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12 Elternschaft in jungen Familien

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Academic year: 2022

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Vorbemerkung

Bei der folgenden Arbeit handelt es sich um eine etwas gekürzte Fassung meiner Disser- tation im Fachbereich Erziehungswissenschaft, die unter gleichem Titel im Sommer 2019 an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock angenommen wurde. Den Erfolg des Qualifikationsprojektes verdanke ich zahlreichen Personen, die ich an dieser Stelle ausdrücklich würdigen möchte. So gilt mein besonderer Dank Hans-Jürgen von Wensierski, von dem ich in einer Dekade gemeinsamer Forschungsarbeiten viel gelernt habe. Auch bei der Konzeption, Durchführung und Fertigstellung dieser empirischen Stu- die wurde ich durch ihn sorgfältig beraten. Ebenso möchte ich Jens Brachmann und Jutta Ecarius für ihre verlässliche Betreuung und die fachlichen Ratschläge im Rahmen der Pro- motion danken. Die Teilnahme an ihren Doktorandenkolloquien in Rostock und Köln war stets genauso fordernd wie anregend.

Sehr verbunden bin ich darüber hinaus den vielen Eltern, die mir ihr Vertrauen geschenkt haben und mir während der Interviews tiefe Einblicke in ihren erzieherischen Alltag und ihre familiale Lebensführung gewährten. Die Offenheit dieser jungen Mütter und Väter in der Darstellung ihrer ganz persönlichen familienbiographischen Erfahrungen vor dem Hintergrund einer längst nicht immer einfachen sozialen Lebenslage hat mich sehr beein- druckt und maßgeblich zum Erfolg der Studie beigetragen. Erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch Janett Launhardt und Lea Puchert, meine ehemaligen Kolleginnen in einem Forschungsprojekt zur Situation der Eltern- und Familienbildung im Landkreis Ostvor- pommern. Beiden danke ich für die inhaltliche und motivationale Unterstützung bei der Umsetzung meiner eigenen, nun vorliegenden Arbeit zu Elternschaftsverläufen und Erzie- hungskonzepten in jungen Familien. Ein großer Dank gebührt zudem den Studierenden, die mir bei der Erhebung und Transkription der Interviews geholfen haben. In diesem Zu- sammenhang möchte ich insbesondere die zuverlässige Hilfe von Sarah Puchert und Katja Prochatzki-Fahle hervorheben.

Den wohl wichtigsten Beitrag zur Realisierung der Studie leistete meine eigene Familie.

So danke ich meinen Eltern für ihre Geduld und Zuversicht. Vor allem aber sind es meine Frau und meine Kinder, die mir den nötigen Rückhalt und Antrieb gaben. Ihnen widme ich diese Arbeit!

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Einleitung

Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit den familienbiographischen Erfahrungen und Erziehungsprozessen von Eltern in jungen Familien. Den Ausgangspunkt für die Analyse bildet der bislang kaum systematische und empirisch begründete erziehungswissenschaft- liche Zugang zu den subjektiven Sinnstrukturen, lebensweltlichen Orientierungsprozes- sen, individuellen Entwicklungsverläufen und systemischen Abhängigkeiten von Eltern- schaft und Erziehung unter den Bedingungen ‚spätmoderner Gesellschaftsentwürfe‘. Der mittlerweile vielschichtige sozialwissenschaftliche Fokus auf Familie liefert zwar bereits differenzierte Befunde zur zunehmenden Vielfalt von familialen Lebensformen in der heu- tigen Gesellschaft, zu verschiedenen Dimensionen familialer Beziehungsgestaltung und gleichzeitig auch zu den wechselseitigen Funktionsbezügen zwischen Familie und ande- ren gesellschaftlichen Teilsystemen wie dem Bildungssystem oder dem Arbeitsmarkt. Ins- besondere im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Diskussion über eine neue Funkti- onsteilung zwischen privater und öffentlicher Erziehung fehlt es bislang jedoch an biogra- phischen Rekonstruktionen der Elternsicht. Dabei ist es in kritischer Auseinandersetzung mit den aktuellen, eher normativ-symbolischen Prämissen einer ‚Erziehungspartnerschaft‘

zwischen Familie und öffentlichen Erziehungs- und Bildungsinstitution aus allgemeiner sowie sozialpädagogischer Perspektive bedeutsam, inwieweit Eltern hierbei in Abhängig- keit ihrer individuellen, lebensweltlichen und milieuspezifischen Lebenslagen als auto- nome Subjekte auftreten können und dabei die institutionellen Bildungsübergänge und Entwicklungsprozesse ihrer Kinder vorstrukturieren bzw. entlang ihrer eigenen, je spezi- fischen Erwartungshaltungen und Möglichkeiten mitgestalten.

Die folgende Arbeit setzt somit zunächst an makrotheoretischen Zeitdiagnosen an, nach denen gesellschaftliche Modernisierungsprozesse in den letzten Jahrzehnten die Lebens- bedingungen und Lebenslagen von Eltern und Kindern in den Familien aller sozialen Mi- lieus nachhaltig verändert haben (vgl. Peuckert 2012; Schneider 2009). Eine zentrale Rolle spielt hierbei die allgemeine Herauslösung der Individuen und ihrer sozialen Bezugsgrup- pen aus traditionellen, vorbestimmten Sozialformen, Bindungen und Glaubenssystemen als Voraussetzung für die Entstehung neuer Lebensstile und Lebensentwürfe sowohl in sozialer, kultureller als auch wirtschaftlicher Hinsicht. Aus individualisierungstheoreti- scher Perspektive (vgl. Beck 1986) lassen sich die Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels aber nicht nur über einen grundsätzlichen Zuwachs an biographischen Gestal- tungsoptionen und Freiheiten der Menschen charakterisieren. Der Freisetzungsdimension werden immer auch erheblich gestiegene Unsicherheiten und neue soziale Zwänge gegen- übergestellt. Löst sich der eigene Lebensweg zunehmend von klassischen, schicht- oder geschlechtsspezifischen Biographieverläufen und Laufbahnnormen, verlangt die Biogra- phisierung und Subjektivierung der eigenen Lebensplanung (vgl. Marotzki 1990; Fuchs 1983) nun ein erhöhtes Maß an Reflexivität und Eigenverantwortung sowie ggf. auch bi- ographische Umorientierung und Neugestaltung – in Abhängigkeit zu sozialökonomi- schen Lebenslagen und potentiellen sozialen Risiken wie Armut, Arbeitslosigkeit und psy- chosozialen Belastungen. In diesem Zusammenhang werden insbesondere die Auswirkun- gen der „forcierten Moderne“ (Lange 2009, 437) mit ihren hochkomplexen Ansprüchen an Leistungsbereitschaft, Flexibilität und Mobilität spürbar.

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12 Elternschaft in jungen Familien

Die Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung privater Lebensformen spiegeln sich in ihren Ambivalenzen mit besonderer Wirkung in den sozialen Strukturen und Bin- nenmilieus der Familien wider. In der soziologischen Forschung wird daher seit langem auf den Strukturwandel der Familie (vgl. Peuckert 2012) hingewiesen, der sich zunächst an einigen krisenhaften Indikatoren festmachen lässt: Stichworte sind hier etwa die gestie- genen Scheidungs- und Trennungsraten von Eltern oder der drastische Geburtenrückgang.

Als Ursache für den Wandel wird unter anderem von einer Deinstitutionalisierung der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihren normativen Implikationen und herkömmlichen Kohä- sionskräften ausgegangen. An die Stelle des Monopols einer ehelichen, patriarchalisch organisierten Kleinfamilie ist inzwischen die heterogene und dynamische Landschaft viel- fältiger alternativer familialer Lebensentwürfe getreten, die letztlich einen erweiterten Fa- milienbegriff einfordern: Alleinerziehende, nicht-eheliche Lebensgemeinschaften, Patch- work-Familien oder gleichgeschlechtliche Elternpaare etc.. Insbesondere auf der Basis ei- ner grundlegend veränderten Rolle der Frauen im Spannungsfeld zwischen Partnerschaft, Familie, Beruf und Öffentlichkeit müssen die innerfamilialen Beziehungen sowie die so- zialen und erzieherischen Zuständigkeiten neu austariert werden. Aber auch die interge- nerativen Verhältnisse in den Familien kennzeichnet im sozialhistorischen Vergleich eine Entwicklung hin zu mehr Empathie, Aushandlung und Kooperation jenseits ehemals asymmetrisch-autoritärer Beziehungsformen (vgl. Ecarius 2002; Ecarius u.a. 2017;

Matthes 2011). Die Befunde der Familienforschung erscheinen bei erster Betrachtung denn auch widersprüchlich: Einerseits lassen sich die Familien in ihrer Tendenz zu einem stärker informellen, geschlechteregalitären, demokratischen und emotionalen Bezie- hungssystem gerade vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse als ein spezialisiertes soziales System mit besonderer sinnstiftender und persönlichkeitsstabi- lisierender Funktion betrachten (vgl. Nave-Herz 2014, 15), andererseits sind je nach sozi- aler Lebenslage viele Familien damit überfordert, die Belastungen einer ökonomisierten Lebenswelt und einer individualisierten Lebensführung im Kontext eines harmonischen und intakten Familienverbandes autonom zu bewältigen (vgl. Uhlendorff u.a. 2013;

Bründel 2011; Klemm 2011).

Elternschaft und familiale Erziehung als Kernprozesse sozialer Generativität (vgl.

