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3.7 Diagnose einer Unterernährung

3.7.6 Isotopenanalysen an Haaren

Analysen an den stabilen Isotopen der Elemente Kohlenstoff und Stickstoff im Keratin der Haare werden seit langem eingesetzt, um die Ernährungsweisen und -gewohnheiten moderner und historischer Bevölkerungsgruppen zu erforschen (Macko et al., 1999a;

O’Connell & Hedges, 1999). Des Weiteren wird die Isotopenanalytik durch die im-mer besser werdende Methodik vermehrt in der Stoffwechselforschung angewendet (Rhee et al., 1997), gerade weil die δ-Werte des Haarkeratins sehr sensibel auf Ernährungsver-änderungen reagieren (Petzke et al., 2005a; Petzke & Lemke, 2009) und so relativ kurzfristige Änderungen des Gesundheitszustandes und des Stoffwechsels aufzeigen kön-nen (Hatch et al., 2006; Mekota et al., 2006, 2009).

BereitsHobson & Clark (1992b) erkannten, dass Unter- und Mangelernährung den δ15N-Wert im Gewebe eines Individuums beeinflussen kann (siehe dazu Kapitel 5.2 auf Seite 73). Wenn der Körper infolge einer Unterernährung in eine katabole Phase ein-tritt, kommt es zu einem Anstieg des δ15N-Wertes. Dieses Phänomen lässt sich mit einer Erhöhung der Trophiestufe vergleichen. Im Laufe einer Unterernährung oder einer Hun-gerperiode muss ein Großteil der stickstoffhaltigen Bausteine für die Proteinbiosynthese aus dem Abbau körpereigener proteinreicher Gewebe gewonnen werden (siehe Kapitel 3.3 auf Seite 25). Da das Körpergewebe als Proteinquelle bereits einen höherenδ15N-Wert als die bisher konsumierte Nahrung aufweist und weiterhin mehr 14N über den Urin ausge-schieden wird, kommt es durch dieses Recycling zu einer zusätzlichen Anreicherung des

15N Isotops in den neusynthetisierten Proteinen und Geweben (Hatchet al., 2006). Somit weisen die Körpergewebe und so auch das Keratin der Haare während einer Unterernäh-rung höhere δ15N-Werte auf als Gewebe, welches vor Beginn der Unterernährung gebildet wurde (Hobson & Clark, 1993). Unter diesen Umständen wird von einem internen Trophiestufeneffekt gesprochen.

Auch Mekota et al. (2006, 2009) stellte in zwei Studien einen deutlichen Zusam-menhang zwischen dem BMI bei Anorexie-Patienten und denδ-Werten im Haar fest. Vor Beginn der Therapie wiesen sämtliche Patienten einen sehr hohen δ15N-Wert auf, welcher sich im Laufe der Therapie signifikant verringerte, während sich gleichzeitig der

Ernäh-3.7 Diagnose einer Unterernährung 3 UNTERERNÄHRUNG rungszustand der Patienten merklich besserte. Mit dem δ13C-Wert verhielt es sich genau umgekehrt. Vor dem Klinikaufenthalt waren die δ13C-Werte der Patienten niedrig, infol-ge der Gewichtszunahme während der Therapie stieinfol-gen die Werte deutlich an. So verlief der δ13C-Wert aufgrund des Therapieerfolgs parallel zur Entwicklung des BMI, der δ15 N-Wert hingegen änderte sich gegenläufig zum BMI. Dabei zeigte sich, dass sich die δ-Werte im Haar sehr schnell um 1 bis 2‰ während den ersten vier Wochen nach Beginn einer Therapie veränderten. Im Unterschied dazu fanden Hobson & Clark (1993) keinerlei Veränderungen des δ13C-Wert angesichts unzureichender Nahrungszufuhr.

In den vorangegangenen Abschnitten wurden bereits die Vor- und Nachteile der klas-sischen Methoden zur Bestimmung des Ernährungszustandes aufgezeigt. Gerade wenn es um die Rekonstruktion des Verlaufs einer Unterernährung geht, stoßen die meisten der vorgestellten Methoden an ihre Grenzen. Die hieraus gewonnenen Untersuchungsergeb-nisse stellen nur Momentaufnahmen dar. Sie zeigen zumeist nur den aktuellen Ernäh-rungszustand, ohne dass rückwirkende Aussagen über die vorangegangene mangelhafte Nahrungszufuhr gemacht werden können. Die Entstehung und die Entwicklung einer Un-terernährung können dabei nur erkannt werden, wenn bereits im Vorfeld regelmäßig Mes-sungen, Untersuchungen oder medizinische Aufzeichnungen erfolgten. Gerade in Fällen von Vernachlässigung könnten Isotopenanalysen eine verlässliche Methode darstellen, um den Beginn, die Dauer und den Verlauf einer Unterernährung zu diagnostizieren (Mekota et al., 2009). Für die Rekonstruktion des Ernährungszustandes an Hand des Haarkeratins sprechen mehrere Gründe:

