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3.  Das neue Leistungsprüfsystem (LPS‐neu)

3.2  Das Intelligenzmodell des LPS‐neu

Die theoretische Fundierung des alten LPS, insbesondere dessen Abbildung der Primary Mental Abilities, wird seit jeher als kritisch betrachtet (z. B. Greif, 1972; Lutz, 1983). 1983 beschreibt Horn ein Modell der Begabungsstruktur (Abbildung 2.1 und Abbildung 2.2), zu dem sich jedoch keine weiteren Veröffentlichungen finden lassen. Die darin dargestellte Unterteilung der Tests in verschiedene Arten von Aufgabeninhalten und unterschiedliche Operationen der Aufgabenbe‐

antwortung stellt in seiner Komplexität eine Mischung aus dem Intelligenz‐Struktur‐Modell von Guilford (z. B. Guilford & Hoepfner, 1976) und dem Berliner Modell von Jäger (1982; Jäger, Süß

& Beauducel, 1997) dar. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass das LPS diesem Modell nicht gerecht wird, da die Subtests nur die Hälfte der proklamierten Kombinationen von Inhalten und Operationen abdecken. Der Berliner Intelligenzstruktur‐Test (Jäger, Süß & Beauducel, 1997), der in Interaktion mit dem Berliner Modell zu dessen Validierung entwickelt wurde, bietet beispiel‐

weise für jede der Kombinationen mehrere Subtests. Das Verfahren ist dafür wesentlich auf‐

wändiger und zeitintensiver.

Insgesamt erscheint das Drei‐Ebenen‐Modell von Caroll (1993; 2005; The Three‐Stratum Theory; vgl. Abbildung 3.5) wesentlich adäquater als Grundlage für das bereits bestehende Leis‐

tungsprüfsystem. Im Modell wird auf der obersten Ebene ein ‐Faktor, also eine Allgemeine In‐

telligenz, die jegliche intellektuelle bzw. kognitive Leistung mehr oder weniger stark beeinflusst, postuliert. Die zweite Ebene besteht aus acht (wobei diese Zahl nicht als endgültig angesehen wird) Faktoren, die als „broad“, also in etwa als „allgemein“, bezeichnet werden. Diese Faktoren

38 · Das neue Leistungsprüfsystem (LPS‐neu)

liegen auf einem etwas höheren Abstraktionsniveau als die Primary Mental Abilities nach Thurs‐

tone (1938). Die unterste Ebene stellt umschriebene Fähigkeiten dar, die durch einen oder meh‐

rere Test erhoben werden können. Dieses Stratum I, das „native performance“ beschreibt, diver‐

giert im Abstraktionsniveau zwischen relativ konkreten Fertigkeiten (z. B. Cloze Ability, also die Fertigkeit, Lückentexte zu bearbeiten) und immer noch umfassenderen Konzepten wie z. B. In‐

duction.

Abbildung 3.5: Die „three‐stratum structure of cognitive abilities“ (nach Carroll, 1993, S. 626) Der jahrzehntelange Streit zwischen Spearman und Thurstone, ob es nun einen ‐Faktor und unbestimmt viele spezifische Fähigkeiten oder keinen generellen Faktor, sondern lediglich eine bestimmte Anzahl (sieben bis neun) von statistisch unabhängigen also unkorrelierten Fähigkei‐

ten gebe, wurde schließlich durch Zugeständnisse auf beiden Seiten (Spearman & Jones, 1950 bzw. Thurstone & Thurstone, 1941) beendet (McGrew, 2005). Diese und viele andere Forscher im Bereich der Intelligenztestung gehen also davon aus, dass sich intellektuelle Fähigkeiten durch einen übergeordneten Faktor (Allgemeine Intelligenz) und weitere nicht generelle Fakto‐

ren, die durch die einzelnen Tests definiert werden, abbilden lassen. Carroll (1993) sammelte 477 brauchbare Korrelationsmatrizen von umfassenderen Intelligenztestbatterien und reanaly‐

sierte dieses Datenmaterial jeweils mittels desselben Algorithmus (Faktorenanalyse nach Schmid & Leimann, 1957, die Faktoren höherer Ordnung zulässt). 2003 versuchte Carroll in ei‐

ner Denkschrift für Arthur Vernon darzulegen, dass ein Modell ohne ‐Faktor, insbesondere das Modell von Cattell und Horn (z. B. Horn & Blankson, 2005), für die Modellierung intellektueller