Waterstradt 2016) sowie als biographische Prozessstrukturen sind in hochkomplexen Ge- sellschaften somit eingebettet in individuell gestaltbare Sozial- und Lebensformen und stellen dabei neue Herausforderungen insbesondere an die Erziehungsberechtigten. Die Familien- und Sozialisationsforschung gibt Auskunft darüber, dass das Zusammenleben in Familien zu einer sozial-interaktiven und kontinuierlichen Herstellungsleistung wird, in deren Rahmen unterschiedliche, zum Teil disparate individuelle Bedürfnisse, Wertvor- stellungen, Autonomieansprüche sowie Erziehungsziele und Sozialisationserfahrungen der einzelnen Familienmitglieder zunehmend kommunikativ ausgehandelt werden müssen (vgl. Bertram 2009; Schier/Jurcyk 2008; Lange 2009). Dabei sehen sich Eltern hinsicht- lich ihrer Familiengestaltung und Erziehungsvorstellungen mittlerweile mit einer Vielzahl konkurrierender Orientierungsmuster und pädagogischer Leitbilder konfrontiert. Ange- sichts der Erosion traditioneller Familienmodelle und des Verlustes verbindlicher und selbstverständlicher Handlungsmuster finden Eltern heute nicht mehr ohne Weiteres ein- deutige Orientierungshilfen für eine vermeintlich ‚richtige‘ Erziehung im Spannungsfeld zwischen Fürsorge, Kontrolle und Förderung von Selbständigkeit (vgl. Uhlendorff 2001, 15f.). So bedingt die Ausdifferenzierung der ehemaligen Mehr-Generationen-Familie mit

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Einleitung 13 ihren vielfältigen persönlichkeitsbildenden, sozialen und pädagogischen Funktionen in Richtung Ein-Generationen-Haushalt, Alleinerziehenden-Familie oder Lebensabschnitt- partnerschaften auch immer einen Verlust an sozialen Bezugssystemen, die Eltern als (familien)biographische Leitbilder und identitätsstiftende Role Models zur Verfügung ste- hen können. Nicht zuletzt durch die zunehmenden adoleszenten Verselbständigungspro- zesse gegenüber dem Herkunftsmilieu und somit auch durch die immer größer werdende zeitliche und räumliche Trennung der eigenen Familiengründung von dem Haushalt der Herkunftsfamilie stellt die selbst erfahrene Erziehung zumindest auf der Reflexionsebene längst kein unhinterfragbares Referenzsystem für die jungen Mütter und Väter mehr dar.

Der Unsicherheit vieler Eltern im Erziehungsalltag steht andererseits aber auch ein in den Lebenswelten deutlich gestiegenes entwicklungspsychologisches Wissen über die persön- liche und sozialisatorische Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung für die psychosoziale Entwicklung des Kindes gegenüber. Mithin markiert die hohe Nachfrage nach öffentli- chen und medialen Erziehungsratgebern den Trend zu einer Versozialwissenschaftlichung familialer Lebenswelten – etwa im Sinne einer zunehmenden Pädagogisierung und Psy- chologisierung der elterlichen Erziehung. Der Zuwachs an Reflexivität und Fachwissen von Eltern über Fragen der Erziehung und Entwicklung der Kinder, der mit diesem Wan- del einhergeht, erhöht zugleich die Aufmerksamkeit gegenüber dem eigenen vermeintlich erzieherischen Fehlverhalten oder auch die Sensibilität gegenüber Entwicklungssympto- men (vgl. Textor 2007b, 366; Minsel 2009, 865). Öffentliche Diskurse etwa über ADHS, Hochbegabung oder Lese-Rechtschreibschwächen befördern die Unsicherheiten der El- tern – ungeachtet ihrer erzieherischen Einflussmöglichkeiten. An die Stelle eines selbst- verständlichen und unbefangenen Erziehungsmilieus treten mit den sozialen Aufstiegs- oder Distinktionsmöglichkeiten die persönlichen Erziehungs- und Bildungsambitionen der Eltern sowie die medialen und gesellschaftlichen Leitbilder einer guten, erfolgreichen und ‚verantwortlichen Elternschaft‘. Erziehung in der forcierten Konsumgesellschaft avanciert somit zum Leistungswettbewerb um die materiellen und symbolischen Vorteile im ‚kulturellen Konkurrenzkampf‘ (vgl. Meyer 2002b). Der zunehmend ökonomisch auf- geladene gesellschaftliche Diskurs über das zukünftige ‚Humankapital‘ erhöht so auch sozialpsychologisch den Druck auf die Eltern, ihre Erziehungskonzepte und bildungsbe- zogenen Leitbilder (vgl. Merkle/Wippermann 2008).

Die Familie ist die zentrale Erziehungs- und Sozialisationsinstanz der nachwachsenden Generation – das ist zumindest der beständige Befund der Kindheits- und Jugendfor- schung, „da in und durch familiale Interaktionen Kinder und Jugendliche basale Verhal- tensweisen sowie kognitive und emotionale Grundstrukturen herausbilden“ (Ecarius u.a.

2011, 9). Nach wie vor ist die elterliche Erziehung für die Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden um ein Vielfaches größer als der institutionelle Einfluss in öffentlichen Bildungsinstitutionen (vgl. Tietze u.a. 2012). Dabei liegt die prägende und persönlich- keitsbildende Bedeutung der Familie an ihrem Charakter als intimes und emotionales Be- ziehungssystem mit seinen frühzeitigen und dauerhaften Bindungen, seinem Primärgrup- pencharakter und seinem Angebot an elterlichen und geschwisterlichen Identifikations- mustern, die bereits in der Kindheit einen wirksamen Kontrapunkt zu den funktionalen und austauschbaren sozialen Rollen der Gesellschaft setzen. Einschlägige Studien der Fa- milienforschung sowie internationale Vergleichsuntersuchungen belegen denn auch, dass das informelle Lern- und Bildungsmilieu der Familie eine nachhaltige Bedeutung für die individuellen Bildungsbiographien hat (vgl. Büchner/Wahl 2005; Baumert u.a 2001). Im

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14 Elternschaft in jungen Familien

Umkehrschluss bedeutet dies allerdings auch, dass soziale Ungleichheitsstrukturen schon frühzeitig Einfluss nehmen können auf die Entwicklung von Kindern: Familiale Bildungs- leistungen sind im hohen Maße abhängig von den ökonomischen, zeitlichen, sozialen und soziokulturellen Ressourcen im lebensweltlichen Umfeld. Ein belastendes und instabiles Erziehungs- und Beziehungsklima sowie prekäre Lebensverhältnisse der Familie veren- gen die Sozial- und Erfahrungsräume der Kinder. Verstärkt wird diese Ungleichheitsstruk- tur in den sozialen und familialen Lebenslagen vielfach durch ein hierarchisch strukturier- tes und segmentiertes Bildungssystem, dessen selektionsbezogene Übergänge vielen Kin- dern den sozialen Aufstieg aus bildungsfernen Milieus erschwert; insbesondere wenn den Eltern die notwendige strukturelle Unterstützung fehlt, um den formalen Bildungsansprü- chen der Kinder gerecht zu werden (vgl. Szydlik 2007).

Auf Grund ihrer zentralen Bedeutung als Basisinstitution gesellschaftlichen Zusammen- lebens und als primärer Ort der Erziehung und Bildung der nachwachsenden Generation steht die Familie – nicht erst seit der bundesweiten Einführung des Kinder- und Jugend- hilfegesetzes im Jahr 1991 – im programmatischen Fokus aller sozialen, pädagogischen und politischen Bemühungen um eine bessere, chancengerechtere Erziehung, Bildung und Förderung von Kindern und Jugendlichen. Die Ausdifferenzierung sozialpädagogischer Beratungs- und Sozialdienste mit ihren methodisch fundierten und professionalisierten Er- ziehungs- und Familienhilfen sowie der Ausbau von frühpädagogischen und ganztägigen Betreuungs- und Bildungsangeboten kennzeichnen vor diesem Hintergrund ein neues Gleichgewicht in der Funktions- und Aufgabenteilung zwischen privater und öffentlicher Erziehung (vgl. Böllert 2012). In diesem wohlfahrtsstaatlichen Arrangement ergibt sich jedoch ein Paradox (vgl. Oelkers 2012a): Neben Prozessen der Defamilialisierung und Sozialpädagogisierung kindlicher Lebenswelten, also der strukturellen Auslagerung fami- lialer Erziehungs-, Bildungs- und Förderfunktionen an öffentliche, pädagogisch professi- onalisierte Institutionen, setzen aktuelle sozial- und familienpolitische Steuerungsmodelle zugleich auf Re-Familialisierung im Sinne einer „Stärkung familialer Erziehungs- und Be- ziehungskompetenzen“ (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2005). Im Kern soll es dabei um die Aktivierung und Befähigung von Eltern zur eigenverantwortlichen, mög- lichst autonomen Bewältigung individualisierter Problemlagen gehen. Insbesondere die Eltern- und Familienbildung wird in diesem Zusammenhang als geeignete präventive In- stanz zur Herausbildung oder Konsolidierung elterlicher Erziehungs- und Unterstützungs- kompetenzen gesehen. Kritisch bleibt indes die Adressierungslogik dieser wohlfahrts- staatlichen Aktivierungs- und Präventionsrhetorik – Autonomie und Selbstbestimmung für die Mittelschichteltern vs. Kontrolle und disziplinierende Zugriffe auf ‚prekäre‘ Fami- lienkonstellationen (vgl. Oelkers 2009b)?

Wenngleich dieser neuere Diskurs über autonome Elternkompetenz zur Folge hat, dass Fragen gelingender Familienerziehung wieder in den Fokus erziehungswissenschaftlicher und sozialpädagogischer Forschung gelangen, so reduziert er jedoch elterliches Handeln auf ein normatives Wissensmodell, mithin auf ein Verständnis von Erziehung als rational und kognitiv planbaren Prozess, ohne die individuellen lebensweltlichen Problemlagen, pluralisierten Lebensformen sowie familienbiographischen Sinnstrukturen und Interakti- onsmuster der Akteure ausreichend zu berücksichtigen. Die Gefahr einer solchen Ent- wicklung in Richtung auf eine zunehmend ausdifferenzierte Analyse und Diagnostik el- terlicher Erziehungskompetenz liegt in der Konstruktion des latenten Leitbildes einer

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„professionalisierten Elternschaft“ – mit der stillschweigenden Annahme, nur pädago- gisch optimierte Eltern seien gute Eltern.

