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2 Spätantike Inschriftlichkeit in den italischen Provinzen – ein Panorama

2.1 Quantitäten

2.2.6 Inschriften und Gräber

Die im Kontext von Gräbern errichteten Inschriften bilden in jeder Epoche der römi-schen Antike die mit Abstand größte Gruppe aller erhaltenen tituli. So auch im Fall der Spätantike, in der die Grabinschriften in vielen Regionen des Reichs wenigstens drei Viertel des Gesamtbestands ausmachen. Dass die Zahl der tituli sepulcrales auch im spätantiken Italien so hoch ausfällt, ist nicht zuletzt den besonderen Umständen ihrer Überlieferung geschuldet. Zum einen stammt ein großer Teil von ihnen aus unterirdi-schen Katakomben in Rom, Latium und Tuscia et Umbria, wo sie sich im Unterschied zu anderen Inschriftentypen, etwa solchen des öffentlichen Stadtraums, besonders gut erhalten haben. Zum anderen wurden sie vergleichsweise häufig Gegenstand einer späteren Wiederverwendung, sodass uns viele Grabinschriften dank ihrer nachträg-lichen Nutzung als Spolien bekannt geworden sind, etwa als Baumaterial in Mauer-wänden oder als Bodenplatten in Kirchenanlagen. Diese günstigen Überlieferungs-bedingungen vermögen das Gesamtbild spätantiker Inschriftlichkeit jedoch nicht vollkommen zu verzerren: Zweifellos waren Grabinschriften tatsächlich der am häu-figsten vorkommende Typus, und es ist wohl kaum anzunehmen, dass beispielsweise Bau- oder Ehreninschriften einst in ähnlich großer Zahl vorhanden gewesen wären und wir nur aufgrund eines Überlieferungszufalls nichts von ihnen wüssten. Statt-dessen müssen wir davon ausgehen, dass sich Inschriftlichkeit (nicht nur) in der Spät-antike verstärkt im Rahmen des Totengedenkens und der Bestattung Verstorbener Ausdruck verschaffte, dass Grabinschriften für viele Schichten und Gruppen der spät-antiken Gesellschaft von großer Bedeutung waren, dass ihr Gebrauch kein exklusives Privileg bestimmter sozialer, religiöser oder politischer Zirkel war, dass ihr Erwerb keine enormen finanziellen Anstrengungen erforderte und dass es nicht zuletzt ein ausgeprägtes Bedürfnis in der römischen Kultur gegeben hat, Gräber mit Inschriften auszustatten.

Das Totengedenken in der Antike war keine auf die private Sphäre beschränkte Praxis, schon allein deshalb, weil die Orte der Bestattungen frei zugängliche, gemein-schaftlich genutzte, in einem gewissen Sinne ‚öffentliche‘ Räume waren. Man denke nur an die an den Ausfallstraßen der Gemeinden gelegenen Nekropolen der

Kaiser-2.2 Erscheinungsformen  65

zeit mit ihren zum Teil aufwendig gestalteten Grabmonumenten und Altären.¹⁸² In der Spätantike waren es vor allem die Kirchenbauten, die einen solchen Raum des kollek-tiven Totengedenkens schufen. An den im Boden bestimmter Kirchen (meist solche extra muros) angelegten Gräbern versammelten sich nicht nur die Hinterbliebenen, sondern die gesamte christliche Gemeinde, und man gedachte der Verstorben gemein-sam, gleichsam ‚öffentlich‘.¹⁸³ Gut belegt sind solche Bestattungen etwa in Tridentum (Trento), wo unter der Kathedrale S. Vigilio mehr als 30 frühchristliche Gräber mitsamt den dazugehörigen Inschriftentafeln zum Vorschein kamen (Abb. 3, s. u. S. 78).¹⁸⁴

In Rom, wo sich das spätantike Bestattungswesen dank der glücklichen Befund-lage besonders gut nachvollziehen lässt, wurden in der Kaiserzeit privat angelegte unterirdische Grabbezirke und Hypogäen für die Bestattung Verstorbener genutzt, die im Laufe der Zeit zu weitläufigen Gangsystemen erweitert wurden. Dazu grub man Nischen in die Wandflächen, in die die Toten hineingelegt und die im Anschluss an die Grablegung verschlossen wurden. Dafür kamen entweder Ziegel in Betracht, auf welche die Grabinschriften eingeritzt oder mit roter Farbe aufgemalt wurden, oder Marmorplatten, in welche die tituli zuvor eingemeißelt worden waren.¹⁸⁵ In den ca.