Das neue Leistungsprüfsystem (LPS‐neu) · 39 Fähigkeiten nicht adäquat ist. Insbesondere die Interkorrelationen von als unabhängig konstru‐

ierten Faktoren sieht Carroll als Beleg für die Notwendigkeit eines Faktors höherer Ordnung. In der Beschreibung des Modells stellt Carroll (2005) aber klar, dass ein so umfassendes Modell (vgl. Abbildung 3.5) nur höchst selten in seiner Gänze überprüft werden kann, und fordert daher eine Vielzahl von Untersuchungen, die sich den jeweiligen Teilaspekten widmet. Im Folgenden soll nun das LPS‐neu in das Drei‐Ebenen‐Modell eingebettet werden.

Abbildung 3.6: Vorschlag für die Zuordnung des LPS‐neu in die Struktur des Drei‐Ebenen‐

Modells nach Carroll (1993)

Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, die exakten Entsprechungen der einzelnen Subtests zu den von Carroll formulierten Stratum I Fähigkeiten zu überprüfen. Es soll jedoch die Einordnung der durch die Messung mittels der Subtests postulierten Fähigkeiten in die Stratum II Ebene vollzo‐

gen werden, indem diese mit ähnlich erscheinenden Fähigkeiten, deren theoriekonforme Zuord‐

nung bereits bei Carroll diskutiert wurde, verglichen werden, um so eine Basis für den postulier‐

ten Zusammenhang und die Überprüfung dieses Modells (Abbildung 3.6) zu haben. Carroll (1993, S. 157) beschreibt einen etwas allgemeineren Verbalen Faktor (Verbal or printed lan‐

guage Comprehension, V): „In general, factors were classified as V when (a) all or a majority of their variables involved printed tests requiring reading, and (b) the variables covered a wide range of test types measuring general language development including (typically) various types of vocabulary tests and reading comprehension tests.” Dieser begründet neben anderen Fakto‐

ren die Kristalline Intelligenz, die Carroll an zwei Stellen wie folgt definiert: „Crystallized intelli‐

gence. This category was used for second‐stratum factors with salient loadings on first‐stratum factors such as LD (Language development) and V (Verbal ability) that appear to reflect the role of learning and acculturation” (1993, S. 583). „Crystallized intelligence, concerned with mental processes that reflect not only the operation of fluid intelligence but also the effects of experi‐

Allgemeine Intelligenz g‐Faktor

Kristaline Intelligenz

Subtest 1: Allgemeinwissen Subtest 2: Anagramme

Fluide Intelligenz

Subtest 3: Figurenfolgen Subtest 4: Zahlenfolgen Subtest 5: Buchstabenfolgen Gedächtnis und Lernen

Visuelle Wahrnehmung

Subtest 6: Mentale Rotation Subtest 7: Flächenzahl Subtest 8: Linienmuster Auditive Wahrnehmung

Ideenproduktion bzw. 

Abruffähigkeit  (Retrieval) Verarbeitungsgeschwindigkeit

Subtest 9: 8. Zeichen Subtest 10: Zeilenvergleich Kognitive Schnelligkeit Subtest 11: Addieren

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ence, learning, and acculturation” (1993, S. 624). Neben dieser allgemeinen Definition des Stra‐

tum II Faktors Kristalline Intelligenz und des allgemeinen Stratum I Faktors Verbales Verständ‐

nis erscheinen zwei weitere Stratum I Faktoren für die Einordnung der Subtests 1 und 2 rele‐

vant: „Lexical knowledge (VL): Extent of vocabulary (nouns, verbs, or adjectives) that can be un‐

derstood in terms of correct word (semantic) meanings. Although evidence indicates that vo‐

cabulary knowledge is a separable component from LD [Language development], it is often diffi‐

cult to disentangle these two highly correlated abilities in research studies“ (McGrew, 2005, S. 151). Carroll (1993, S. 164) beschreibt Reading decoding (RD) als Stratum I Faktor, da es Bel‐

ege gäbe, „that a general skill of word recognition and decoding can be defined factorially inde‐

pendent of some other skills in the language ability domain, and further, that this word recogni‐

tion skill can be broken down into detailed processes.”