Befeuert und unterstützt wird der familienpolitische Diskurs über ‚gute Elternschaft‘ und

‚gelingende Erziehung‘ nicht zuletzt auch durch Studien in der Tradition der klassischen Erziehungsstilforschung mit ihren eher idealtypischen und statischen Konzepten elterli- chen Handelns. So folgt auch das daraus entwickelte und viel rezipierte Erziehungsmodell

„Freiheit in Grenzen“ (Schneewind/Böhmert 2010) der Prämisse, dass sich familiale Er- ziehungswirklichkeit allein über ‚optimale‘ Formen elterlicher Grundeinstellungen erklä- ren lassen kann.

In der vorliegenden Studie möchte ich diesen normativ aufgeladenen Bestimmungsversu- chen von Elternschaft und familialer Erziehung eine eigene empirische Analyse und Re- konstruktion familienbiographischer Prozessverläufe junger Eltern gegenüberstellen. Auf der Basis eines biographie- und handlungstheoretischen Ansatzes wird elterliches Handeln dabei nicht als eindimensionales Konstrukt bestimmter Fähigkeitskonzepte, Einstellungen oder Erziehungsstile gefasst, sondern als soziales und erzieherisches Handeln vor dem Hintergrund einer besonderen Familiengeschichte, der eigenen Strukturen der Lebenswelt sowie im Rahmen gesellschaftlicher und sozialstaatlicher Strukturen – etwa in den Erzie- hungs- und Bildungseinrichtungen (v.a. Kindertagesstätten, Schule, Hort, Jugendamt).

Das Erkenntnisinteresse richtet sich hierbei vor allem auf folgende Fragen:

x Wie wirken sich der soziale Wandel und die Pluralisierung privater Lebensformen auf die Lebenssituation von jungen Eltern aus?

x Wie gestalten Eltern ihre familienbiographischen Übergänge und Lebensentwürfe und welche unterschiedlichen sozialen und pädagogischen Orientierungsmuster kommen dabei je nach Milieu, Geschlecht oder auch biographischer Sozialisation zum Vorschein?

x Und letztlich: Inwieweit tragen die fortschreitenden Ausdifferenzierungsprozesse in den sozialstaatlichen Systemen und kulturellen Lebensbereichen zu einer (sozial)pädagogi- schen Kolonialisierung familialer Lebenswelten bei? Oder anders ausgedrückt: Wie bil- den sich angesichts der umfangreichen gesellschaftlichen Leitbilder, arbeitsmarktbezo- genen Eingliederungszwängen sowie wohlfahrtsstaatlichen und bildungspolitischen Anforderungsstrukturen Erfahrungen autonomer Elternschaft aus?

Im Rahmen einer qualitativen, rekonstruktiven Interviewstudie wurden dazu Eltern aus jungen Familien zu ihren familienbiographischen Verläufen, ihren Erfahrungen in der Er- ziehung und Förderung ihrer Kinder, zu den Erfahrungen in der eigenen Herkunftsfamilie und im sozialen Umfeld, zu den eigenen Lebenslagen und Problemen im Alltag sowie zu den Erwartungen der familialen Lebenswelt und der öffentlichen Erziehungs- und Bil- dungsinstitutionen befragt. Das Ergebnis ist eine Typologie unterschiedlicher Eltern- schaftsmodelle und Erziehungskonzepte, die den Pluralismus elterlichen Handelns jen- seits klassischer Schemata von Erziehungsstilen und milieuspezifischen Modellen abbil- den kann. Das hierfür gewählte offene und narrative Gesprächsverfahren zielte denn auch methodisch darauf ab, dass die Eltern ihre Erfahrungen, Probleme und Alltagsthemen nicht unter vorgegebenen und nachgefragten Kompetenzdimensionen subsumieren, son- dern in einen individuellen Sinnzusammenhang ihrer jeweiligen familienbiographischen Prozessstruktur einordnen. Ob die Eltern in ihrer Erziehung am Ende als autonom, selbst- wirksam, überfordert oder fremdbestimmt erscheinen, bleibt somit immer ihrer eigenen Darstellung überlassen.

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16 Elternschaft in jungen Familien

Zum Aufbau der Studie: Im Rahmen der Aufarbeitung des Theorie- und Forschungsstan- des zum Thema (I) beschäftigt sich das erste Kapitel mit makrosoziologischen Befunden zum Wandel der Familie als private Lebensform. Nachdem in einem ersten Schritt die empirischen Indikatoren für eine historische Veränderung der Strukturmerkmale familia- ler Lebensführung herausgearbeitet werden, geht es im Folgenden um theoretische Erklä- rungsversuche, die sowohl den Wandel als auch die Kontinuität von Familie und Eltern- schaft im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse in den Blick nehmen. Vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsdiskurses folgt eine differenzierte Analyse zum Ausmaß der Pluralität von Familie als Lebensform und soziale Institution unter besonderer Berücksichtigung intergenerativer Interaktionsstrukturen und geschlechtsbezogener Rol- lenzuschreibungen. Die These ist dabei, dass das nach wie vor latente gesellschaftliche Leitbild der bürgerlichen Kleinfamilie als autonome, intime und dauerhafte Gefühlsge- meinschaft insbesondere mit seinen geschlechtsspezifischen Konnotationen zunehmend in ein Spannungsverhältnis mit den lebensweltlichen Erfahrungen und Alltagssituationen der Individuen gerät. Um den Zusammenhang von sozialem Wandel, kulturellen Leitbil- dern und individualisierter Elternschaft hinsichtlich meiner Fragestellung noch stärker theoretisch zuzuspitzen, wähle ich zum Abschluss des ersten Kapitels einen Exkurs in die Kolonialisierungsthese von Habermas (1997). In Anlehnung an aktuellere Zeitdiagnosen (vgl. Meyer 2002a) sollen die ambivalenten Auswirkungen gesellschaftlicher Normen- komplexe, etwa einer bildungsengagierten und professionalisierten Elternschaft, auf die lebensweltlichen Orientierungsmuster von Eltern und Familien diskutiert werden.

Im Kapitel I.2 wird die Familie aus einer mikrotheoretischen Perspektive als Sozialisati- onspraxis und als individueller Gestaltungsraum pädagogischer Generationenbeziehungen betrachtet. Dazu wird als theoretisches Leitbild für die eigene empirische Studie zunächst ein analytisches Konzept entwickelt, das den familienbiographischen Erfahrungszusam- menhang als individuelles Lern- und Entwicklungsfeld für elterliches Handeln fasst. In Abgrenzung zu soziologischen und entwicklungspsychologischen Theorietraditionen ste- hen dabei neuere Ansätze einer erziehungswissenschaftlichen Familienforschung im Fo- kus, die subjekt-, biographie- und handlungstheoretische Impulse aufnehmen und famili- ale Lebensführung gleichzeitig in Interaktion mit lebensweltlichen und systemisch-ökolo- gischen Strukturbedingungen konzeptualisieren. Als Heuristik für eine Prozessanalyse von Elternschaft werden dann die vorliegenden theoretischen und empirischen Befunde zu einzelnen familienbiographischen Übergangsprozessen differenziert betrachtet und zu- sammengefasst. Das Kapitel schließt mit einer Perspektive auf Familienerziehung als Teil einer fall- und milieuspezifischen Lebenspraxis und nimmt dabei eine kritische Revision der bisherigen, häufig dimensionalen und monokausalen Forschungszugänge vor.

Das dritte Kapitel im ersten Teil der Studie (I.3) thematisiert konkreter die normative Strukturierung familialer Lebensführung und Erziehung im Kontext familienpolitischer Diskurse und wohlfahrtsstaatlicher Steuerungsmodelle. Hier soll ein kurzer historischer Abriss zur wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung in Deutschland darstellen, in welchem Zu- sammenhang der Wandel der Familie zu einer gegenwärtigen Verschiebung der Zustän- digkeiten und Verantwortungszuschreibungen zwischen privater und öffentlicher Erzie- hung steht und welche familienpolitischen aber auch familienwissenschaftlichen Leitbil- der dabei eine Rolle spielen. An den Beispielen der Elternbildung und der sozialpädago- gischen Familienhilfe werden die Möglichkeiten und Grenzen in den Kooperations- und

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Einleitung 17 Delegationsverhältnissen zwischen den sozialstaatlichen, pädagogischen professionali- sierten Instanzen und den Familien angedeutet. Daraufhin werden Anforderungen an eine kritisch-reflexive Perspektive der sozialpädagogischen Familienforschung formuliert.

Im zweiten Teil der Studie (II) wird ausführlich auf die Zielgruppe der befragten Eltern und das qualitative Methodendesign eingegangen, das sich in Anlehnung an biographisch- narrative Interviewverfahren in erster Linie an der fallbezogenen Rekonstruktion fami- lienbiographischer Erfahrungszusammenhänge und Elternschaftsprozesse orientiert.

Den Hauptteil der vorliegenden Arbeit (III) bildet die Darstellung der eigenen empirischen Elternstudie. Als Ergebnis der Auswertung von insgesamt 26 familienbiographischen In- terviews mit jungen Müttern und Vätern werden hier 8 ausführliche Fallstudien, systema- tisiert in einer Typologie zu Elternschaftsverläufen und Erziehungskonzepten in jungen Familien, vorgestellt1. Die Typologie charakterisiert in ihren Polen das Spanungsverhält- nis einer familienzentrierten Elternschaft im Kontext eines introvertierten, insbesondere gegenüber pädagogisch-institutionellen Instanzen zurückhaltenden Familienmilieus zum einen sowie einer sozialpädagogisch und sozialrechtlich gesicherten und damit hochgradig vergesellschafteten Elternschaft zum anderen. Insgesamt ergaben sich fünf unterschiedli- che Typen:

Typ 1: Familienzentrierte Elternschaft ohne (sozial)pädagogische Grundsicherung Typ 2: Autonome Elternschaft bei (sozial)pädagogischer Grundsicherung

Typ 3: Fragile Elternschaft im Spannungsfeld pädagogischer Sozialisationsinstanzen Typ 4: Sozialpädagogisch und fördertherapeutisch erweiterte Elternschaft

Typ 5: Sozialrechtlich und sozialpädagogisch gesicherte Elternschaft

Während für die Konstruktion des Typus 1 ausschließlich Befunde aus anderen Studien als heuristische Basis fungieren, können die Typen 2 bis 5 aus den vorliegenden Fallstu- dien heraus entwickelt werden. Die Konzentration der erhobenen Fälle im Typus 2 macht zudem eine Ausdifferenzierung in verschiedene Subvarianten notwendig, um so der em- pirisch vorfindlichen Komplexität und der biographischen Prozesshaftigkeit einer autono- men Elternschaft Rechnung zu tragen. Das Kapitel III.3 liefert in komparatistischer und kontrastiver Perspektive eine systematische Analyse zur Struktur der Typologie und zu den einzelnen Elternschaftstypen. Die Analyse verlässt dabei die Ebene des Einzelfalls und rekonstruiert die strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Prozessver- läufen aller vorliegenden Elternbiographien.