70 Katakomben Roms haben sich mehr als 40.000 solcher Inschriften aus der Zeit zwischen dem späten 3. und 5. Jh. erhalten. Hinzu kommen noch einige Hundert weitere Exemplare aus ähnlichen Anlagen in Latium, der Gegend um Neapel und in der Provinz Tuscia et Umbria, wo es aufgrund des reichen Vorkommens an weichem Tuffgestein leicht möglich war, solche unterirdische Gangsysteme anzulegen.¹⁸⁶ Ins-besondere in den Hypogäen und weniger weitläufigen Katakomben wurden neben den loculi auch exklusivere Bestattungsplätze in Form kleiner Räume, den cubicula, geschaffen. In den oftmals mit farbigen Malereien ausgestatteten Kammern wurden die Toten in der Regel in Sarkophagen beigesetzt. Auf einigen dieser Sarkophage hatte man auf den Deckeln oder den Seiten Inschriften mit den Namen der Käufer bzw. der Bestatteten eingemeißelt, in vielen Fällen eingerahmt durch eine tabula ansata. Wie Jutta Dresken-Weiland am Beispiel frühchristlicher Sarkophage aus Rom gezeigt hat,

182 Zu republikanischen und kaiserzeitlichen Gräbern und Grabmonumenten s. Toynbee 1971; von Hesberg/Zanker 1987 mit zahlreichen Aufsätzen zu verschiedenen Aspekten, s. hier bes. den Beitrag von W. Eck, Römische Grabinschriften. Aussageabsicht und Aussagefähigkeit im funerären Kontext, 61–83; von Hesberg 1992; mit Fokus auf die Inschriften s. Feraudi-Gruénais 2003; Kolb/Fugmann 2008.

183 Zu diesem Aspekt des gemeinschaftlichen Totengedenkens s. Yasin 2009, insb. Kap. 2, S. 46–100.

184 Rogger 2001, zu den Inschriften bes. Band II, S. 381–412; Edition der Inschriften in: ICI XIII, 1–38.

185 Zur Genese und Entwicklung der römischen Katakomben und ihrer Bestattungspraxis s. neben den wegweisenden Arbeiten A. Bosios, der im 17. Jh. die erste planmäßige Darstellung der römischen Katakombenlandschaft darlegte (Bosio 1632/1998) und G. B. de Rossis, der die Katakomben im 19. Jh.

archäologisch systematisch erschloss (De Rossi 1864–1867) Brandenburg 1984; Pergola 1986; Fiocchi Nicolai/Bisconti/Mazzoleni 1998, 147–185 speziell zu den Inschriften.

186 S. Fiocchi Nicolai 2006 zu den Katakomben von Latium; Fiocchi Nicolai/Nestori 1992 zu denen in Tuscia et Umbria; den ICI-Band II, 1985 und Carletti/Fiocchi Nicolai 1989 zu denen Volsiniis; den ICI-Band XI, 2003 zu denen Clusiums; den ICI-Band IV, 1986 zu denen im Ager Capenas.

waren allerdings längst nicht alle der in den Katakomben aufgestellten Stücke derar-tig beschriftet, vermutlich weil die entsprechenden Grabinschriften an den Wänden der cubicula oder auf hier angebrachten Tafeln geschrieben standen, sodass es einer namentlichen Kennzeichnung der Sarkophage nicht mehr bedurfte.¹⁸⁷

