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Eine Institution zwischen Kontinuität und Wandel – Die bürgerliche „Normalfamilie“ als Auslaufmodell?

Im Dokument 12 Elternschaft in jungen Familien (Seite 22-31)

Die strukturellen Veränderungen familialer Lebenszusammenhänge gehen mit dem Wan-del der Familie als soziale Institution einher. Unter einer Institution als klassische sozio-logische Kategorie lassen sich habitualisierte Wissensstrukturen und Handlungsmuster verstehen, nach denen Menschen ihr soziales Verhalten ausrichten und strukturieren, um nicht ausschließlich ihren Instinkten und subjektiven Situationsdefinitionen ausgeliefert zu sein. Auf der Ebene sozialer Gruppen sowie der Gesellschaft ermöglichen institutiona-lisierte Sinnzuschreibungen eine Reduktion von Komplexität, indem sie „relativ stabile Handlungsentwürfe in einem Feld der Unsicherheit“ (Hettlage 1998, 24) garantieren. Die institutionelle Seite von Familie bezieht sich somit auf die Familie als kulturell hervorge-brachtes Normen- und Wertesystem. Es geht um allgemein anerkannte Regeln und Leit-bilder, die als orientierungsleitende und handlungsregulierende Dispositive auf das Fami-lienleben einwirken können, indem sie eine Vorstellung über die ‚richtige Form‘ des in-tergenerationalen und partnerschaftlichen Zusammenlebens vermitteln (vgl. Bauer u.a.

2015, 25f.; Cyprian 2003). Die Familie als institutionalisierter Verhaltenskomplex bringt

Die bürgerliche „Normalfamilie“ als Auslaufmodell? 33 demnach Bewertungsmaßstäbe hervor, nach denen sich die vorkommenden Familienver-hältnisse sowohl von den jeweiligen Familienmitgliedern als auch von Außenstehenden reflektieren und beurteilen lassen (vgl. Kaufmann 1995, 13). Aus handlungstheoretischer Perspektive müssen familiale Leitbilder und Regeln stets in einem Spannungsverhältnis zu den subjektiven und alltagsweltlichen Erfahrungen der Menschen mit ihrer vergange-nen oder gegenwärtigen Familienrealität sowie mit ihren zukünftigen familialen Lebens-entwürfen betrachtet werden. Zudem ist eine Verhaltenssicherheit durch gesellschaftliche Rollenvorgaben, Aufgabenzuschreibungen und Erwartungshaltungen immer nur relativ erreichbar, da diese auf Grund des sozialen und kulturellen Wandels „nie die Stabilität einer naturhaften Ordnung erreichen“ (Lenz/Böhnisch 1999, 34) können.

Mit dem Abbau einer rollen- und verhaltensdeterminierenden Wirkung universeller fami-lialer Leitbilder in Folge gesellschaftlicher Individualisierungs- und Pluralisierungspro-zesse hat sich Tyrell (1988) bereits in den 1980er Jahren beschäftigt. In seiner Deinstitu-tionalisierungsthese beschreibt er den Rückgang eines normierenden Charakters des bür-gerlichen Familienmusters, insbesondere der damit verbundenen ehebezogenen Norm- und Moralvorstellungen. Wenn Tyrell dabei auf eine Reduktion der institutionellen Qua-lität von Ehe und Familie verweist, versucht er in erster Linie den Wandel der Familie auf der Ebene öffentlicher Diskurse und sozialer Sinnstrukturen „wertfrei“ und „deskriptiv“

zu beschreiben. Wertfrei bedeutet, dass er damit nicht in Richtung einer Zerfallsdiagnose argumentieren möchte. Ehe und Familie bleiben weiterhin soziale Institutionen, verlieren jedoch an orientierungs- und handlungsleitender Verbindlichkeit. Zudem ist Deinstitutio-nalisierung nach Tyrell auch nicht positiv gewendet als „befreiende Individualisierung“