Im letzten Teil (IV) wird in systematischer Absicht der empirische und theoretische Ertrag der Studie reflektiert. Eine besondere Berücksichtigung finden dabei Erkenntnisse über die Vielschichtigkeit und Dynamik pädagogischer Wissensstrukturen und Handlungsmus- ter sowie familienbiographischer Lebensentwürfe von Eltern im Kontext pluralisierter Le- bensformen und wie diese in der Auseinandersetzung mit lebensweltlichen und institutio- nellen Bezugssystemen entstehen und wirksam werden.

Die vorliegende Arbeit ist um eine gendersensible Sprache bemüht und verwendet, wenn möglich, sprachliche Alternativformen zum generischen Maskulinum.

1 Für die vorliegende Publikation wurde die ursprüngliche Dissertationsschrift im empirischen Teil um einzelne Fallstudien gekürzt. Dabei handelt es sich um zusätzliche Einzelfallanalysen zu den Typen 3, 4 und 5. Zum besseren Nachvollzug der jeweiligen typenspezifischen Strukturmerkmale und Binnenvarianzen stehen diese Elternportraits digital zur Verfügung unter: https://www.iasp.uni-rostock.de/forschung/promotionspro- jekte/abgeschlossene-promotionsprojekte/elternstudie-langfeld/

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Teil I:

Familie, Elternschaft und Erziehung

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1 Die Familie im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse

In ihrer Bedeutung als soziale Lebensform sowie als soziale Institution weist ‚die Familie‘

im Zuge fortschreitender gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse (vgl. Beck 1994) eine hohe Veränderungsdynamik auf. Dabei basiert der Übergang der Familie in die indi- vidualisierte Gesellschaft zugleich auf einem dialektischen Verhältnis aus „ausgeprägtem Wandel und bemerkenswerter Beständigkeit“ (Schneider 2012).

Besonders der Blick auf familiale Strukturmerkmale deutet auf einen weitreichenden Transformationsprozess hin. Steigende Scheidungsraten, abnehmende Geburtenzahlen o- der etwa das mittlerweile hohe Ausmaß an nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Al- leinerziehenden vermitteln zunehmend den Eindruck einer wachsenden Instabilität und Pluralisierung familialer Lebensverhältnisse. Obwohl letztlich noch immer die Mehrheit der Familien nach konventionellen Mustern in selbständigen Haushaltsgemeinschaften von verheirateten Paaren mit ihren leiblichen Kindern lebt (vgl. Peuckert 2012, 2;

Nave-Herz 2014, 16), haben sich auf der Ebene der familialen Binnenstruktur und des normativen Grundverständnisses von Familie dennoch Veränderungen ergeben. Das tra- ditionelle bürgerliche Ehe- und Familienmodell mit seinen geschlechtsspezifischen Rol- len- und Machtstrukturen hat – unter Berücksichtigung milieuspezifischer sowie regiona- ler Unterschiede – an normativer Verbindlichkeit verloren zugunsten neuer Formen des partnerschaftlichen und intergenerativen Zusammenlebens. Zudem ist die vormals enge Verknüpfung von Partnerschaft, Ehe, Sexualität und Familie im Lebenslauf des Einzelnen insgesamt brüchiger geworden. Der ideelle Kern des modernen Familienleitbildes – die Familie als intime Gefühlsgemeinschaft und als emotionaler Zufluchtsort – stellt aber wei- terhin ein zentrales familienkulturelles Orientierungsmuster dar. So sind es gerade die Er- fahrungen in einer durch Kontingenz und Konkurrenz bestimmten Leistungsgesellschaft, die die Familie als abgrenzbaren privaten Wirklichkeitsbereich und als Raum signifikanter Beziehungserfahrungen in ihrer identitätsstiftenden Bedeutung noch verstärken. Als zu- nehmend subjektiv gestaltbarer Entwurf privater Lebensführung bleibt die Familie mit den kulturellen Idealvorstellungen von einem intakten und autonomen Beziehungssystem jen- seits staatlicher Einflussnahme besetzt, auch wenn die Familienrealität damit längst nicht immer korreliert (vgl. Bauer u.a. 2015, 25f.; Lenz/Böhnisch 1999, 34ff.; Hettlage 1998, 63).

Um die Familie im Folgenden als Transformationsmodell vorzustellen, werden zunächst zentrale familiendemographische Veränderungen sowie familienformbezogene Pluralisie- rungstendenzen seit Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieben. Im Anschluss daran erfolgt eine kurze Charakterisierung des familialen Wandels in Anlehnung an die Deinstitutiona- lisierungsthese, die sich mit dem Ausmaß an Aufweichung und Entkopplung kultureller Normalitätsstandards im Verweisungszusammenhang von Ehe und Elternschaft befasst.

Dabei wird auf veränderte Regeln, Leitbilder und soziale Kontrollmechanismen Bezug genommen, die sich durch die Legitimationseinbußen des bürgerlichen Familienmodells ergeben. Schließlich geht es um einen Überblick über gängige theoretische Erklärungsan- sätze im Kontext der Familiensoziologie, die sich auf die Modernisierungsprozesse im Familienbereich beziehen.

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Soziodemographische Indikatoren für den Wandel der Familie 21 1.1 Soziodemographische Indikatoren für den Wandel der Familie

Wie auch in anderen hochentwickelten Industriegesellschaften ereignen sich in Deutsch- land seit Mitte der 1960er Jahre umfangreiche demographische Wandlungsprozesse, die unmittelbar mit Veränderungen auf der Ebene familialer Lebensformen im Zusammen- hang stehen. Wenn auch mit einigen Unterschieden lassen sich sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland in diesem Zusammenhang einzelne besonders gravierende Entwick- lungstendenzen zusammenfassen, die Kaufmann bereits 1988 als die vermeintlich „wich- tigsten ‚Krisensymptome‘“2 der Familie herausstellt: „Offensichtlich sind familiale Le- benszusammenhänge im Sinne des herkömmlichen, durch Ehe und Kinder bestimmten Familienbegriffs heute weniger ‚produktiv‘ (Geburtenrückgang), weniger stabil (Zu- nahme der Scheidungshäufigkeit) und weniger attraktiv (Rückgang der Heiratsquote) ge- worden“ (Kaufmann 1988, 393f.).

Aus einer historischen Perspektive ist der familiendemographische Wandel im Verlauf der letzten Jahrzehnte, der immer wieder die Krisenrhetorik zur Familie befeuert, allerdings eher die beschleunigte Fortsetzung einzelner längerfristiger Entwicklungen, wie etwa ei- ner kontinuierlich sinkenden Fertilitätsrate, die bereits im späten 19. Jahrhundert ihren Ausgangspunkt hatte (vgl. Burkart 2008, 25f.). So kam es bei den zwischen 1865 und 1885 geborenen Frauen zu einem bemerkenswerten Rückgang der Geburten von durchschnitt- lich 4,6 auf 3,0 Kinder, was gemeinhin als „erster demographischer Übergang“ bezeichnet wird (vgl. Bonin 2013, 15). Auslöser waren hierbei eine abnehmende Kindersterblichkeit durch allgemein verbesserte Hygienebedingungen und medizinischen Fortschritt sowie eine Anpassung der ‚idealen Kinderzahl‘ an veränderte sozioökonomische Rahmenbedin- gungen im Kontext der Industrialisierung. Zu Beginn der 1920er Jahre fiel die Geburten- ziffer schließlich auf knapp unter 2 Kinder pro Frau und somit deutlich unter das damalige Bestandserhaltungsniveau (vgl. BIB 2016a). Eine vorübergehende Ausnahme bilden da- bei die Frauen der Geburtsjahrgänge 1936 bis 1940, die wieder eine durchschnittliche Kin- derzahl von 2,2 erreichten. Diese Kohorte, die schließlich den Babyboom in den 1960er Jahren auslöste, war unmittelbar von der besonderen Situation in der Nachkriegszeit be- troffen, in der die Aufbruch- und Aufbaustimmung sowie der sich ausbreitende relative Wohlstand zu einer Hochphase der Familie führte und sich das arbeitsteilige bürgerliche Ehe- und Familienmodell als dominante Lebensform durchsetzen konnte. „Nie zuvor wa- ren so viele Menschen verheiratet gewesen, nie zuvor hatte es so viele Geburten gegeben“

(Burkart 2008, 25).

Der „zweite demographischen Übergang“, der dann Ende der 1960er Jahre einsetzte und erneut in einem rasanten Geburtenrückgang zum Ausdruck kam, wird in der Demographie mit dem Verweis auf „soziokulturelle Umwälzungen im Verhältnis von Individuum, Paa- ridentität und Kind“ (Kreyenfeld/Konietzka 2008, 122) begründet. Neben der Entwick- lung der Anti-Baby-Pille führten demzufolge veränderte Wertvorstellungen und Lebens- ziele in der jüngeren Geburtskohorte, und hier vor allem unter den Frauen, zu einem tief- greifenden Wandel im Familiengründungsverhalten (vgl. Huninink/Konietzka 2007, 113).

Tatsächlich hat sich die Zahl der Neugeborenen im früheren Bundesgebiet zwischen 1964

2 Alle Hervorhebungen in Zitaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, entstammen jeweils dem zitierten Ori- ginal.

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22 Die Familie im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse

und 1985 von 1,1 Millionen auf 586.000 nahezu halbiert (vgl. Peuckert 2012, 18). Aller- dings lässt sich aus den Veränderungen der absoluten Zahlen nicht direkt auf Veränderun- gen im generativen Verhalten, also auf die Geburtenneigung, schließen.