Neben den Katakomben gab es auch spätantike Nekropolen sub divo, also unter freiem Himmel, wo die Toten gelegentlich ebenfalls in Sarkophagen beigesetzt, häu-figer aber in dicht nebeneinander angeordneten Bodengräbern bestattet wurden.¹⁸⁸ Für die Anbringung der Grabinschriften dienten hier entweder große Marmorplatten, welche die Gräber überdeckten, oder aber aufrecht am Grab stehende Stelen und cippi, von denen sich allerdings nur sehr wenige Exemplare – vornehmlich im Osten und hier vor allem in Kleinasien und in der Gegend um Hebron – erhalten haben.¹⁸⁹ Solche Nekropolen sub divo sind mehrfach aus Rom bekannt, haben sich aber auch anderswo im italischen Raum erhalten, zum Beispiel im tuscischen Florentia (Florenz) unter der heutigen Kirche S. Felicita, wo im 5. und 6. Jh. mehr als dreißig Bodengräber für Chris-ten angelegt wurden. Darüber hinaus wurde auch die dortige frühchristliche Kirche selbst für Bestattungen genutzt, wie mehrere mit Inschriften versehene Grabplatten aus dem Inneren des Baus zeigen.¹⁹⁰

Ohnehin entwickelte sich der frühchristliche Kirchenbau zu einem bedeutenden Ort für praktizierte Inschriftlichkeit im spätantiken Italien. Insbesondere für Bischöfe und Mitglieder des hohen Klerus wurden seit dem 5. Jh. Grabinschriften innerhalb von Gotteshäusern und kleineren Kapellen errichtet.¹⁹¹ Ein anschauliches Beispiel dieser Art ist die eingangs bereits erwähnte ‚Bestattungskirche‘ in Tridentum, in der nicht nur ein episcopus, ein diaconus und mehrere presbyteri in gemauerten Grabschächten

187 Vgl. Dresken-Weiland 2003, 20. – Zu Sarkophagbestattungen in Katakomben s. id., 107–112.

188 Über die Nekropolen sub divo ist angesichts des raren archäologischen Befunds wenig bekannt.

Schriftliche Quellen, darunter Tertullian (Tert. ad scapulam 3,1) und die Acta des Cyprian (Pass.

Cypr. 5) sprechen von areae, worunter man sich wohl einen eingefriedeten Bereich für die Bestat-tung von Christen vorstellen darf; s. hierzu aber die Kritik von É. Rebillard, der diese areae nicht für gemeinschaftlich genutzte Bestattungsplätze der gesamten Gemeinde hält, sondern für die Areale einzelner Familien, die diese auch zu Versammlungen nutzten: Rebillard 2009, 1–12; ders. 1996 spe-ziell zu den areae in Karthago. Möglicherweise dienten (beschriftete?) cippi als Grenzmarken dieser Areale. – Zu den Nekropolen sub divo s. RAC XII, 1983, Sp. 548 f. (C. Pietri); Yasin 2009, 59; Rebillard 2009, 7–12. – Zu den Sarkophagbestattungen sub divo s. Dresken-Weiland 2003, 121 f. (Friedhof sub divo von St. Peter), 171 f. (Friedhof sub divo von Manastirine in Dalmatien), 184 f.

189 Während Grabplatten im italischen Raum in großer Zahl überliefert sind, lassen sich hier tat-sächlich nur sehr wenige spätantike Beispiele für aufrecht am Grab aufgestellte Inschriftenstelen nachweisen. Um eine solche – allerdings früh datierte aus dem beginnenden 3. Jh. – könnte es sich bei dem Epitaph der Licinia Amias aus Rom in Form einer Stele mit Giebel und acroteria handeln, deren griechische Inschrift ΙΧΘΥϚ ΖωΤωΝ und die bildlichen Elemente zweier Fische und eines An-kers wohl als christliche Motive zu deuten sind; s. hierzu Carletti 2006, 91–119. – Zu Grabstelen am frühchristlichen Grab s. RAC XII, 1983, Sp. 451–455 (K. Stähler).