Die Proteinsyntheserate in der Haarwurzel ist eine der größten im menschlichen Körper (Sims, 1968). Falls ein Faktor die Proteinsynthese im Körper allgemein reduziert, reagiert ein Organ mit hoher Syntheserate besonders sensitiv. Daher ist die Haarwurzel und der darin gebildete Haarschaft ein guter Indikator für die Proteinkarenz (Bradfield, 1971).

Im Gegensatz zu den meisten anderen Körpergeweben können Haarproben sehr leicht und minimalinvasiv gesammelt werden, auch ohne große Störungen für lebende Personen (Schoeninger et al., 1998;Schwertlet al., 2003). Dabei wird das Haar abgeschnitten, oder wenn möglich zusammen mit der Wurzel ausgerissen. Bei abgeschnittenen Haaren gehen jedoch wichtige Informationen verloren. Haare stecken 3 bis 4 mm tief in der Haut und das Abschneiden mit einer Rasierklinge oder einer Schere hinterlässt zumeist Haar-stoppeln von 1 bis 2 mm oberhalb der Haut. Dadurch fehlen zwischen 4 bis 6 mm des zuletzt gebildeten Haarschafts für die Analyse. So konnten Nakamura & Schoeller (1982) eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten erst nach 6 bis 12 Tagen anhand von Isotopenuntersuchungen an abgeschnittenen Barthaaren feststellen. Dabei ist zu be-achten, dass es mindestens sechs Tage dauert, bis ein neugebildeter Haarabschnitt aus der Haut herausgewachsen ist (Saitoh et al., 1970). Damit liegen die ersten gemessenen Ergebnisse zeitlich um bis zu zwei Wochen vor der Probenentnahme. Im Gegensatz dazu

3 UNTERERNÄHRUNG 3.7 Diagnose einer Unterernährung ist es durch das Ausreißen der Haare möglich, den kompletten Haarschaft zu untersuchen.

So können auch die jüngsten Isotopenveränderungen analysiert und ausgewertet werden.

Der größte Vorteil des Haarkeratins ist, dass der Haarschaft kontinuierlich wächst und nach seiner Keratinisierung metabolisch völlig inaktiv ist (O’Connell & Hedges, 1999).

Siehe dazu auch den Abschnitt 4.3 auf Seite 64. Daher enthält jeder Abschnitt des Haares Informationen jenes Zeitpunktes, zu dem dieser Abschnitt gebildet wurde (Schoeninger et al., 1999). Das Haarkeratin stellt daher ein stabiles, chronologisches Isotopenarchiv dar (Nakamura & Schoeller, 1982;Schwertlet al., 2003), welches über einen längeren Zeitraum alle Ernährungsgewohnheiten, physiologischen Gegebenheiten und deren Verän-derungen speichert (Macko et al., 1999a;O’Connell & Hedges, 1999;Petzke et al., 2005b; Hatch et al., 2006). Dieses Archiv kann mithilfe von seriellen Isotopenanalysen ausgelesen werden.

Natürlich gilt es auch bei der Isotopenanalyse des Haarkeratins gewisse Besonderhei-ten zu beachBesonderhei-ten. O’Connell & Hedges konnten 1999 nachweisen, dass die meisten kosmetischen Behandlungen des Kopfhaares keinen oder nur einen minimalen Einfluss auf die δ-Werte der stabilen Isotope haben. Lediglich Färbemittel und das Bleichen der Haare mit Wasserstoffperoxid können die Aminosäurezusammensetzung und hiermit auch die Isotopenwerte beeinträchtigen. Weitere Untersuchungen haben gezeigt, dass auch das Ergrauen der Haare die Isotopenverhältnisse im Haar nicht verändern kann (Minagawa, 1992;O’Connell & Hedges, 1999). Darüber hinaus sind zwischen verschiedenen Haar-arten (Kopf-, Achsel- oder Schamhaare) keine signifikanten Unterschiede in den δ-Werten zu verzeichnen. So können auch Körperhaare zur Bestimmung der Unterernährung ein-gesetzt werden, falls keine Kopfhaare zur Verfügung stehen (Macko et al., 1999a). Laut O’Connell & Hedges (1999) gibt es bei Haaranalysen zur Ernährungsrekonstruktion bestimmte biologische Grenzen. Erst wenn sich der Aminosäurepool, welcher die Haar-follikeln versorgt, komplett auf die neue Ernährungsweise umgestellt hat, lassen sich die Isotopenveränderungen in vollem Umfang im Haarkeratin erkennen. Es dauert etwa zwei bis 12 Monate bis sich die Umstellung auf die neue Ernährung vollständig in den Isoto-penwerten zeigt (O’Connell & Hedges, 1999; McCullagh et al., 2005). So werden gerade bei kurzfristigen Ernährungsveränderungen (unter einer Woche) die Isotopensigna-le in den Haaren gedämpft und die Veränderung zeigt sich weniger deutlich im Haarkeratin (Schwertl et al., 2003). Außerdem kann das Ausmaß, mit dem sich der Trophiestufen-effekt im Haarkeratin zeigt, individuell unterschiedlich ausfallen (Hedges et al., 2009;