zu beurteilen, da der Freiheitsgewinn zugleich mit einem Verlust an Verhaltenssicherheit einhergeht, die verbindliche Institutionen gewähren. Neue Handlungsspielräume im Pri-vatleben erzeugen demzufolge erhöhte Entscheidungsproblematiken und somit auch Risi-ken sozialer und psychischer Überlastung. Hier ergeben sich Analogien zur Individuali-sierungsthese, dennoch grenzt Tyrell sich mit seinem eher deskriptiven Ansatz von allge-meinen theoretischen Erklärungsmodellen zum gesellschaftlichen Wandel ab, die sich auch auf die Familie anwenden lassen. Mit dem Rückgriff auf das Konzept der Deinstitu-tionalisierung geht es Tyrell vielmehr darum, einen spezifischen Ausschnitt des familialen Wandeln „soziologisch adäquat“ zu erfassen, nämlich den Bedeutungsrückgang der Insti-tution Familie seit dem Golden Age of Marriage der 1960er Jahre (vgl. Tyrell 1988, 145).

Ausgangspunkt für Tyrells These ist zunächst der vorangegangene kulturelle Institutiona-lisierungsprozess des bürgerlichen Familienmodells als kohärenten Sinn- und Verwei-sungszusammenhang aus Ehe und Familie. So gab es vor allem in den 1960er Jahren „zwei und nur zwei Wege, Mitglied einer Familie zu werden, nämlich Eheschließung und Ge-burt“ (ebd., 146). Neben der Vater-Mutter-Kind-Struktur als ‚kernfamilialem Vollständig-keitsprinzip‘ hat sich auch die institutionelle Verknüpfung von lebenslanger, monogamer Ehe, gemeinsamem Haushalt und biologischer Elternschaft als Grundmuster der „Normal-familie“ durchsetzen können. Ein solches Leitbild der Familie als intime und auf einer Liebesehe basierenden Beziehungsstruktur erschien bereits in der zweiten Hälfte des 18.

Jahrhunderts als Gegenmodell zu den eher zweckrationalen Wirtschafts- und Versor-gungsgemeinschaften der vormodernen Zeit (vgl. Burkart 2008, 116ff.). Es galt zunächst nur für eine neue soziale Elite jenseits der ständischen Gesellschaft: dem Bildungsbürger-tum (vgl. Lenz/ Böhnisch 1999, 11ff). Ideen- und kulturgeschichtliche Prozesse wie die

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Aufklärung, der Idealismus und die Romantik (vgl. Wahl 1999, 105) sowie die Privatisie-rung des familialen Haushaltes durch die zunehmende Trennung von Arbeits- und Wohnstätten im Zuge der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche ließen die Familie als sinnstiftende, nach innen gerichtete Gefühlsgemeinschaft und die Ehe als part-nerschaftliches Individualisierungsprojekt zu einem schicht- und milieuübergreifenden Mythos der Moderne avancieren, inklusive seiner patriarchalischen Geschlechtsrollenkon-zepte (vgl. Nave-Herz 2014; Kaufmann 1995). Insbesondere die Spezialisierung der Frau auf die Rolle der Hausfrau und Mutter, die zudem für den emotionalen und sozialen Zu-sammenhalt der Familie verantwortlich ist, während der Vater als Außenrepräsentant der Familie den Lebensunterhalt der Familie verdient, entsprach prototypisch den Anforde-rungen einer modernen, arbeitsteiligen Industriegesellschaft (vgl. Parsons 1997, 76).

Die Tendenz einer Deinstitutionalisierung dieser bürgerlichen Familienform seit den spä-ten 1960er Jahre lässt sich an unterschiedlichen Entwicklungen feststellen (vgl. Tyrell 1988, 148ff.): In erster Linie geht es dabei um die kulturellen Legitimationseinbußen der Normalfamilie. Durch weitreichende gesellschaftliche Säkularisierungstendenzen und den schwindenden Einfluss gesellschaftlicher Instanzen wie der Kirche wurden die „Heilig-keit“ und „Ursprünglich„Heilig-keit“ von Ehe und Familie weitestgehend in Frage gestellt. Ge-wissermaßen die letzte institutionelle „Rückendeckung“ hätten „familienkonservative“