190 Maetzke 1957.

191 Zu Bestattungen in Kirchen s. Yasin 2009, 69–97 mit Beispielen aus Nordafrica.

2.2 Erscheinungsformen  67

(formae) bestattet wurden, sondern auch Mitglieder aus der Laiengemeinde, darun-ter der im Aldarun-ter von 64 Jahren verstorbene vir spectabilis Censorius.¹⁹² Im umbrischen Narnia (Narni) hatte man im 5. Jh. über der Grablege des heiligen Juvenal, des ersten Bischofs der Gemeinde, ein Oratorium errichtet, in dem die Bischöfe der Gemeinde seither beigesetzt wurden. Ihre Grabinschriften haben sich in dem später an diesem Ort errichteten Sacellum aus dem frühen Mittelalter erhalten. Eine erste, mit großer Sorgfalt ausgeführte Inschrift galt dem episcopus Pancratius, der in der ersten Hälfte des 5. Jhs. das Bischofsamt bekleidete und hier im Jahr 444 begraben wurde. Die zweite Inschrift ist noch aufwendiger gestaltet und zeigt in ihrer Mitte ein großes, von zwei Lämmern flankiertes Kreuz, über welchem der in Versen abgefasste Text für den in der Mitte des 6. Jhs. wirkenden Bischof Cassius und dessen Frau Fausta geschrieben steht (Abb. 4, s. u. S. 79). Vermutlich war die außergewöhnlich gut erhaltene Mar-mortafel an der Wand direkt über dem Grab des Paares angebracht.¹⁹³

Ganz anders präsentiert sich die Inschrift am Grab des zum Christentum konver-tierten Juden Petrus, der in der ersten Hälfte des 5. Jhs. unter dem Boden des Vorgän-gerbaus der Basilika Sant’Eufemia in Grado bestattete wurde (Abb. 5, s. u. S. 79). Sie wurde direkt in den Mosaikboden über der Grablege integriert und mit der Abbildung eines von zwei Vögeln und Weinlaub umspielten Kantharos kombiniert.¹⁹⁴

Musivische Grabinschriften wie diese waren im italischen Raum allerdings selten und haben sich vornehmlich in der Provinz Venetia et Histria mit ihrem reichen Bestand an mit Mosaikfußböden ausgestatteten Kirchenanlagen überliefert.¹⁹⁵ Abge-sehen von der Grabinschrift des Konvertiten Petrus ist aus Grado noch ein weiteres Exemplar dieser Art bekannt, das ebenfalls aus der Basilika Sant’Eufemia stammt, allerdings der Bauphase des späteren 6. Jhs. angehört. Die Inschrift befindet sich im Fußboden eines kleinen Altarnebenraums, wo sie das Grab des Bischofs Marcianus markierte und sein Andenken für die Nachwelt bewahrte (Abb. 6, s. u. S. 80).¹⁹⁶ Ein drittes Beispiel ist aus der Kirche S. Giovanni in Aquileia bekannt. Die Inschrift galt der im Alter von 23 Jahren verstorbene Clarissima.¹⁹⁷

192 Mazzoleni 2001, 389–392 Nr. 3.

193 Grabinschrift des Pancratius: ICI VI 13 mit Abbildung; Grabinschrift des Cassius und der Fausta:

ICI VI 14. Zum frühchristlichen Bestattungsplatz an der Stelle der heutigen Kirche S. Cassiano s. Pani Ermini 1998, 87 f.

194 IAq 3330: Hic requiescit / Petrus qui Papa/rio fil(ius) Olimpii Iu/daei solusque / ex gente sua / ad Chr(istum) meruit / gratiam perveni/re et in hanc s(an)c(tam) / aulam digne sepul/tus est sub d(ie) pr(i) d(ie) / Id(us) Iul(ias) ind(ictione) quarta.

195 Außer den hier angeführten Beispielen sind noch zu nennen: ICI XIII 16 (Canusium) und ICI V 46 (Vibo Valentia); Exemplare dieser Art sind auch aus der Katakombe S. Gennaro in Neapolis bekannt;

s. hierzu Amodio 2005, 106–122. Größere Tradition hatte diese Form von Grabinschriften in Hispanien, wo sich zahlreiche Exemplare erhalten haben; s. hierzu Gómez Pallarès 2002; Arbeiter 2006.