Huelsemann et al., 2009).

Obwohl sich bereits mehrere Forschungsstudien mit seriellen Isotopenanalysen ausein-andergesetzt haben (so z. B. Fuller et al. (2004, 2005, 2006); Mekota et al. (2006, 2009)), ist die serielle Isotopenanalyse als Methode für das Ernährungsmonitoring noch weit von der Routine entfernt. Mit der vorliegenden Arbeit soll deshalb ein weiterer

Bei-3.7 Diagnose einer Unterernährung 3 UNTERERNÄHRUNG trag dazu geleistet werden, diese Methode in Bezug auf die praktische Anwendung in der Forensik und der Medizin voranzubringen. Dabei wird anhand von drei unterschiedlichen Probandenkollektiven versucht, bestehende Fragen aufzuklären und die Interpretations-möglichkeiten der Analysenergebnisse noch weiter zu verfeinern.

4 DAS HAAR

4 Das Haar

Das Haarkleid (Fell) zählt zu den charakteristischen Merkmalen der Säugetiere ( Valko-vić, 1977). Hier erfüllt es eine Vielzahl an Aufgaben. Dazu zählen die Thermoregulati-on, die SinnesperzeptiThermoregulati-on, der Schutz gegen Umwelteinflüsse und UV-Strahlen, die soziale Kommunikation, die Verbreitung von Pheromonen und auch vielfältige Tarnfunktionen.

Gerade durch die Wärmeisolation haben die Haare zum großen evolutionären Erfolg der warmblütigen Säugetiere beigetragen. Im Vergleich mit anderen Säugetieren, auch mit den Primaten, ist der Mensch nur noch geringfügig behaart und das menschliche Haar-kleid hat für das Überleben der Spezies keinerlei Bedeutung mehr (Messenger, 1993).

Während der Evolution hat es einen Großteil seiner ursprünglichen Schutzfunktionen ver-loren (Randall, 1994). So bedecken nur noch die Kopfhaare die Haut ausreichend vor den UV-Strahlen, die Augenbrauen und Wimpern schützen die Augen vor dem Eindringen von Fremdkörpern. Daneben verteilen die Körperhaare das Sekret der apokrinen Schweißdrü-sen (Paus & Cotsarelis, 1999; Reifenberger & Ruzicka, 2010) und unterstützen minimal die Wärmeregulation (Gänsehaut). Beim Menschen wird die Hauptaufgabe der Haare in der Vermittlung von Berührungsreizen gesehen, die durch das dichte Netz senso-rischer Nervenfasern um die Follikel gewährleistet wird (Valković, 1988;Benninghoff, 1993). Zudem kommt dem Haarkleid eine große soziale Bedeutung zu (Randall, 1994), da es durch seine Optik einen entscheidenden Beitrag zur Attraktivität des Individuums leistet (Höcker, 1997; Shaker & Van Neste, 2006; Reifenberger & Ruzicka, 2010). So dienen die Kopf- und Barthaare oftmals als eine Art „Zierde“ und sind dadurch ein Ausdruck des Gesundheitszustandes, des Selbstwertgefühls oder kultureller und ge-sellschaftlicher Normen (Messenger, 1993;Höcker, 1997). Außerdem unterstützen die Gesichtshaare maßgeblich die Mimik und somit die Kommunikation (Valković, 1988).

Grundlegende Kenntnisse über den morphologischen Aufbau des keratinisierten Haares und über die Funktionsweise des Haarfollikels sind auch in der Haaranalytik besonders wichtig (Valković, 1977; Harkey, 1993). Gerade die Auswertung und Interpretation der erzielten Messergebnisse erfordern ein detailliertes Wissen über die Faktoren, welche die biochemische Keratinzusammensetzung oder das Haarwachstum beeinflussen können (Harkey, 1993). Dazu sollen im Folgenden die nötigen Grundlagen aufgezeigt werden.