Positionen seit den 1950er Jahren laut Tyrell noch aus der Familienforschung beziehen können. „Ja man kann fast sagen: die Legitimationsregie geht an die Wissenschaft“ (ebd., 149). Aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive lassen sich die ersten Ansätze einer Familienforschung bei Wilhelm Heinrich Riehl aus der Mitte des 19. Jahrhunderts durch-aus als Versuch lesen, ein naturalistisches, strukturkonservatives und patriarchalisches Bild von Familie gegen die ‚bedrohenden‘ Einflüsse gesellschaftlicher Modernisierungs-prozesse zu verteidigen (vgl. Fuhs 2007, 18f.). Und auch Reh kann in einer Analyse pä-dagogischer Diskurse bis in die 1930er Jahre aufzeigen, dass hier noch eine theoretische Sicht auf Familie dominierte, die diese „als eine Art Urgrund sittlichen und gesellschaft-lichen Lebens und als natürliche Erziehungsinstitution“ (Reh 2009, 164) hervorhob. In den 1950er Jahren waren es etwa die Untersuchungen zur frühkindlichen Sozialisation von Bowlby und Spitz, die dann u.a. von Theologen, Juristen oder Politikern zur Unter-mauerung einer „Alternativlosigkeit“ des bürgerlichen Familientypus herangezogen wur-den (vgl. Tyrell 1988, 149). Als die antiautoritäre Stuwur-dentenbewegung Ende der 1960er Jahre die bürgerliche Familie zur Projektionsfläche ihrer radikalen Kritik an der Gesell-schaft mit ihren hierarchischen Verhältnissen zwischen den Generationen und den Ge-schlechtern machte, wurde sie dabei schließlich auch aus dem wissenschaftlichen Bereich unterstützt. In diesem Zusammenhang spielten etwa die Vertreter einer „emanzipativen Familienkritik“ (Thiersch 1980, 99) eine Rolle, die in der bürgerlichen Familie ein über-kommenes Modell privater Lebensführung sahen und alternative, experimentierende Fa-milienformen in ein neues normatives Leitbild integrieren wollten. Ganz im Duktus der 1968er Bewegung und in Anlehnung an die Kritische Theorie und deren sozialphilosophi-schen und tiefenpsychologisozialphilosophi-schen Betrachtungen der modernen Familie wurde die „priva-tistische“ „spätbürgerliche Kleinfamilie“ mit ihren hierarchischen Rollenverteilungen als Reproduktionsinstanz der Herrschaftsstruktur in der „inauthentischen Klassengesell-schaft“ (ebd., 100), als verengter Interaktionsraum mit einem Mangel an kognitiven An-regungsmöglichkeiten oder als pathogenes Milieu angesehen, in dem die Kinder zu

Ob-Die bürgerliche „Normalfamilie“ als Auslaufmodell? 35 jekten elterlichen Narzissmus werden (vgl. Widemann 1980, 103ff.). Gab es demgegen-über auch immer wieder Versuche die bürgerliche Familie weiterhin als schützenswerte Institution zu verteidigen (vgl. Berger/Berger 1984; Mount 1982), wurde die Wissenschaft für legitimatorische Zwecke zunehmend untauglich, „weil sie auf Kritik setzt und weil sie

‚labil‘, für Themen- und Perspektivwechsel immer ‚anfällig‘ ist“ (Tyrell 1988, 150). Dem klassischen Leitbild der bürgerlichen Familie fehlt es trotz breiter rechtlicher Verankerung seitdem immer mehr an dezidierter Sinngebung und höherer Plausibilisierung. Selbst bei der CDU, die lange Zeit vehement an dem konservativen familienpolitischen Leitbild ei-QHVÄHKH]HQWULHUWHQ)DPLOLDOLVPXV³YJO2HONHUVDĺ,IHVWKLHOWNDPHVLQ den 1980er Jahren zu einer Umorientierung, etwa mit der Initiierung eines Bundespartei-tages im Jahr 1985 unter dem Motto: ‚Frauen in Beruf, Familie und Politik‘ (vgl. hierzu auch Radunski 1986).