196 IAq 3364 = Zettler 2001, 204 Nr. 37.

197 Bertacchi 1974, 87.

So wie die Praktiken und Kultbauten der frühen Christen die Orte, an denen spät-antike Inschriftlichkeit praktiziert wurde, erweiterten, wandelten sich auch die Texte der Grabinschriften, indem christliche Glaubensvorstellungen in Form bestimmter Wendungen oder der Hinzufügung christlicher Symbole in diese Eingang fanden.

Dieser Wandel geschah nicht plötzlich, sondern vollzog sich als ein fortschreitender Prozess in mehreren Phasen. Am Beginn dieser Entwicklung steht eine Periode des Übergangs, in der römisch-pagane Traditionen und christlich geprägte Innovationen zunächst nebeneinander fortliefen und zuweilen miteinander kombiniert wurden.

Erst ab dem mittleren 4. Jh. lässt sich die Herausbildung eines stabilen Repertoires an christlich geprägten Formulierungen und Wendungen ausmachen, welche die Grab-tituli des 5. und 6. Jhs. schließlich bestimmten. Es wäre allerdings falsch, in diesem Zusammenhang von einem „christlichen Formular“ für Grabinschriften oder von einer „christlichen Inschrift“ zu sprechen, weil es dies so nicht gegeben hat. Die Vor-stellung eines „christlichen epigraphic habit“ entspringt Forschungstraditionen des 19. Jhs., als die epigraphische Forschung christliche und nicht-christliche Inschriften getrennt voneinander sammelte und auswertete.¹⁹⁸ Zwar geschah dies aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – so versuchte man etwa auf diese Art Datierungshilfen für die zahllosen Inschriften der stadtrömischen Katakomben zu erarbeiten, für die es noch keine relative, geschweige denn eine absolute Chronologie gab –, doch ohne sich darüber bewusst zu sein, was eine „christliche Grabinschrift“ denn überhaupt sei.

Tatsächlich fällt eine solche Definition schwer, nicht zuletzt deshalb, weil die frühen Christen ja derselben Lebenswelt entstammten wie ihre nicht-christlichen Zeitgenos-sen und genau wie sie vom InschriftenweZeitgenos-sen der römischen Antike geprägt waren. In dieser Hinsicht sollte anstatt von „christlichen Inschriften“ besser von „Inschriften von Christen“ gesprochen werden, wie es Carlo Carletti in den späten 1980er-Jahren als erster vorschlug.¹⁹⁹ Wie sinnvoll diese Differenzierung ist, zeigt bereits die Tat-sache, dass wir bei vielen Grabinschriften des 3. bis 5. Jh. nicht mit Sicherheit sagen können, ob der/die Verstorbene Christ/in war oder nicht, da sie sowohl Wesenszüge der traditionellen römisch-paganen Inschriftenpraxis als auch hierfür untypische, dem christlichen Glauben entsprungene Elemente aufweisen.

Am Beispiel der Dis-Manibus-Formel lässt sich dies gut nachvollziehen. Diese ein-leitende Widmung an die Manen, womit sowohl die römischen Totengötter als auch die Gemeinschaft der verstorbenen Vorfahren gemeint sein konnte, war unverzicht-barer Bestandteil einer römisch-paganen Grabinschrift. Man ersuchte damit um den Schutz des Grabs.²⁰⁰ Interessanterweise finden wir diese auch bei Grabinschriften des späten 4. und 5. Jhs., die wir zum Beispiel aufgrund ihres Aufstellungskontexts oder

198 S. dazu zuletzt Roueché/Sotinel 2017.

199 Zuerst im Rahmen des AIEGL-Kolloquiums „La terza età dell’epigrafia“: Carletti 1988; dann im Zusammenhang mit zahlreichen Einzelstudien, zum Beispiel Carletti 1997; ders. 1998; ders. 2006;

ders. 2008.