Aussagekräftiger ist in diesem Zusammenhang die periodenspezifisch zusammengefasste Geburtenziffer, bei der die Geburtenneigung über die Kumulation altersspezifischer Ge- burtenraten von Frauen im gebärfähigen Alter in einem Kalenderjahr errechnet wird. Hie- raus ergibt sich ein jährlich aktualisierbarer Schätzwert der durchschnittlichen Zahl an Kindern, die eine Frau, deren reproduktive Phase gerade beginnt, im Laufe ihres Lebens (voraussichtlich) bekommen wird. Anhand der periodenspezifischen Messwerte lässt sich in Westdeutschland bis in die Mitte der 1970er Jahre ein rasantes Absinken der Geburten- neigung auf 1,3 bis 1,4 Kinder pro Frau bestätigen. Aktuelle zusammengefasste Gebur- tenziffern weisen darauf hin, dass sich an diesem niedrigen Niveau bis heute nicht viel verändert hat (vgl. BIB 2016a). So wird auch das zwischenzeitlich erneute Ansteigen der zusammengefassten Geburtenziffer zwischen 1985 und 1992 auf einen ‚Echoeffekt‘ zu- rückgeführt, der auf dem Übergang der geburtenstarken Jahrgänge aus den 1960er Jahren in das Familiengründungsalter beruht (vgl. Peuckert 2012, 18).

Im Gebiet der ehemaligen DDR kam es ebenfalls zu einem deutlichen Rückgang der ab- soluten Geburtenzahlen – von 293.000 im Jahr 1960 auf 199.000 im Jahr 1989 (vgl. ebd., 18). Gezielte bevölkerungspolitische Maßnahmen der SED-Regierung (Babyjahr, Pflege- urlaub etc.) konnten in den 1970er Jahren noch einen kurzfristigen Aufwärtstrend in der Geburtenrate bewirken, bis in die 1980er Jahre sank diese jedoch auch hier unter das Re- produktionsniveau (vgl. Schroeder 1998, 527ff.). Zum Zeitpunkt der Wende lag die zu- sammengefasste Geburtenziffer in Ostdeutschland nur gering über dem westdeutschen Ni- veau, fiel dann aber rapide auf einen historischen Tiefstand von 0,77 Kindern pro Frau im Jahr 1994. In der demographischen Forschung wird dieser dramatische Geburtenrückgang im Osten v.a. mit ökonomischen und kulturellen Entwicklungen erklärt. Einerseits standen die Bürger in den neuen Bundesländern einem wirtschaftlichen Transformationsprozess gegenüber, bei dem es im Zuge einer Restrukturierung des Arbeitsmarktes zu einem deut- lichen Anstieg der Arbeitslosigkeit kam. Das dadurch weit verbreitete Gefühl der ökono- mischen Unsicherheit wird vor diesem Hintergrund als Ursache für einen vorläufigen oder dauerhaften Verzicht auf Kinder bewertet. Andererseits fiel mit der Mauer auch der rest- ringierende Einfluss des sozialistischen Staates auf die biographischen Lebensentwürfe der Bürger, die nun im Zeitraffertempo eine Pluralisierung der privaten Lebensformen jenseits des ideologischen Familienleitbildes realisierten. Nach dieser These setzte in Ost- deutschland wie auch in anderen mittel- und osteuropäischen Transformationsländern ein Wertewandel in der jungen Generation ein, der in der BRD und anderen westeuropäischen Staaten bereits zwei Jahrzehnte zuvor zum Übergang „von der Kind- zur Selbstorientie- rung“ geführt hat (vgl. Kreyenfeld/Konietzka 2008, 123f.). Nach dem vorübergehenden Tief Mitte der 1990er Jahre konnte sich die zusammengefasste Geburtenziffer im Osten anschließend wieder sukzessive erholen, so dass sie sich mittlerweile wieder auf einem ähnlichen stabilen Niveau wie in Westdeutschland eingependelt hat. Im Jahr 2013 lag der Wert im Westen bei 1,4 und im Osten leicht höher bei 1,45 (vgl. BIB 2016a).

Problematisch an dem periodenspezifischen Messverfahren ist jedoch, dass die zusam- mengefasste Geburtenziffer lediglich einen synthetischen Schätzwert darstellt und nicht das Verhalten eines realen Geburtenjahrgangs abbilden kann. Die über dieses Verfahren prognostizierte endgültige Kinderzahl einer Frau setzt voraus, dass die ökonomischen und

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Soziodemographische Indikatoren für den Wandel der Familie 23 sozialen Rahmenbedingungen über eine fertile Lebensspanne von 30 Jahren nahezu kon- stant bleiben. Noch anfälliger aber ist die methodische Prämisse, dass sich die Altersstruk- tur von Frauen bei der Geburt ihrer Kinder, die zum Messzeitpunkt erhoben wurde, län- gerfristig nicht verändert, da sich sonst Tempoeffekte ergeben (vgl. Konietzka/Kreyenfeld 2009, 55; Huinink 2016, 241).

Kreyenfeld und Konietzka (2008) können aufzeigen, wie die zusammengefasste Gebur- tenziffer durch Verschiebungen von Geburten im Lebenslauf der Frauen die Situation in Westdeutschland im Verlauf der 1970er Jahre verzerrt und in Ostdeutschland nach 1990 sogar verfälscht. Dazu ziehen sie zum Vergleich kohortenspezifische Geburtenziffern heran, mit der die tatsächliche Zahl der Kinder erfasst wird, die Frauen eines jeweiligen Jahrganges in ihrer fertilen Phase geboren haben. So bekamen die westdeutschen Geburts- jahrgänge der 1950er Jahre im Durchschnitt 1,7 bis 1,8 Kinder. In den 1970er Jahren, als dieser Geburtsjahrgang das Fertilitätsniveau prägte, ergab die periodenspezifische Mes- sung nur einen Wert von 1,4. Hintergrund dieser Abweichung sind zum einen der Anstieg des Alters bei der Familiengründung (in den Kohorten von 1950 bis 1970 stieg das mittlere Alter bei der Erstgeburt von 25,9 auf 29,9 Jahre), zum anderen hat sich in diesem Zeit- fenster das Ausmaß an Kinderlosigkeit bei westdeutschen Frauen deutlich erhöht. Anders als die periodischen Schätzwerte vermitteln, sind die Kinderzahlen in Familien im Verlauf der 1970er Jahre somit nicht ganz so drastisch geschrumpft und haben sich dann auf ein niedriges Niveau eingependelt. Vielmehr deutet sich seit den 1960er Jahren aus der Per- spektive realer Lebenslaufdaten ein langsamer, aber kontinuierlicher Rückgang der end- gültigen Geburtenzahlen von Frauen an, der mit zunehmenden Verzögerungen im Famili- engründungsverhalten, einem Rückgang von Großfamilien mit drei und mehr Kindern und einer steigenden Zahl kinderloser Paare und Singles korreliert. Die Gruppe der Frauen, die genau zwei Kinder zur Welt bringen, entspricht letztlich unverändert dem typischen west- deutschen Familiengründungsmuster (vgl. Pötzsch 2016, 115).

Waren ostdeutsche Frauen noch bis in die 1980er Jahre in der Regel Anfang zwanzig bei der Geburt ihres ersten Kindes und blieben nur selten kinderlos, kam es zu Beginn der 1990er Jahre in kurzer Zeit zu massiven Verschiebungen im Familiengründungsverhalten.

Der dramatische Abstieg der jährlichen Geburtenziffer, der auch als Fertilitätskrise gewer- tet wurde, lässt sich somit durch methodisch bedingte Verzerrungseffekte erklären. Soweit es die kohortenspezifischen Geburtenraten hergeben – ein Großteil der Frauen aus den 1970er Jahrgängen hat das Ende der fertilen Phase noch nicht erreicht – ist die tatsächliche Kinderzahl pro Frau seit der Wende im Osten nämlich kontinuierlich höher geblieben als im Westen. Darüber hinaus sind ostdeutsche Frauen bei der Familiengründung noch im- mer jünger, und das Ausmaß an Kinderlosigkeit liegt weiterhin unter dem westdeutschen Niveau. Die These, dass sich die ostdeutsche Familienentwicklung im Zuge kultureller und sozialökonomischer Transformationsprozesse dem ‚westdeutschen Muster‘ angepasst hat, muss aus Sicht von Kreyenfeld und Konietzka (2008) somit relativiert werden. Eine auffällige, aber empirisch noch nicht ausreichend belegbare Differenz zwischen Ost und West besteht mithin in der Zweitgeburtenrate, die im Osten insgesamt niedriger ausfällt (Kreyenfeld/Konietzka 2008, 131; Huinink 2005).

In beiden Teilen Deutschlands geht der Rückgang der Geburten mit einer sinkenden Hei- ratsneigung einher. War die erwachsene Bevölkerung im sogenannten Golden Age of Marriage sowohl im Westen als auch im Osten fast vollständig verheiratet, veränderte sich

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24 Die Familie im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse

diese Situation seit den 1960er Jahren. Laut Tyrell ist diese Entwicklung durch eine zu- nehmende Deinstitutionalisierung des bürgerlichen Familienmodells gekennzeichnet, wo- nach die frühzeitige, dauerhafte und monogame Ehe als sozial kontrollierte Norm zu einer individuell gestaltbaren Option des familialen Zusammenlebens wurde (vgl. Tyrell 1988, ĺ,.3). Im früheren Bundesgebiet nahm die rohe Eheschließungsziffer (jährliche Zahl der Eheschließungen pro 1000 Einwohner; inkl. Wiederverheiratung) insbesondere im Zeitraum zwischen 1962 und 1978 von 9,3 auf 5,4 um 42 Prozent ab. Kam es im Ver- lauf der 1980er Jahre auf Grund des Aufrückens der starken Geburtsjahrgänge aus den frühen 1960er Jahren wieder zu einem leichten Anstieg der Heiratszahlen, entwickelte sich der Trend seit 1991 erneut rückläufig. Seit 2009 liegt die rohe Eheschließungsziffer in den alten Bundesländern stabil bei 4,7 (vgl. BIB 2016c). In der DDR nahm die Heiratsneigung langsamer ab. Auf Grund familienpolitischer Maßnahmen stabilisierten sich die Hei- ratsziffern in den 1970er Jahren auf relativ hohem Niveau (vgl. Engelhardt/Skopek 2016, 281). So lag die rohe Eheschließungsziffer im Jahr 1977 bei 8,8. Besonders dramatisch war hier der Rückgang der Eheschließungen nach 1989. In den ersten drei Jahren nach der Wende ging die Zahl um fast zwei Drittel zurück und hat sich seitdem nicht nennenswert verändert (vgl. BIB 2016d).