Es wird deutlich, dass die Subtests 1 und 2 in diese Klasse von Faktoren passen. Neben den orthographischen Anteilen (V) entspricht insbesondere Subtest 1 dem Lexical Knowledge. In RD werden die für die Erkennung der Anagramme nötigen Prozesse beschrieben: „Grapheme En‐

coding, Letter Recognition; Multiletter Array Facilitation, Perception of Multiletter Units (e.g. sh, tion); Depth of Processing in Word Recognition; Phonemic Contrast, Decoding“ (Carroll, 1993, S. 165).

Dem Stratum II Faktor Fluide Intelligenz wurden Stratum I Faktoren zugeordnet, „whenever the higher salient loadings of first‐stratum factors were for factors such as RG (Reasoning) or I (Induction), involving basic intellectual processes of manipulating abstractions, rules, generali‐

zations, and logical relationships” (Carroll, 1993, S. 583). In einer späteren Beschreibung wird noch der geringe Lernanteil an der Ausbildung der entsprechenden Fähigkeiten hervorgehoben:

„Fluid Intelligence, concerned with basic processes of reasoning and other mental activities that depend only minimally on learning and acculturation“ (S. 624).

Carroll (1993, S. 201ff) führt alle Testarten auf, die er der Fluiden Intelligenz zuordnet. Die für die Einordnung der Subtests 3, 4 und 5 relevanten Beschreibungen lauten wie folgt (die zu‐

gehörigen Abkürzungen der Studien wurden im Zitat weggelassen):

Number Series; Number Series Completion […]: A variety of tasks in which rule‐ordered series of numbers are to continued with one or two elements. Items vary in the difficulty of the rule to be discovered. In Number Series II […] the S is to cross out the number that does not fit in the series.

Form Series […]: Similar to Number Series, but the stimuli are geometric forms. […] In Form Series II, S is to cross out the form that does not fit into the series.

Letter Reasoning […]: Ability to discover a common rule from a series of examples involving series of alphabetical letters.

Letter Series […]: Find the rule underlying a series of letters, then specify the next two ele‐

ments. E.g. AR BR CR D?

Letter Sets […]: Find the one letter group that does not belong in the class of four others; e. g., ABCD LMNO MNOP DEFT UVWX.

Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Subtests 3, 4 und 5, die diesen Beschreibun‐

gen weitestgehend entsprechen, unter Fluide Intelligenz einzuordnen sind. Carroll unterteilt den Stratum II Faktor Fluide Intelligenz in drei Stratum I Faktoren auf, die je nach verwendetem Test, Stichprobe und Analysemethode unterschiedlich stark interkorrelieren: Sequential Reasoning (RG), Inductive Reasoning (I) und Quantitative Reasoning (RQ). Über alle untersuch‐

Das neue Leistungsprüfsystem (LPS‐neu) · 41 ten Studien hinweg entsprechen die Buchstabenaufgaben und figuralen Aufgaben in den meisten Fällen dem Induktiven Schlussfolgern (I), während numerische Aufgaben entweder als deduktiv (RG) beurteilt oder (insbesondere bei größerer Schwierigkeit) dem Faktor Quantitatives Schlussfolgern (für das sowohl deduktive als auch induktive Prozesse angenommen werden) zugeteilt werden. Auf eine explizite Zuordnung der Subtests zu diesen drei Kategorien soll aber verzichtet werden.

Die Subtests 6, 7 und 8 können dem Stratum II Faktor Visuelle Wahrnehmung zugeordnet werden. Carroll isoliert bezüglich dieser „broad ability” einige spezifischere Fähigkeiten. Die den Subtests entsprechenden Faktoren sind (Carroll, 1993):

VZ: Visualization: Ability in manipulating visual patterns, as indicated by level of difficulty and complexity in visual stimulus material that can be handled successfully, without regard to the speed of task solution.