200 Zu dem Aspekt der Weihung an die manes s. RAC XII, 1983, Sp. 537–539 (C. Pietri).

2.2 Erscheinungsformen  69

des verwendeten Formulars mit großer Sicherheit einem Christen zuordnen können.

Aus der Calixtus-Katakombe an der Via Appia beispielsweise stammen gleich mehrere solcher Stücke, darunter eine Inschrift des 4. Jhs. für die verstorbene Prime, die ange-sichts der Wendung deposita in pace Christin gewesen sein muss,²⁰¹ oder diejenige für einen gewissen Basileus, den wiederum die abschließende Sentenz vivas in deo als Anhänger des christlichen Glaubens ausweist.²⁰² Während die frühe Forschung zuweilen annahm, die Formel DM sei nicht als Dis Manibus aufzulösen, sondern stehe für Deo Maximo oder auch für die verkürzte Verbform dormit,²⁰³ führt man heute andere Erklärungsmuster ins Feld, die den Einfluss der tief verwurzelten inschriftli-chen Konventionen der Kaiserzeit in größerem Maße betonen und die Kontinuitäten im Übergang von der römisch-paganen zur christlichen Sepulkralepigraphik ebenso berücksichtigt wissen wollen wie die Umbrüche. So könnte das jedem Christen ver-traute DM zunächst ganz einfach aus einer Art Gewohnheit erhalten geblieben sein, ohne dass damit eine tatsächlich Weihung an die römischen Totengötter verbunden worden wäre als vielmehr die Absicht, den Ort als Bestattungsplatz zu kennzeich-nen.²⁰⁴ Dies war auch in anderer Hinsicht von Bedeutung, vermochte die Formel das Grab doch als sakralen Ort auszuweisen und damit unter den Schutz des römischen Grabrechtes zu stellen.²⁰⁵ Ferner ist auch denkbar, dass es sich bei derlei Grabsteinen um bereits vorgefertigte Stücke mit den üblichen standardisierten Elementen einer lateinischen Grabinschrift gehandelt hat, bei welchen die persönlichen Angaben des Toten bzw. des Auftraggebers ergänzt wurden.²⁰⁶ Gerade in der Frühphase des 3. Jhs.

war es sicherlich häufiger vorgekommen, dass Christen auf solche vorgearbeiteten Grabsteine zurückgriffen. Dass das DM der christlichen Inschriften tatsächlich als Dis Manibus gedeutet werden muss, legen schlussendlich auch vergleichbare griechisch-sprachige tituli mit dem Äquivalent ΘΚ für Θεοῖς Καταχθονίοις nahe, wie etwa zwei aus Rom stammende Beispiele für eine Αἰλια Μαξιμα und eine Celestina.²⁰⁷

Neben der Weiheformel an die Manen zeigen einige Grabinschriften für Chris-ten noch andere Elemente römisch-paganer Prägung. Aus der Tradition des Elogiums etwa stammt die Sitte, den Toten und dessen gute Eigenschaften in den Inschriften ausdrücklich zu würdigen. Dazu benutzte man Bezeichnungen wie carissimus oder dulcissimus und später, mit stärker religiöser Konnotation und Auslobung des Ver-storbenen als guten Christen, Wendungen wie religiosa femina, devotus und famulus

201 ICUR III 9088: D(is) M(anibus) Prim(a)e compari dulcissim(a)e / vixit an(nos) p(lus) m(inus) X Vitalis eius s[---] / deposita in pace III K(alendas) M[---].

202 ICUR IV 9700: D(is) M(anibus) [s(acrum)] / {ba} Basileus [Basilissae ---]/silis fili(a)e contr[a votum ---]/SAVIRISMAE d[ep(osita) --- vi]/vas in de[o].