Unter Berücksichtigung von Kohortenanalysen muss der jährliche Rückgang der Heirats- quote jedoch mit einem im Durchschnitt kontinuierlich steigenden Heiratsalter ins Ver- hältnis gesetzt werden. Neben vielfältigen Gründen spielen dabei verlängerte Ausbil- dungszeiten und eine tendenziell spätere ökonomische Selbständigkeit eine Rolle (vgl.

Nave-Herz 2012, 37). Heirateten Männer in den 1960er Jahren überwiegend im 25. Le- bensjahr, liegt das durchschnittliche männliche Heiratsalter heute bei über 31 Jahren; bei Frauen ist das Heiratsalter im gleichen Zeitraum von unter 23 auf ca. 30 Jahre angestiegen (vgl. BIB 2016e; Engelhardt/Skopek 2016, 283). Vor diesem Hintergrund müssen bei der Interpretation der jährlich ermittelten Heiratsziffern Tempoeffekte berücksichtigt werden.

„Manches, was unter dem Eindruck von drastischen Veränderungen der jährlichen Raten als Abkehr von Heirat und Familiengründung interpretiert worden war, entpuppte sich im Lichte genauerer Analysen […] nun ‚lediglich‘ als biographischer Aufschub“ (Burkart 2008, 26).

Dass die dauerhafte Ehe als Strukturprinzip der modernen Familie allerdings an Selbst- verständlichkeit verloren hat, lässt sich nicht zuletzt an der Entwicklung der Scheidungs- rate erkennen. Engelhardt und Skopek können für die Heiratskohorten von 1964 bis 2006 aufzeigen, dass die Ehestabilität über die Ehejahrgänge hinweg deutlich abgenommen hat.

Auffällig dabei ist, dass der Anteil von Ehen, die bereits nach kurzer Zeit (5 Jahre) ge- schieden werden, über die letzten 50 Jahre relativ konstant unter 10 Prozent liegt, während sich das Scheidungsrisiko bei Ehen, die bereits 10 Jahre oder länger angedauert haben, nahezu verdoppelt hat. Ließ sich jedes siebte Ehepaare aus der Heiratskohorte von 1964 im Verlauf einer Ehedauer von 15 Jahren scheiden, wird mittlerweile bereits jede dritte bis vierte Ehe in diesem Zeitrahmen geschieden (vgl. Engelhardt/Skopek 2016, 287). Aus- gehend von den Scheidungsziffern, hat sich der Anteil geschiedener Ehen in der Bundes- republik im Zeitraum von 1960 bis 2014 insgesamt mehr als verdreifacht. In der DDR verlief der Anstieg der Scheidungsrate annähernd analog, jedoch auf deutlich höherem Niveau. Auch hier lassen sich Wendeeffekte ausmachen. So sank die Zahl der Eheschei- dungen im Zuge der Umstellung auf das bundesdeutsche Scheidungsrecht innerhalb von drei Jahren um insgesamt 80 Prozent. Zwischen 1993 und 2004 ist die Scheidungsrate in

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Soziodemographische Indikatoren für den Wandel der Familie 25 den neuen Bundesländern aber wieder deutlich gestiegen, bleibt bis heute jedoch kontinu- ierlich unter dem Wert der alten Bundesländer3 (vgl. BIB 2016f).

Um den säkularen Trend steigender Scheidungszahlen zu erklären, werden in der Schei- dungsforschung unterschiedliche Faktoren benannt, die sich wechselseitig verstärken und somit v.a. im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu einer „Scheidungsspirale“ führten. Nach Diekmann und Engelhardt geht es dabei zentral um „eine abnehmende Stigmatisierung Geschiedener, die eigene Berufstätigkeit vieler Frauen, die damit ökonomisch nicht mehr oder nicht ausschließlich auf die Versorgung in der Ehe angewiesen sind, die verbesserten Möglichkeiten einer Wiederverheiratung oder der Gründung einer neuen Lebensgemein- schaft, der gestiegene Anteil kinderloser Ehen und auch die soziale ‚Vererbung des Schei- dungsrisikos‘“ (Diekmann/Engelhardt 2002, 2). So können Diekmann und Engelhardt an- hand von Daten aus dem DJI-Familiensurvey konkret nachweisen, dass das Risiko bei Kindern aus Scheidungsfamilien, später selbst einmal geschieden zu werden, um den Fak- tor drei höher ist als im Vergleich zu Personen, die mit beiden Elternteilen aufgewachsen sind. Daneben kommen sie auch zu dem Befund, dass das Scheidungsrisiko in einer Ehe deutlich geringer ist, wenn minderjährige Kinder im Haushalt leben. „Auch wenn ein Kind geboren wurde und die Eltern nach der Geburt heiraten (‚voreheliches Kind‘), sinkt das Scheidungsrisiko auf rund die Hälfte gegenüber kinderlosen Ehen“ (ebd., 8; vgl. Nave- Herz 2012, 40).

Ein markantes Merkmal im familialen Wandel sind die Entkopplungstendenzen zwischen Ehe und Familiengründung, die vor allem im Gebiet der ehemaligen DDR hervorstechen (vgl. Schneider 2008, 19). Hat sich der Anteil von außerehelich geborenen Kindern zwi- schen 1970 und 2013 insgesamt vervielfacht, stieg die Nichtehelichenquote in West- deutschland von 7 auf 29 Prozent, in Ostdeutschland sogar von 13 auf 59 Prozent (vgl.

BIB 2016g). Bezieht sich die Berechnung der Nichtehelichenquote nur auf die erstgebo- renen Kinder in Familien, nimmt der Zusammenhang einer unverheirateten Elternschaft ein noch höheres Ausmaß an. So lag der Anteil an nichtehelichen Erstgeburten im Jahr 2011 bei fast 40 Prozent in Westdeutschland und etwa 75 Prozent in Ostdeutschland (vgl.

Kreyenfeld/Krapf 2013, 37). Drei von vier Familiengründungen finden in Ostdeutschland somit außerhalb der Ehe statt. Inwiefern das Modell einer nichtehelichen Elternschaft zur dauerhaften Lebensform wird, oder ob es sich hierbei lediglich um einen „Timing-Effekt“

handelt, bei dem die Eheschließung immer häufiger im Lebenslauf nach der Geburt er- folgt, kann anhand der Nichtehelichenquote nicht geklärt werden. Immerhin lässt sich er- mitteln, dass sich die Nichtehelichenquote beim zweiten Kind auf etwa 50 in Ost- und 20 Prozent in Westdeutschland reduziert. „Dieser Rückgang deutet zum einen darauf hin, dass ein relevanter Anteil von Personen zwischen der Geburt des ersten und zweiten Kin- des heiratet, zum anderen ist der Unterschied darauf zurückzuführen, dass verheiratete Frauen häufiger zweite und weitere Kinder bekommen als jene, die unverheiratet sind“

(ebd., 37).

Grundsätzlich lässt sich mit Blick auf die regional verschiedenen Nichtehelichenquoten davon ausgehen, dass vor allem im Westen das familiale Verhalten junger Paare noch weitestgehend dem Muster der „kindorientierten Eheschließung“ folgt (Nave-Herz 2002, 49). Dieser Zusammenhang hat sich in den neuen Bundesländern etwas gelockert. In der

3 Im Jahr 2014 lag die Ehescheidungsziffer für Deutschland (alte und neue Bundesländer zusammengenommen) bei 94 geschiedenen je 10.000 bestehenden Ehen (vgl. BIB 2016f).

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26 Die Familie im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse

demographischen Forschung haben sich geringere konfessionelle Bindungen sowie eine erhöhte Erwerbsneigung von Frauen als zentrale Faktoren für eine niedrigere Heiratsnei- gung in Ostdeutschland erwiesen (vgl. Kreyenfeld/Krapf 2013, 38). Dabei steht das Leit- bild einer ökonomisch unabhängigen Frau in der Tradition familien- und frauenpolitischer Vorgaben in der ehemaligen DDR, in der die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Er- werbstätigkeit für alle Frauen auch auf Grund eines umfangreichen Ausbaus von institu- tionalisierter Kinderbetreuung nahezu obligatorisch war (vgl. Schneider 2008, 19). In bei- den Teilen Deutschlands, wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, entwickelt sich der Verweisungszusammenhang von Ehe und Elternschaft zunehmend vom „Quasi- Automatismus“ zur biographischen Entscheidung (vgl. Lenz 1999, 194).

1.2 Zur Pluralisierung familialer Lebensformen

In der Familiensoziologie hat sich seit den 1980er Jahren die These von der Pluralisierung der Lebensformen fest etabliert, um die zunehmende Variabilität privater Lebensführung als Folge des sozialen Wandels hervorzuheben. Aufgegriffen wurde die Pluralisierungs- these sowohl in individualisierungstheoretischen (vgl. Beck-Gernsheim 1994) als auch in differenzierungstheoretischen (vgl. Nave-+HU] hEHUOHJXQJHQ ĺ , *HJHQ stand der soziologischen Untersuchungen ist dabei das Ausmaß, nach dem es zu einem Zurückdrängen der klassischen Kernfamilie zugunsten anderer sozialer Lebensformen ge- kommen ist. Wenn es somit analytisch um die Gestalt und Verbreitung unterschiedlicher Muster geht, nach denen Personen unter den Bedingungen gesellschaftlicher Modernisie- rungsprozesse ihre signifikanten sozialen Beziehungen im Rahmen ihrer privaten, alltäg- lichen Lebensführung institutionalisieren (vgl. Schneider 2009, 133), lässt sich zunächst eine Unterscheidung in familiale und nicht-familiale Formen des privaten Zusammenle- bens vornehmen. So haben im Verlauf der letzten Jahrzehnte insbesondere auch die pri- vaten Lebensformen quantitativ zugenommen, bei denen keine Elternschaftsbeziehung besteht, wie kinderlose Ehepaare, nichteheliche Lebensgemeinschaften ohne Kinder oder Singles (vgl. Wagner 2008, 118; Nave-Herz 2012, 39).