Die Legitimationskrise der ‚Normalfamilie‘ bezieht sich v.a. auf den Verlust der exklusi-ven Monopolstellung der Institution Ehe in Bezug auf partnerschaftliches und familiales Zusammenleben. Dabei sind sinkende Heiratsneigungen und steigende Scheidungsraten auch auf den Abbau traditionaler Normen und sozialer Kontrolle zurückzuführen. Hatten staatlicher Trauzwang und kulturelle Diskriminierungen von unverheirateten Paaren oder von nichtehelicher Elternschaft die Ehe zuvor noch zu einem wesentlichen Kriterium des Erwachsenenseins und zur einzig legitimen Basis einer romantischen Paarbeziehung er-hoben, ist das Sozialklima innerhalb weniger Jahrzehnte „von erheblicher Intoleranz ge-gen Abweichunge-gen von Ehemoral und Familiensittlichkeit in weitgehende Permissivität umgeschlagen […]: was vor 20 Jahren der Anstoßnahme sicher wahr, regt heute nieman-den mehr auf“ (Tyrell 1988, 154). Alternative Haushalts-, Familien- und Lebensformen wie etwa kinderlose Paare, Stieffamilien, Ein-Eltern-Familien oder Singles haben in der öffentlichen Wahrnehmung an negativen Assoziationen und Stigmatisierungen verloren und sind somit diskriminierungsfreier wählbar geworden. Dabei spielt auch eine Rolle, dass sich der Staat als normierende und sanktionierende Instanz immer mehr zurückgezo-gen hat, etwa durch die Aufhebung des Kuppeleiparagraphen im Jahr 1972 oder durch die weitgehende rechtliche Anerkennung und Gleichstellung von nichtehelichen Lebensge-meinschaften durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1992. Von besonderer Bedeu-tung war die Einführung des Ersten Eherechtsgesetzes im Jahr 1976, in dem die nach Sphären (Beruf – Familie) zugeordneten Geschlechterrollen aufgegeben wurden (vgl.

Peuckert 2012, 25; Hase 2003, 224). Diese grundlegende verfassungsrechtliche Hinterfra-gung des bürgerlichen Familienmodells und der sogenannten Hausfrauenehe stand ganz im programmatischen Fokus der sozialdemokratischen Familienpolitik in den 1970er Jah-ren, der es zentral um die Förderung der Berufstätigkeit von Frauen ging. In der Amtszeit der SPD-Bundesfamilienministerin Focke (1972-1976) kam es darüber hinaus auch zu ei-ner Reformulierung des Scheidungsrechtes. Durch das Umstellen von der Schuldfrage auf das Zerrüttungsprinzip sowie der Einführung eines Versorgungsausgleiches wurden Ehe-scheidungen, insbesondere für Frauen, wesentlich erleichtert.

Die Deinstitutionalisierung der bürgerlichen Ehe- und Familiennorm führt Tyrell schließ-lich auch auf eine Motivationskrise im Hinblick auf Ehe zurück. Unter dem Eindruck von Jugendstudien aus den 1980er Jahren, in denen die familienrelevanten Werte der jungen Generation tendenziell rückläufig waren (vgl. Shell-Studie 1982), geht er davon aus, dass vor allem die Ehepartnerrolle ihre „spezifische Attraktion“ bzw. ihr sinnstiftendes Poten-tial im Lebenslauf verloren hat. In der Hochphase der bürgerlichen Familie besaß die Ehe

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noch einen hohen sozialen und ideellen Stellenwert in den Lebensplänen der Jugendlichen, auch weil ihnen ein Nichterreichen oder Scheitern von Ehe als persönliches Versagen, „als Verfehlen des Wichtigsten im Leben“ suggestiv nahegelegt wurde. Durch die Auflösung normativer Verbindlichkeiten und sozialer Sanktionen, nicht zuletzt auch in Bezug auf die bürgerliche Sexualmoral, die Intimbeziehungen nur für Eheleute vorsah, sind Heiratsent-scheidungen inzwischen weniger durch opportunistische oder sozialintegrative Beweg-gründe motiviert (vgl. Tyrell 1988, 152f.).