203 Zu den Deutungen aus der Frühzeit der epigraphischen Forschung s. Becker 1881, 2–8.

204 Vgl. Kaufmann 1917, 37.

205 Vgl. Caldelli 1997; Carroll 2006, 266 f.

206 Vgl. Kaufmann 1917, 37.

207 ILCV 3884, 3884A; vgl. hierzu Cooley 2012, 232.

oder servus Dei.²⁰⁸ Ferner finden sich – insbesondere in metrisch gestalteten Grabin-schriften – auch das eine oder andere Zitat aus der klassischen römischen Literatur oder Anspielungen auf berühmte Werke. Ein solches Beispiel begegnet etwa in einem Grabepigramm des beginnenden 6. Jhs. aus Spoletium. Es wurde für das Andenken der Probatia und der Concordia verfasst und liest sich als eine Reminiszenz an die Episode des Freundespaares Nisus und Euryalus aus dem Epos des Vergil. Genau wie die beiden Helden der Aeneis sollten auch Großmutter und Enkelin ihre letzte Ruhe-stätte in einem gemeinsamen Grab finden, so die Inschrift:²⁰⁹

Hic aviam neptemque locus post fata rec[epit] / quasque dies olim fecerat unianimes / e[vol]at ad superos ment[is quoqu]e gratia simplex / sa[rcophag]um duplex corpora nunc sociat / alter-nis [praest]ant votis sic [lu]mine vero / tunc iacuere simul Nisus et Eurialus / Probatia avia d(e) p(osita) XIIII Kal(endas) Novemb(res) / Concordia nepu(!)s d(e)p(osita) / prid(ie) Kal(endas) Sept(embres) / Venantio Iuniore cons(ule) alio.

Dieser Ort nahm die Großmutter und die Enkelin, die der Tag einst einmütig gemacht hatte, nach dem Schicksal [d. h. nach dem Tode] auf. Um der Seele willen stieg jede alleine auf, nun verbin-det ein doppelter Sarkophag ihre Leiber. Durch abwechselnde Gebete zeichnen sie sich aus; so lagen damals Nisus und Eurialus zusammen im wahren Licht. Probatia, die Großmutter, wurde am 14. Tag vor den Kalenden des November niedergelegt, Concordia, die Enkelin, am Vortag der Kalenden des September, im Jahr, als Venatius Iunor Konsul war.

Ein weiteres Indiz dafür, dass die christliche und nicht-christliche Inschriftenpraxis im Kontext des Grabs nebeneinander fortbestand, bildet auch der Umstand, dass die frühen Christen nicht davon abrückten, Angaben zur sozialen Stellung oder zum Fami-lienstand des/der Verstorbenen zu machen und sie (mehr oder weniger) ausführlich zu würdigen – auch wenn dies zumeist in ihrer Rolle als gläubige, fromme Gemeinde-mitglieder geschah. So wurde zum Beispiel mit Wendungen wie homo bonus, benedic-tus, innocentia, sine macula, devoltus oder fidelis deo auf den tiefen Glauben an Gott und die feste Bindung an dessen Kirche hingewiesen.

Indem die frühen Christen den Namen des Grabstifters in ihren Inschriften anga-ben und in manchen Fällen noch eine Grabschutzformel beifügten, griffen sie eanga-ben- eben-falls ältere Traditionen der römischen Inschriftenkultur auf. Ein Beispiel hierfür liefert die Inschrift der im 6. Jh. bestatteten Livania aus Potentia, bei der es am Ende heißt:

coniu/r[a]t per diem tremendi iudi/cii ne quis hoc aliquando / audeat violare sepulc-rum.²¹⁰ Zum Abschluss konnte ebenfalls eine Anrede an den Leser der Inschrift mit der Bitte stehen, für den Toten zu beten, etwa qui leges ora pro me.

208 Zu diesem Aspekt s. Carletti 2006, 51–53.

209 CIL XI 4978 = ILCV 3448 = ICI VI 61. Andere Beispiele für Nachwirkungen klassischer Werke in spätantiken Grabepigrammen: CLE 654 (Antium), 682 (Rom), 705 (Vercellae), 748 (Vercellae), 783 (Pagno), 2018 (Rom); zu diesem Aspekt s. Hoogma 1959, bes. Abschnitt II. Grössere Anlehnungen (carmina).

210 CIL X 178 = ILCV 3867.