Der Blick auf die Pluralisierung familialer Lebensformen richtet sich dagegen explizit auf die Diversifizierungsprozesse von Eltern-Kind-Konstellationen. Individualisierungstheo- retisch wird diese Entwicklung mit den gesteigerten Gestaltungsmöglichkeiten in den Be- reichen Partnerschaft, Elternschaft und Ehe begründet. Dabei wird die Pluralität familialen Lebens häufig als Ausdruck voluntaristisch verfügbarer Alternativen zum Modell der bür- gerlichen Kleinfamilie betrachtet. Nach der Logik individualistischer Lebensentwürfe wird die Familie zur „Wahlgemeinschaft“, die entsprechend den subjektiven Bedürfnissen der Beteiligten unterschiedliche Formen menschlichen Zusammenlebens darstellen kann.

„Denn wo gewählt wird, immer mehr persönliche Präferenzen zum Maßstab werden, zieht jede Person ihre eigenen Grenzen“ (Beck-Gernsheim 1994, 133). Ausgangspunkt für die gestiegene Vielfalt an Familienbildungsprozessen sowie Rollenzusammensetzungen ist somit die Annahme einer Auflösung traditioneller Normverbindlichkeiten und einer zu- nehmenden Autonomie der Individuen in der Wahl ihrer Lebensführungsweisen. Der As- pekt der Wahlfreiheit ist im Fachdiskurs jedoch nicht unumstritten (vgl. Wagner 2008;

Hartmann 2009; Rupp/Blossfeld 2008). So ist das Wählen und Gestalten von partner- schaftlichen und familialen Lebensformen im hohen Maße abhängig von individuellen biographischen Ereignissen, etwa im Bildungs- und Berufsverlauf, von lebensweltlichen

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Zur Pluralisierung familialer Lebensformen 27 Orientierungs- und Unterstützungssystemen, aber auch von milieuspezifischen Lebens- laufregimen. Hinzu kommt, dass nicht jede Veränderung von Lebensformen einer Person die Folge ihrer rationalen Entscheidungen ist, was etwa im Fall des Verlassenwerdens oder des Todes eines Partners zum Ausdruck kommt. „Mit anderen Worten, die familialen Ent- scheidungen [bzw. Übergänge; A.L.] finden unter bestimmten Restriktionen und nur par- tiell in wirklich freier Wahl statt“ (Rupp/Blossfeld 2008, 140).

Kontroversen in der Pluralisierungsdebatte ergeben sich zudem aus den unterschiedlichen theoretischen und normativen Zugängen zum ‚Familienbegriff‘, von denen aus argumen- tiert wird. Für gewöhnlich wird Parsons (1997) Konzept der modernen Kleinfamilie als Vergleichsmaßstab für den sozialen Wandel der privaten Lebensformen herangezogen.

Dieses Modell, „welches die lebenslange, monogame Ehe zwischen einem Mann und ei- ner Frau fordert, die mit ihren gemeinsamen Kindern in einem Haushalt leben und in der der Mann Haupternährer und Autoritätsperson und die Frau primär für den Haushalt und die Erziehung der Kinder zuständig ist“ (Peuckert 2012, 20), konnte in einer zeitlich be- grenzten Phase – den 1950er und 1960er Jahren – eine hohe Repräsentativität erreichen, indem es mit seiner spezifisch funktionalen Binnendifferenzierung den Anforderungen der Industriegesellschaft theoretisch am ehesten entsprach (vgl. Bertram 2009, 17ff.). Vielfäl- tige Veränderungsprozesse in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen ha- ben seitdem dazu geführt, dass ein Großteil der Familien heutzutage in der Realisierung ihrer sozialen Beziehungen und Interaktionen von diesem Normalitätsstandard abweicht und somit „neuen“ bzw. „nicht-traditionellen“ Lebensformen zugeordnet werden muss.

Es ist jedoch fraglich, ob ein solches Vergleichsmodell in der Lage ist, die historischen Veränderungsprozesse familialer Lebensformen und somit das spezifisch Neue an der ak- tuellen Entwicklung angemessen zu erfassen, „denn greift man nämlich auf eine solche enge Definition von Familie zur Beantwortung der Frage nach der Pluralität von Familien zurück, läuft man Gefahr, durch den gewählten Begriff genau das auszublenden, was man eigentlich untersuchen will, weil man durch seine Begrifflichkeit bestimmte Veränderun- gen, evtl. sogar neu entstandene Familienformen, von vornherein ausklammert“ (Nave- Herz 2015, 14). So lässt sich aus einer längerfristigen historischen Betrachtung des fami- lialen Wandels erkennen, dass es bereits in der vorindustriellen Zeit eine pluralistische Bandbreite von Familienformen, wie etwa Ein-Eltern-Familien, Stieffamilien oder Adop- tions- und Pflegefamilien gab. Allerdings spielten hierbei im Vergleich zu heute noch an- dere, weniger voluntaristische Faktoren bei der Entstehung eine Rolle, wie etwa standes- abhängige Heiratsbeschränkungen oder frühe Verwitwung durch allgemein geringere Le- benserwartungen und eine höhere Müttersterblichkeit (Kreyenfeld u.a. 2016, 315;

Peuckert 2012, 19). Insgesamt kann die Familienforschung auf der Basis detaillierter Re- konstruktionen unterschiedlicher Familienleitbilder und -formen von der Antike bis in die Moderne eine hohe soziale und kulturelle Variabilität des Familialen aufzeigen (vgl.

Nave-Herz 2014; Ecarius u.a. 2011; Burkart 2008; Lenz/Böhnisch 19994; Kaufmann 1995).

4 Nach Lenz und Böhnisch (1999) muss es der Familiensoziologie daher auch immer um die Aufdeckung ahis- torischer Vorstellungsmythen über die Familie gehen, die noch bis heute im wissenschaftlichen Diskurs über Familie zu finden seien (vgl. hierzu auch Hettlage 1998: 37ff.): Einerseits beziehen sie sich dabei auf einen

„Harmoniemythos“, womit die Vorstellung gemeint ist, „daß das Familienleben in der Vergangenheit durch Harmonie und Eintracht“ geprägt war und die Konflikte und Probleme in Familien erst Ausdruck aktueller Zerfallserscheinungen sind. Dem „Größenmythos“ entspricht es, von der vorindustriellen Familie als stabilen

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28 Die Familie im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse

Nave-Herz schlägt daher einen begrifflich-konzeptionellen Zugang vor, der die historische Vielfalt von Familien abbildet, ohne eine bestimmte Familienform normativ zu favorisie- ren. Dabei geht sie von drei konstitutiven Merkmalen aus, die aus einem sozialen Interak- tionszusammenhang eine Familie machen (vgl. Nave-Herz 2015, 15f.): 1) Familien sind durch eine biologisch-soziale Doppelnatur gekennzeichnet, da sie sowohl eine Reproduk- tions- als auch Sozialisationsfunktion übernehmen neben anderen Funktionen, die kultu- rell variabel sind (wie emotionale Stabilisierung, Haushaltsfunktion als Produktions- und/oder Konsumtionseinheit etc.). 2) Es liegt ein besonderes Kooperations- und Solida- ritätsverhältnis vor, das unterschiedlich legitimiert sein kann (z.B. durch Tradition, durch Verträge oder durch gegenseitige emotionale Zuneigung). Dabei ergeben sich spezifische Rollendefinitionen, die nur innerhalb dieses Sozialsystems gelten (Mutter, Vater, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester). Die kulturelle Variabilität ergibt sich hierbei insbesondere aus den Definitionen der Rollenerwartungen. 3) Voraussetzung für einen familialen Le- benszusammenhang ist zudem eine Generationendifferenz, keineswegs zwingend jedoch auch eine Geschlechtsdifferenz. Familien konstituieren sich somit über das Eltern- bzw.

Mutter- oder Vater-Kind-Verhältnis, während ein Ehesubsystem keine erforderliche Grundlage darstellt, „weil es in allen Zeiten und in allen Kulturen auch Familien gab (und gibt), die nie auf einem Ehesubsystem beruht haben oder deren Ehesubsystem im Laufe der Familienbiographie durch Rollenausfall infolge von Tod, Trennung oder Scheidung, entfallen ist“ (ebd., 15f.). Die Relativierung der Ehebedingung ist wichtig, da somit auch Alleinerziehende oder nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern konzeptionell als familiale Lebensformen mitberücksichtigt werden können (vgl. hierzu auch Schneider 2009, 135; Ecarius u.a. 2011, 14).

In der Familiensoziologie haben sich zahlreiche Klassifikationsschemen herausgebildet, die auf einem abstrakteren Niveau sowohl historische, traditionelle als auch neue, „alter- native“ Formen des familialen Zusammenlebens systematisch vergleichbar machen sol- len. Dabei können die Merkmalsdimensionen, aus denen sich die theoretischen Muster ableiten, stark variieren. „Die Analyse der Pluralisierung der Lebens- und Familienformen leidet darunter, dass die Auswahl der Merkmale, die zur Analyse der Pluralität bzw. Plu- ralisierung von Lebensformen herangezogen werden, mitunter willkürlich anmutet und theoretisch gehaltvolle Konzepte der Differenzierung von Lebens- und Familienformen Mangelware sind“ (Kreyenfeld u.a. 2016, 320). Auch besteht noch wenig Einigkeit dar- über, welche Ansätze am geeignetsten sind, etwa um Übergänge zwischen Lebensformen im Zusammenhang mit sozialen Sinnstrukturen und Handlungsmustern zu untersuchen.