Die Folgen einer Deinstitutionalisierung der Normalfamilie liegen laut Tyrell nun darin, dass die einzelnen Elemente des herkömmlichen bürgerlichen Laufbahnregimes (Liebe, Ehe, Hausgemeinschaft, Sexualität und Kinder) mittlerweile „,isolierbar‘ und für sich zu-gänglich, aber auch in verschiedenen Varianten kombinierbar“ (ebd., 155) sind. Vor allem für Frauen haben die Destandardisierung des Lebenslaufes und die Pluralisierung priva-ter Lebensformen ein Anwachsen der Wahlmöglichkeiten und biographischen Optionen mit sich gebracht. Gleichzeitig stellt der Rückgang an eindeutigen, institutionengestützten Handlungsmaximen hohe Anforderungen an die Gestaltung privater Lebensformen. So fehlt es gerade in partnerschaftlichen Beziehungen infolge nicht mehr allgemein gültiger Leitbilder und als selbstverständlich erachteter Rollenvorgaben immer häufiger auch an herkömmlichen „Stabilitätsstützen“ (Schneider 2009, 142).

Diese unterschiedlichen Dimensionen der Deinstitutionalisierungsthese beschreiben all-gemeine Veränderungsprozesse in Bezug auf die institutionelle Qualität herkömmlicher familialer Normen- und Werteorientierungen. Zu einer differenzierteren Bewertung dieser theoretisch-konzeptionellen Überlegungen tragen empirische Studien bei, die sich mit dem Stellenwert von Ehe und Familie bzw. von Eltern- und Partnerschaft aus milieuspe-zifischer Perspektive beschäftigen. So kamen Burkart und Kohli (1992) in einer qualitati-ven Befragung von Angehörigen verschiedener „sozio-regionaler“ Gruppierungen zu dem Schluss, dass der Übergang in postmoderne Formen des privaten Zusammenlebens durch deutliche Ungleichzeitigkeiten zwischen den großstädtischen Milieus der Akademiker und den sogenannten „Alternativen“5 sowie dem Arbeitermilieu oder dem eher ländlichen Mi-lieu gekennzeichnet ist. Gemeinsam ist allen sozialen MiMi-lieus, dass die traditionellen Sta-tuspassagen in das Erwachsenenalter an Universalität und kultureller Selbstverständlich-keit verloren haben und der ‚Auszug aus dem Elternhaus‘, die ‚Beendigung der Ausbil-dung‘, die ‚Eheschließung‘ und die ‚Elternschaft‘ nun zum Gegenstand individueller Überlegungen, Planungen und Entscheidungen sowohl bei Männern als auch bei Frauen geworden sind. Dabei sind es jedoch vor allem die ländlichen bzw. proletarischen Milieus, die noch überwiegend an überlieferten familialen Orientierungsmustern festhalten, etwa indem eine Ehe auch nach längerem nichtehelichen Zusammenleben nicht „ernsthaft in Frage“ gestellt wird. Demgegenüber kann das Konzept der ‚Normalfamilie‘ vor allem bei den Akademikern oder „Alternativen“ keine normative Verbindlichkeit mehr entfalten.

Gerade hier zeigen sich die Veränderungen in den Wertestrukturen auch auf Handlungs-ebene, da Heiraten und Kinderkriegen zunehmend einer individuellen und beruflichen

5 Mit dem Milieukonzept der „Alternativen“ beschreiben Burkart und Kohli eine soziale Gruppe, die noch in der Tradition der linken Protestbewegung der 1960er und 1970er Jahre steht. Als „autonome Gegenkultur“

konnte sich die Alternativenszene zur damaligen Zeit vor allem in Westberlin etablieren. Als charakteristische Merkmale dieses soziokulturellen Milieus nennen Burkart und Kohli alternative Wohnprojekte, Produktions-, Dienstleistungs- und HandwerkerkollektiveProduktions-, ‚linke‘ SelbsthilfeorganisationenProduktions-, alternative Ökonomie und ei-gene Publikationsorgane wie etwa die ‚taz‘ (vgl. Burkart/Kohli 1992, 256).

Die bürgerliche „Normalfamilie“ als Auslaufmodell? 37 Selbstverwirklichung untergeordnet werden. Wenn im öffentlichen, medialen Diskurs be-reits ein Bedeutungsverlust der Institution Familie proklamiert wurde, hängt das laut Burkart und Kohli mit einer selektiven Wahrheitsproduktion zusammen (vgl. Burkart /Kohli 1992, 235ff.). „Das Bild, das in der Öffentlichkeit über die Ehe und die Familie vorherrscht, ist ein verzerrtes Bild, weil es von denen gezeichnet wird, die in den groß-städtischen Zentren sitzen und den besten Zugang zu den Medien haben; und im Milieu, in dem sie leben, gibt es mehr Probleme mit der Ehe und der Familie, einen ausgeprägteren Individualismus, eine stärkere Orientierung an der beruflichen Selbstverwirklichung“

(ebd., 239).

