rhythmische Aktivitäten und indirektem Wettbewerb. Die Bewegungen sind auf Teile des Körpers beschränkt (KOLIP 1997, 112, BAUR & BRETTSCHNEIDER 1994, 96; WEIß 1999, 76 ff;

BZGA 1999, 40 - 41).

59 Statusübergänge: Aussehen, Diskobesuch, Aushandeln bezüglich des Heimkommens, Verliebtsein, feste Freundschaft haben, erste sexuelle Erfahrungen, erster Alkoholrausch

Wie in Kapitel 2 bereits hingewiesen wurde, werden Sportarten immer auch unter ge-schlechtsspezifischen Gesichtspunkten gewählt. Maskuline Werte wie Leistungsver-halten, Wettbewerbssituation, Erfolg und Misserfolg, Gewinn und Verlust kommen am deutlichsten in Sportarten wie Fußball oder Handball zum Ausdruck; feminine Werte wie Ästhetik am ehesten im Turnen. Anzunehmen ist, dass sich Ästhetik und Drogen eher voneinander ausschließen und daher im Turnen ein geringerer Alkohol- und Niko-tinkonsum zu erwarten ist.

Folgt man HAVIGHURST, DREHER & DREHER etc. (Teil I – Kap. 3.3.1.1), dann stellt die Aneignung einer individuellen körperlichen Erscheinung eine Entwicklungsaufgabe dar.

Die körperlichen Veränderungen müssen im Selbstbild korrigiert werden60. Entschei-dend dafür ist die Körperwahrnehmung, die "Sensibilität und Aufmerksamkeit gegen-über körperlichen Zuständen (die auf den Körper gerichtete Aufmerksamkeit) und die perzeptuell-konstatierende Wahrnehmung eigener Körpermerkmale (die nicht-bewertete Einschätzung des Körpers und seiner Leistungen)" sowie die Körperbewer-tung, das heißt das "Ausmaß der Akzeptanz bzw. der Ablehnung des eigenen Kör-pers". (LOHAUS 1993, 54). Sowohl Körperwahrnehmung als auch Körperbewertung unterliegen altersspezifischen Effekten, das heißt, je älter der Jugendliche, desto diffe-renzierter die Wahrnehmung und Bewertung auch hinsichtlich von Gesundheitsgefähr-dungen wie ungebremsten Konsums an Alkohol oder Folgen übermäßigen Rauchens.

Dennoch werden die Grundlagen der Körperwahrnehmung und Körperbewertung nach LOHAUS (1993, 54) bereits vor der Pubertät gelegt, so dass in sportpädagogischen In-terventionen ein möglicher Zugangsweg zu einem sensibleren Körperverständnis liegt.

Das Verhältnis Körper und Person wird in zweierlei Richtungen bestimmt: (1) über die vorgegebene biologische Veranlagung z. B. für ein mehr oder weniger gutes Aussehen oder eine mehr oder weniger gute Beherrschung einer bestimmten Sportart und (2) über die Art der Selbstbetrachtung des eigenen Körpers in Interdependenz sozialer Bewertungsprozesse. Der Körpereinsatz wird erstmalig als sexuelles Ausdrucksmittel wahrgenommen und dient zur Kontaktaufnahme beim anderen Geschlecht. Durch Kör-perinszenierung (Schminken, Kleidung, sportlich trainierte Körper etc.) werden zeithis-torisch abhängige Körperideale angestrebt, der Körper wird sozusagen zum "jugend-spezifischen Kapital" (KOLIP 1997, 99; BRINKHOFF 1992, 103), das für Einfluss und An-sehen unter Gleichaltrigen sorgt. Häufig dient die Umkleidekabine der Sporthalle als

60 Im Rahmen der Jugendsportstudie Nordrhein-Westfalen/Brandenburg 1995 prüft Kirsten ENDRIKAT

zurzeit weibliche sport- und körperbezogene Selbsteinschätzungen (ENDRIKAT IN: ROTH ET AL. 1999, 250). Mit abschließenden Ergebnissen dürfte Ende 2000 zu rechnen sein.

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Forum für gemeinsame Inszenierungen oder für Entwicklungsvergleiche unter Gleich-altrigen. Werden diese Kriterien nicht erreicht, haben vielfach andere Inszenierungs-mittel ihren instrumentellen Nutzen. Auf die Bedeutung von Alkohol und Nikotin wurde bereits im Kapitel 1 hingewiesen. Insbesondere sind auch die männlichen Mutproben zu erwähnen nach dem Motto "wer viel Alkohol verträgt, ist akzeptiert" oder das häufi-ge Argument, deshalb nicht mit dem Rauchen aufhören zu wollen, weil Angst vor Ge-wichtszunahme und damit Angst vor Ablehnung besteht.

Im empirischen Teil interessiert die Fragestellung:

• Unterscheidet sich die Einstellung zum eigenen Körper bei Jugendlichen mit Sport-vereinszugehörigkeit und bei Jugendlichen ohne SportSport-vereinszugehörigkeit?

Einstellungen zum Körper lassen sich wirkungsvoll mit dem "Fragebogen zum Körper-bild (FKB-20)" von CLEMENT & LÖWE (1996) oder mit den "Frankfurter Körperkonzept-skalen" von DEUSINGER (1998) messen. Erstes Messinstrument von CLEMENT & LÖWE

eignet sich zur Messung einer "ablehnenden Körperbewertung" und einer "vitalen Kör-perdynamik", richtet sich jedoch an die Zielgruppe der über 16-Jährigen. Das zweite Messinstrument von DEUSINGER erfasst verschiedene Anteile des Körperkonzeptes einer Person und damit einen wichtigen Bereich der individuellen, multidimensionalen Struktur des Selbsts. Das Instrument lag zum Zeitpunkt dieser Untersuchung noch nicht vor, so dass eigene Fragen zur Körperzufriedenheit formuliert wurden.