SR: Spatial Relations: Speed in manipulating relatively simple visual patterns, by whatever means (mental rotation, transformation, or otherwise). […]

P: Perceptual Speed: Speed in finding a known visual pattern, or in accurately comparing one or more patterns, in a visual field such that the patterns are not disguised or obscured. […]

IM: Imagery: Ability in forming internal mental representations of visual patterns, and in us‐

ing such representations in solving spatial problems. (S. 362f)

Der Prozess der mentalen Rotation (Subtest 6) wird im Faktor SR (räumliche Beziehungen) ex‐

plizit erwähnt. Die Aufgabe, die Flächenanzahl dargestellter Körper zu bestimmen (Subtest 7) kann sowohl dem Faktor Visualisation (VZ) als auch dem Faktor Imagination (I) zugeordnet werden. Carroll (1993) bezeichnet es als wünschenswert, dass eine statistische Unterscheidung dieser beiden Konstrukte nachgewiesen wird. Die Beschreibung des Faktors Wahrnehmungsge‐

schwindigkeit (P) entspricht weitestgehend Subtest 8, so dass erwartet werden kann, dass alle drei Subtests zum Stratum II Faktor Visuelle Wahrnehmung gehören.

Als elementary cognitive tasks (ECT) bezeichnet Carroll (1993, S. 11) Aufgaben, „in which a person undertakes, or assigned, a performance for which there is a specifiable class of ‘success‐

ful’ or ‘correct’ outcomes or end states which are to be attained through a relative small number of mental processes or operations”. In den Analysen werden als ECT u. a. folgende Aufgabenty‐

pen beschrieben (Carroll, 1993):

Visual search: In this paradigm, a visual stimulus is presented (for example, a particular let‐

ter or digit), followed shortly by a series of further stimuli; the subject’s task is to decide whether the initial stimulus is present or absent in the series. Measurements include not only reaction times and accuracies but also the linear regression parameters (intercept, slope) of RTs on the number of stimuli in the series to be searched.

Scan and search: This is a variant of visual search. In Scan and Search, as studied for example by Neisser (1967), the stimulus to be searched for is presented initially there is then a long series of items (each containing a series of stimuli) in which this stimulus is to be searched:

the subject’s task is to indicate whether the initial stimulus is present or absent in each set of target stimuli. The task is thus very similar to many that are used in measuring the Percep‐

tual Speed factor, for example the Finding A’s test … (S. 480)

Die Subtests 9 und 10 entsprechen derartigen Vergleichsprozessen, die Carroll als Processing Speed zusammenfasst.

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Subtest 11 wird im Stratum II Faktor „Broad Cognitive Speedness“ als Numerical Facility (N) beschrieben: „Typical Tests of factor N emphasize speed as well as accuracy in handling simple problems. It appears that the most construct‐valid tests of N are those that deal with simple problems, that is, addition, subtraction, multiplication, or division of numbers with a small num‐

ber of digits” (Carroll, 1993, S. 469). Es kann davon ausgegangen werden, dass die Addition von zehn Ziffern (Subtest 11) dieser Beschreibung entspricht.

Carroll (1993) thematisiert in der Behandlung der Fähigkeiten bezüglich kognitiver Ge‐

schwindigkeit das Problem der Differenzierung von Speed und Power (auch Level). Er kommt zu dem Schluss, dass es sich um zwei unterscheidbare Aspekte der Leistungsfähigkeit handelt. Ins‐

besondere für Subtest 9 fällt die Klassifizierung als ECT schwer, da hierbei auch die Sorgfalt eine große Rolle spielt. Unter diesem Aspekt wäre eine Einordnung im Stratum II Faktor Kognitive Geschwindigkeit eher gerechtfertigt. Inwiefern die drei Subtests 9, 10 und 11 auf zwei höheren Faktoren laden, soll jedoch statistisch im Rahmen der Analyse des Modells geklärt werden.

Äquivalenz von Papier‐Bleistift‐Version und Computerversion · 43

4. Äquivalenz von Papier‐Bleistift‐Version und