Wie schon Tyrell (1988) in seinen Überlegungen zur Reduktion des institutionellen Cha-rakters von Ehe und Familie ausdrücklich betont hat, darf der soziale Wandel nicht ein-seitig als allgemeiner Zerfall herkömmlicher Bedeutungszuschreibungen an familiales Zu-sammenleben missverstanden werden. Vielmehr hat sich die institutionelle Qualität der Familie von einer auf Schutz und Unterdrückung basierenden Sozialform (vgl. Giddens 1993), die sozial intensiv kontrolliert war und auch auf gesetzlich gesetzten starren Regeln beruhte, zu einer individuell gestaltbaren partnerschaftlichen Sozialform verschoben, die weiterhin hohe anspruchsvolle und idealisierte Erwartungen an das Zusammenleben rich-tet (vgl. Schneider 2012). So belegen empirische Studien, dass das Bedürfnis nach einem glücklichen Familienleben und einer eigenen Familiengründung einen anhaltend hohen subjektiven Stellenwert besitzen (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2010, 9;

Huinink/Konietzka 2007, 111). Auch die Jugendforschung (z.B. Shell-Studien, DJI- Jugendstudien) kann aufzeigen, dass in der jüngeren Generation familienrelevante Werte wieder ‚hoch im Kurs‘ stehen (vgl. Bien 2006, 263). „Wurde in den westdeutschen Jugen-duntersuchungen der 80er Jahre die wachsende Bedeutung der Gleichaltrigenkultur ge-genüber der Herkunftsfamilie und die deutliche Ablösung und Distanzierung von und zu dieser hervorgehoben, so zeigen die Jugendstudien der 90er Jahre ein Festhalten an den Eltern“ (Lenz/Böhnisch 1999, 61). Diese hohe Binnenorientierung in Bezug auf Familie ist für eine Gesellschaft charakteristisch, in der die verschiedenen sozialen Welten, denen sich die Individuen regelmäßig aussetzen, zunehmend durch Kontingenz und Pluralisie-rung geprägt sind. „Da diese [die sozialen Welten; A.L.] keinen einheitlichen Geltungs-anspruch mehr aufrechterhalten können, sich also relativieren lassen müssen, wird das In-dividuum gezwungen, sich auf die private, von der Öffentlichkeit abgegrenzte Wirklich-keit der Familie und der intimen Sozialbeziehungen zu konzentrieren, um eine stabile Identität auszubilden“ (Hettlage 1998, 63). Entsprechend ergibt eine aktuelle Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zu Normalitätsvorstellungen über das Zusam-menleben in Familien in der Altersgruppe der 20- bis 39-Jährigen, dass Familie in erster Linie mit den besonderen Erwartungen an eine liebevolle Partnerschaft und gegenseitige Wertschätzung besetzt ist. 85 Prozent der Befragten sehen es als sehr wichtig oder wichtig an, eigene Kinder zu haben. Eine Ehe setzen nur noch 10 Prozent der Ostdeutschen und 18 Prozent der Westdeutschen bei der Erfüllung eines Kinderwunsches voraus. Wesent-lich wichtiger erscheint dabei eine gute materielle Ausgangssituation. Dennoch wird die Ehe auch weiterhin von der überwiegenden Mehrheit der jungen Erwachsenen (65 Pro-zent) sozial akzeptiert. Knapp die Hälfte (43 ProPro-zent) stimmt der Aussage zu, dass ein dauerhaftes Zusammenleben auf einer Ehe basieren sollte (vgl. BIB 2013).

