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Institut für Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit | Rheinland-Pfalz

Sehr geehrte Damen und Herren,

auch ich möchte Sie herzlich begrüßen. Ich freue mich sehr darüber, dass Sie sich die Zeit nehmen, sich dem wichtigen Thema „Demokratiepädagogik in Kindertagesstät-ten“ zu widmen.

Was bedeutet eigentlich Demokratie?

Der Begriff Demokratie kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Herrschaft des Volkes“. Die Tatsache, dass sich heute auch Diktaturen als „wahre“ Demokratien be-zeichnen, zeigt, dass diese Staatsform genauer charakterisiert werden muss (vgl.

Thurich 2011, www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-politik/16391/demokratie). Ein Merkmal dieser Charakterisierung ist, dass, wie Prof. Dr. Schneider eben schon sagte, unsere Demokratie auf Werten basiert. Diese sind in der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung sowie im Grundgesetz zu finden.

Dazu zählen:

- körperliche Unversehrtheit, - die rechtliche Gleichheit,

- religiöse und weltanschauliche Überzeugungsfreiheit, - politische Partizipation und Bürgerverantwortung, - Gemeinwohl

- und Bildung

(Detjen, http://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/politische-bildung/

193087/werte-und-menschenrechte?p=all) um nur einige zu nennen.

Die Bedeutung dieser Verfassung sowie das Verantwortungsbewusstsein der Men-schen, die diese 1949 verabschiedeten, werden im Wortlaut der Präambel des Grund-gesetzes deutlich. Dort heißt es:

„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen be-seelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Und was hat das jetzt mit Frühpädagogik zu tun?

Eine Demokratie-orientierte Haltung muss erlernt und erlebt werden.

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Da stellt sich die Frage, wo sollten die Kinder dies erfahren und wer ist dafür zustän-dig? Manch einer wird es in den Bereich der weiterführenden Schulen und inm Eltern-haus verorten.

Wenn man sich aber mal die Aufgaben von Kindertagesstätten als familienunterstüt-zende Einrichtung vor Augen führt, wird deutlich, dass zur Bildung und Erziehung auch der Bereich der Wertebildung und somit auch die Demokratiepädagogik zählt.

Mit Blick auf die Zeit, die Kinder täglich und das über mehrere Jahre hinweg in einer Kindertagesstätte verbringen, kann man erahnen, welche Möglichkeiten, aber auch welche Verantwortung hier bei Ihnen, den pädagogischen Fachkräften liegen.

Aber wie wird man dieser Verantwortung gerecht?

Einige Hinweise dazu geben die Schriften und Interviews des Philosophen, Soziolo-gen und Komponisten Theodor Wiesengrund Adorno.

Adorno, Sohn des jüdischen Weinhändlers Oscar Alexander Wiesengrund und der ita-lienischen Sängerin Maria Calvelli-Adorno, wurde am 11. September 1903 in Frankfurt am Main geboren. Er galt als Hauptvertreter der Frankfurter Schule. Mit der Machter-greifung des Nationalsozialismus wurde Adorno aufgrund seiner jüdischen Herkunft die Lehrerlaubnis entzogen, und er emigrierte nach Großbritannien. Und das, obwohl sein Vater schon zurzeit von Adornos Geburt zum protestantischem Glauben konver-tierte.

Nach dem Krieg kam Theodor Adorno zurück nach Deutschland und beschäftigte sich weiter mit der Frage: „Wie muss Erziehung aussehen, damit Ausschwitz nie wieder geschehe?“

Seine Lösung lautet:

„Erziehung zur Mündigkeit.“

„Mündigkeit“, ein Begriff, den man meist in Verbindung mit gesetzlichen Grundsätzen bringt, und der aus dem heutigen Sprachgebrauch fast verschwunden ist.

Aber, was hat „Erziehung zur Mündigkeit“ mit Demokratiepädagogik zu tun?

Nach der Auffassung Adornos ist „Erziehung zur Mündigkeit“ ein selbstverständliches Erziehungsziel vor dem Hintergrund einer demokratischen Verfassung (vgl. Adorno und Becker 1970, S. 140).

Er beruft sich dabei auf die Definition nach Kant, welcher mit dem Wahlspruch der Aufklärung:

„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant 1977b, S. 53)

zur Mündigkeit motiviert.

Adorno erklärt, dass Demokratie auf der Willensbildung eines jeden einzelnen beruht.

Daher müssen seines Erachtens die Fähigkeit und der Mut eines jeden, sich seines Verstandes zu bedienen, zwingend vorausgesetzt werden (vgl. Adorno und Becker

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1970, S. 140).