So fehlt es dazu bislang auch an handlungstheoretischen und lebenslaufbezogenen Unter- suchungen (vgl. hierzu Wagner 2008).

und solidarischen Drei- oder Mehrgenerationenzusammenhang auszugehen, aus dem sich dann die fragile Kleinfamilie der Moderne entwickelt hat. Schließlich handelt es sich bei dem „Konstanzmythos“ um „die Vorstellung, daß Familie als Gefühlsgemeinschaft eine Naturkonstante sei, die immer und überall in der Aus- prägung vorhanden ist“ (Lenz/Böhnisch 1999: 11). Diese naturalistische Sichtweise auf Familie, die sich stark am bürgerlichen Familienideal orientiert und es quasi zur Urform von Ehe und Familie erhebt, bestimmt nicht nur das öffentliche Denken über Familie. So kann Fuhs aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive auf- zeigen, dass Familiengeschichtsbilder auch in der Familienforschung schon immer durch normative und emo- tionale Überhöhungen als Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel besetzt waren (vgl. Fuhs 2007: 20).

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Zur Pluralisierung familialer Lebensformen 29 Nave-Herz geht bei ihrer Familientypologie von unterschiedlichen Dimensionen aus, die in spezifischer Kombination auftreten und dabei theoretisch mögliche Familienformen ab- bilden können. Neben Familienbildungsprozessen (biologische Elternschaft; Adoption;

Insemination; Scheidung/Trennung; Verwitwung; Wiederheirat; Pflegschaft) und Rollen- zusammensetzungen (Eltern-/Mutter-/Vater-Familien, getrennt-/gleichgeschlechtliche Partner mit Kindern) unterscheidet sie auch nach Zahl der Generationen (Zweigeneratio- nenfamilien, Mehrgenerationenfamilien) sowie nach Wohnsitz, wobei zwischen Familien mit einem gemeinsamen Haushalt und sogenannten bilokalen Familien unterschieden wer- den kann. Wird das Familienleben durch das Vorhandensein mehrerer Haushaltsstrukturen geprägt, können zunehmende berufliche Mobilitätsanforderungen in der Gesellschaft eine Rolle spielen, wonach einer der Lebenspartner etwa im Wochen- oder Wochenendrhyth- mus pendeln muss (Commuter-Familien). Zudem kann es sich auch um die freie Entschei- dung eines Elternpaares handeln, zur Aufrechterhaltung einer möglichst selbständigen Le- bensweise zwei getrennte Haushalte zu führen (Living-Apart-Together). Darüber hinaus lässt sich der Wohnsitz einer Familie auch nach der Nähe zu den Herkunftsfamilien der Lebenspartner bestimmen (neolokale oder patri-/matrilokale Familie). Weitere Dimensio- nen beziehen sich auf den Institutionalisierungsgrad der Paarbeziehung (verheiratet, nichteheliche Lebensgemeinschaften) und der Erwerbstätigkeit der Eltern (Dual-Career- Family, erwerbstätiger Vater und Hausfrau, erwerbstätige Mutter und Hausmann, Zwei- Verdiener-Haushalt, evtl. mit Teilzeitregelungen) (vgl. Nave-Herz 2015; 2004).

Nicht zuletzt auf Grund migrationspolitischer Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten erhält auch der Migrationsstatus von Familien eine zunehmende Berücksichtigung in den Lebensformkonzepten. Bei sogenannten „transkulturellen Familien“ (Beck-Gernsheim 2001, 75) kann dieser auf dem Grundmuster einer binationalen Paarkonstellation basieren, bei der einer der Partner die deutsche, der andere eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt. Die Herausforderung besteht in diesen Familien zumeist darin, unterschiedliche traditionelle Norm- und Wertvorstellungen in einer gemeinsamen Lebenswelt zu verein- baren. Da sie dabei nur bedingt auf gesellschaftlich vorstrukturierte Orientierungsmuster oder familienkulturelle Referenzmodelle im sozialen Umfeld zurückgreifen können, sind sie „zugleich Praktiker wie Pioniere im Prozess gesellschaftlicher Individualisierung“

(ebd., 78). Ein anderes Grundmuster stellen Migrantenfamilien dar, bei denen beide Eltern eine ausländische Staatsangehörigkeit vorweisen. Je nach Herkunftskultur können dabei orientierungsleitende Vorstellungen von Ehe und Familie zum Vorschein kommen, die sich von den individualistischen Tendenzen in der deutschen Gesellschaft unterscheiden, etwa in Bezug auf geschlechtsspezifische Rollen- und Erziehungskonzepte (vgl. Peuckert 2012, 22).

Vor dem Hintergrund der vielfältigen Familienkonstellationen ergeben sich zudem unter- schiedliche Formen von Elternschaft. In den überwiegenden Fällen laufen die unterschied- lichen Segmente von Elternschaft (biologisch, sozial und rechtlich) in den Rollenkonzep- ten der Mütter und Väter zusammen. In Stieffamilien oder sogenannten Patchwork-Fami- lien werden die Minderjährigen hingegen mit einer ‚multiplen Elternschaft‘ konfrontiert (vgl. Bohrhardt 2006, 173). Nach einer Trennung oder Scheidung der leiblichen Eltern können durch neue Partnerschaften der leiblichen Mutter oder des leiblichen Vaters neue soziale Eltern hinzukommen, und damit dann auch soziale Geschwister oder soziale Groß- eltern. „An der Entstehung und Verbreitung unterschiedlicher Familienformen und Eltern-

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30 Die Familie im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse

schaftskonstellationen lässt sich der Trend ablesen, dass temporäre Elternschaft sich stär- ker verbreitet und biologische und genetische Elternschaft für familiale Zusammenhänge unerheblicher wird“ (Oelkers 2012a, 138). Peuckert spricht in diesem Zusammenhang auch von „der Erosion der biologisch-sozialen Doppelnatur“ der Familien, die sich darin äußert, dass immer mehr Kinder mit Eltern aufwachsen, mit denen sie „nur noch zur Hälfte oder überhaupt nicht mehr leiblich verwandt sind“ (Peuckert 2012, 21). Stief- und Patch- work-Familien erzeugen somit komplexe Beziehungs- und Verwandtschaftsverhältnisse ĺ,.6), die hohe Anforderungen an innerfamiliale Kommunikationsprozesse stellen und nur bedingt auf traditionellen Rollenvorstellungen aufbauen. Pendeln Kinder nach der Trennung der Eltern regelmäßig zwischen unterschiedlichen Haushalten und Familienkul- turen (binukleare Familien), ergeben sich darüber hinaus vielfältige interdependente Fa- milienkonstellationen (vgl. Kreyenfeld u.a. 2016, 315).

Wie sieht es nun mit statistischen Befunden zur Pluralisierung familialer Lebensformen aus, wie bildet sich die im theoretischen Diskurs aufspannende Vielfalt und Heterogenität von Familie tatsächlich in der Realität ab? Dabei lässt sich zunächst konstatieren, dass die Zwei-Eltern-Familie auf der Basis biologischer Elternschaft und einer ehelichen Paarbe- ziehung weiterhin der dominierende Strukturtypus ist (vgl. Nave-Herz 2014, 15). Gemäß dem Mikrozensus lebten im Jahr 2014 in 68,1 Prozent aller Familien Kinder unter 18 Jah- ren mit einem verheirateten Elternpaar zusammen. Im Vergleich zu 1996 – erst seitdem ist ein Zeitvergleich anhand des Lebensformenkonzepts des Mikrozensus möglich – ist das allerdings ein Rückgang von 11 Prozentpunkten. Blickt man nur auf die Situation in den neuen Bundesländern, fällt dieser negative Trend noch etwas stärker aus. Hier hat sich der Anteil des ehebasierten Familientypus im genannten Zeitraum von 72,1 auf 53,6 Pro- zent verringert. Alleinerziehende, Stieffamilien bzw. sogenannte Patchwork-Familien ha- ben demgegenüber an Bedeutung dazugewonnen. Statistische Querschnittsdaten ergeben, dass sich der Anteil von Familien mit einem Elternteil im Zeitraum von 1996 bis 2014 deutschlandweit von 17 auf 23 Prozent gesteigert hat, in Ostdeutschland sogar von 19,9 auf 29,7 Prozent. Dabei handelt es sich insgesamt bei neun von zehn Fällen um eine al- leinerziehende Mutter. Einen verhältnismäßig deutlichen Anstieg verzeichnen die nicht- ehelichen Lebensgemeinschaften mit Kind. Deren Anteil an allen familialen Lebensfor- men hat sich im selben Zeitraum deutschlandweit von 3,8 auf 8,1 Prozent bzw. in den neuen Bundesländern von 8 auf 16,7 Prozent mehr als verdoppelt (vgl. Stat. Bundesamt 2015, 51). Der Anteil von Stief- bzw. Patchwork-Familien variiert in den aktuellen Statis- tiken je nach verwendetem Lebensformkonzept zwischen 7 bis 13 Prozent (vgl. BMFSFJ 2013, 9). In Bezug auf die Verbreitung transkultureller Familienformen lassen sich Daten aus dem Mikrozensus von 2011 heranziehen. Danach haben 7 Prozent aller Paare, wobei Ehepaare und nichteheliche Lebensgemeinschaften zusammengefasst werden, einen bina- tionalen Hintergrund. Die Konstellation ‚deutsch-türkisch‘ kommt hierbei mit 14 Prozent am häufigsten vor. Bei 6 Prozent der Paare besitzen beide Partner eine ausländische Staats- angehörigkeit (vgl. Krack-Roberg u.a. 2013, 45).

Nimmt man zur Charakterisierung der Lebensformen das Merkmal der Erwerbstätigkeit und zieht zum Vergleich das bürgerliche Familienmodell heran, so lässt sich ebenfalls ein bestimmtes Ausmaß an Pluralisierung messen (vgl. Wagner 2008, 111f.). So ist allein zwi- schen den Jahren 1996 und 2010 der Anteil an Familien, in denen nur der Mann erwerbs- tätig war, um 10 Prozentpunkte zurückgegangen, während die Erwerbsbeteiligung der Frauen, wenn auch häufiger nur in Form von Teilzeitarbeit, kontinuierlich zugenommen

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