Im Vergleich zu den 1950er und 1960er Jahren hat die Ehe in den prospektiven Lebens-plänen der heutigen jungen Generation zwar an Gewicht verloren. Wenn überhaupt, wird

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später geheiratet, zudem deuten erhöhte Scheidungsraten auf eine zunehmende Instabilität von Paarbeziehungen hin, obschon verheiratete Paare sich seltener trennen als unverhei-ratete (vgl. Huinink 2009). Laut Nave-Herz ist diese Entwicklung jedoch nicht mit einem grundsätzlichen Bedeutungsverlust von Ehe und dauerhafter Paarbeziehung gleichzuset-zen. In ihrer ‚Emotionalisierungsthese‘ geht die Familiensoziologin davon aus, dass ein zögerliches Heiratsverhalten und eine erhöhte Scheidungs- und Trennungsbereitschaft vielmehr Ausdruck eines institutionellen Wandels familialer Beziehungsstrukturen sind, der auf die Durchsetzung eines individuellen Anspruchs auf ein erfülltes und subjektiv sinnstiftendes Ehe- und Familienleben hindeutet (vgl. Nave-Herz 2002; Burkart 2008, 27).

„Befreit von äußeren Faktoren, wie zum Beispiel von traditionellen und religiösen Bin-dungen, oder der finanziellen Abhängigkeit der Frau, steht die affektive Bindung als das zentrale Konstituens der Familie heute unter einem verschärften Druck, sich bewähren zu müssen“ (Grosser 2006, 63). Paradoxerweise ist es gerade die verhältnismäßige Höher-wertung des – für das bürgerliche Familienleitbild charakteristischen – romantischen Lie-besideals, die sich als unsichere Basis für eine lebenslange Beziehung herausstellt (vgl.

Huinink 2009).

Wenn sich die normativen Ansprüche an die Ehe insgesamt gelockert haben, so scheinen die gesellschaftlichen Anforderungen an die Elternschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts dagegen an Gewicht noch gewonnen zu haben. Die hohe Erziehungsverantwortung der Eltern und insbesondere der Mutter, die sich schon mit dem bürgerlichen Familienideal fest etablieren konnte, hat sich durch die wirksamer gewordene Geburtenkontrolle um den

„Normkomplex der verantworteten Elternschaft“ erweitert (vgl. Kaufmann 1988). Eltern sehen sich nun mit dem Postulat konfrontiert, „Kinder nur dann zur Welt zu bringen, wenn man glaubt, dieser Verantwortung tatsächlich gerecht werden zu können“ (ebd., 395). Die Kinderfrage wird somit zu einer Option, die bei einem hohen Anspruchsniveau der Eltern nicht mehr selbstverständlich gewählt wird. Sowohl die materielle Ausgangslage als auch das Selbstvertrauen in die eigenen erzieherischen Kompetenzen sind in der Wahrnehmung vieler Eltern zentrale Barrieren für eine Familiengründung bzw. -erweiterung. So glauben in einer aktuellen Umfrage 84,4 Prozent der 20- bis 39-Jährigen, dass man in der Kinder-ziehung im Allgemeinen „viel falsch machen kann“. Zudem geht ein großer Teil (26,2 Prozent) davon aus, dass Eltern ihre eigenen Bedürfnisse denen der Kinder „komplett“

unterordnen müssen (vgl. BIB 2015, 10).

Insbesondere in Bezug auf die Elternrollen schimmern in den gegenwärtigen Leitbildern einer „guten Mutter“ und eines „guten Vaters“ (vgl. BIB 2013) trotz des vordergründigen Wandels normativer Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft häufig noch die traditi-onellen Rollenerwartungen des bürgerlichen Familienideals durch. Dabei ist es vor allem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die viele Frauen mit einem normativen Entschei-dungsdilemma konfrontiert. Einerseits zeigt sich, dass heutzutage in der Altersgruppe der jungen Erwachsenen immerhin 76 Prozent der Frauen und 72 Prozent der Männer dem

Insbesondere in Bezug auf die Elternrollen schimmern in den gegenwärtigen Leitbildern einer „guten Mutter“ und eines „guten Vaters“ (vgl. BIB 2013) trotz des vordergründigen Wandels normativer Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft häufig noch die traditi-onellen Rollenerwartungen des bürgerlichen Familienideals durch. Dabei ist es vor allem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die viele Frauen mit einem normativen Entschei-dungsdilemma konfrontiert. Einerseits zeigt sich, dass heutzutage in der Altersgruppe der jungen Erwachsenen immerhin 76 Prozent der Frauen und 72 Prozent der Männer dem

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