Er setzt somit „Mündigkeit“ mit „Autonomie“ gleich und definiert sie als „die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (Adorno 1971a, S.327).

Und wer ist zuständig für eine „Erziehung zur Mündigkeit“?

Auch für diese Frage hielt Adorno eine Lösung bereit. Er sieht die wenigen mündigen Menschen, die noch zu finden seien, in der Verantwortung, mit diesem Unterfangen zu beginnen.

Er forderte: „Sie müssen mit aller Kraft daran arbeiten, dass Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch, eine Erziehung zum Widerstand werde“ (Adorno und Becker 1970, S. 153).

Wenn ich jetzt einmal an unseren Alltag in den Kindertagesstätten denke und unsere Verantwortung als pädagogische Fachkräfte reflektiere, kommen mir einige Fragen in den Sinn:

1. Sind wir in unserer Funktion immer mündig-handelnde Personen?

Personen, die sich aufgrund von vielseitigen Informationen reflektiert Urteile bilden und im Bedarfsfall auch den Mut haben, Rückgrat zu zeigen, für we- sentliche Dinge einzustehen und auch Widerstand zu leisten?

Sind wir dahingehend ein Vorbild für die uns anvertrauten Kinder? Wirken wir durch unser Verhalten in die Gesellschaft mit hinein?

2. Bieten die strukturelle und organisatorische Gestaltung des Tagesablaufs und der pädagogischen Arbeit in der Kindertagesstätte einen Rahmen, in dem die Kinder sich selbst als mündig erfahren und zu mündigem Denken und Handeln motiviert werden? – Oder ist es eher so, dass die Kinder sich schon früh in Strukturen eingliedern müssen, in denen mehr Anpassungsleistungen erwartet werden und Kinder sich mehr als Gesellschaftswesen statt als eigenständige Persönlichkeiten erleben?

3. Möchte ich wirklich ein Kind befähigen, Widerstand zu leisten?

Kann ich den Widerspruch eines Kindes ertragen oder ist es mir doch lieber, wenn Kinder sich stillschweigend anpassen?

Bin ich mir meines Verhaltens und meiner Ausstrahlung bewusst, die sowohl auf bauend als auch zerstörerisch in Hinblick auf eine „Erziehung zur Mündig- keit“ wirken können?

Wie gehe ich mit dem Machtgefälle um, welches schon aufgrund von Statur, Alter und Wissensvorsprung des Erwachsenen entsteht?

Bin ich mir dessen bewusst und handele im Alltag reflektiert?

Oder könnte ich dem Kind weitere Entwicklungsmöglichkeiten bieten, wenn ich ihm mehr Mitspracherecht gewähre?

Oder genieße ich es bewusst oder unbewusst sogar, Macht zu haben.

Sie sehen schon, „Erziehung zur Mündigkeit“ und somit „Demokratiepädagogik“ setzt ein tiefgründig reflektiertes Handeln der pädagogischen Fachkraft voraus, für welches im Berufsalltag oft wenig Zeit bleibt.

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Daher möchten wir Ihnen am heutigen Tag eine Vielzahl von Informationen und Impul-sen bieten, die Anlass zum Reflektieren geben und eventuell zur Veränderung anre-gen.

Auf der Basis, dass der Mensch zum demokratischen Handeln mündig im Sinne von autonom sein muss, wollen wir heute darüber nachdenken, welche Möglichkeiten wir in Kindertagesstätten haben, dieses Erziehungsziel zu verfolgen; zumal dies laut Kin-dertagesstätten-Gesetz unser primärer Auftrag ist. Sie erinnern sich, wir sollen Kinder zu eigenverantwortlichen und gesellschaftsfähigen Menschen erziehen.

Eine Möglichkeit dazu bietet das Grundprinzip, Kinder am Alltagsgeschehen zu betei-ligen. Partizipation bedeutet, den Kindern das Recht zur Einmischung in ihre eigenen Angelegenheiten und in die der Gemeinschaft zu gewähren.

Und dies liegt nicht im Ermessen der pädagogischen Fachkraft, sondern ist, wie wir gleich hören werden, gesetzlich vorgeschrieben.

Sie sehen, das Thema Demokratiepädagogik in Kindertagesstätten ist sehr umfang-reich.

Wir hoffen, Ihnen mit dem heutigen Tag einen interessanten Überblick über das The-ma, sowohl in wissenschaftlicher als auch in praktischer Hinsicht, zu geben.

Ich wünsche Ihnen erkenntnisreiche Stunden, einen guten Austausch und viel Spaß!

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