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3 Soziale und Informationstechnische Strukturen im Entsprechungsverhältnis

3.2 Die Informatisierungstheorie der KAIROS Gruppe

3.2.1 Informatisierung, Formalisierung und Wissen

Die Bedeutung von Informatisierung lässt sich erst einmal über die spezifische Veror-tung des Begriffs der Information genauer bestimmen. Natürlich kann weder eine Infor-mationstheorie (vgl. u.a. Capurro 2002) noch eine Philosophy of Information (Floridi 1999) eine allgemeingültige, valide oder apodiktische Definition und Interpretation des Informationsbegriffs entwickeln und da auch an dieser Stelle nicht von einer Welt klar geschnittener ontologischer Sphären ausgegangen werden soll, erschließt sich die beson-dere Bedeutung des Begriffs für die vorliegende Argumentation durch die spezifische Weise seiner Verwendung.

Dabei ist das Spektrum möglicher Verwendung breit. Ganze Wissenschaftskarrieren wurden der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Bedeutungen und Deu-tungsweisen des Informationsbegriffs und der Vielfalt der Informationsphänomene gewidmet. Der deutsche Informationswissenschaftler Gernot Wersig behauptet sogar,

„There is perhaps no other term that has become more ambiguous during the last forty years than the term ‚INFORMATION‘“ (Wersig 2003, S. 310) und bei Klemm liest

man: „Das Informationszeitalter kann sich nicht einigen über den Begriff ‚Information‘“

(Klemm 2003, S. 267) 63.

Dennoch, grundsätzliche Einigkeit über einzelne Forschungsfelder hinausgehend herrscht meist darüber, dass in der heutigen Verwendungsweise Wissen in gewissem Sinne mehr ist als Information, und auch darüber, dass Information in gewissem Sinne mehr ist als ein Datum (vgl. dazu so unterschiedliche Autoren wie etwa Alavi und Leid-ner 2001; Meadow und Yuan 1997 oder SpinLeid-ner 1998, S. 14). Christian Schilcher entwi-ckelt einige Beispiele zur Beschreibung des Verhältnisses dieser drei Begriffe (vgl.

Schilcher 2006, S. 23). Zugrunde liegt diesen Beispielen der Gedanke, dass es immer eines gewissen Maßes an menschlicher Anstrengung (Interpretationsleistung, Kontextua-lisierungsfähigkeit, Erfahrung und so weiter) sowie eines bestimmten Referenzrahmens bedarf, um aus Daten Informationen zu generieren, und insbesondere, um aus Informati-onen neues Wissen zu generieren. Wie diese Schwellen zu setzen sind, um eine Abgren-zung des Informationsbegriffs zu erreichen, darüber herrscht jedoch Unklarheit. Das Feld zwischen Wissen und Datum ist breit und das Informationskonzept oszilliert frei zwischen diesen Polen. Es bleiben Fragen hinsichtlich Verbindungsweise und Trenn-schärfe der Begriffe bestehen.

Im Verständnis der Informatisierungstheorie von Rudi Schmiede ist der Informations-begriff klar zu unterscheiden vom (kontextgebundenen, sozialen, unabgrenzbaren und im alltäglichen Sprachumgang sehr viel länger gebräuchlichen) Wissensbegriff und orientiert sich eher am Datumsbegriff. Das ist keinesfalls selbstverständlich. Im Gegen-teil, es ist interessanterweise zu beobachten, dass sich die vergleichsweise junge Infor-mationswissenschaft beziehungsweise die anglo-amerikanische Information Science (und wie sich zeigen lässt, infolgedessen auch Teile der Computer Science, häufig jene, die sich sozialwissenschaftlichen Perspektiven öffnen), in ihrem Informationsverständnis mehr und mehr dem Wissensbegriff annähern. Aus berufssoziologischer Sicht ist diese begriffliche Aufwertung von Information unmittelbar nachzuvollziehen, werden damit doch gleichwohl die Tätigkeiten all jener aufgewertet, die sich in irgendeiner Art und

63 Was damit gemeint ist lässt sich an der folgenden Paradoxie demonstrieren: Während für Gernot Wersig Information die „Reduktion von Ungewissheit“ (Wersig 1971, S. 465 zit. nach Capurro 1978, S. 235) ist, steigt bei Luhmann der Informationsgehalt gerade mit dem Unerwartetem, Überraschendem – also mit dem Ungewissen – an, denn „Information, die sinngemäß wiederholt wird, ist keine Information mehr“

Weise professionell mit Information beschäftigen64. Um Missverständnissen vorzubeu-gen, ist es indes notwendig, auf diesen Annäherungsprozess im Folgenden näher einzu-gehen.

Die jüngere Entwicklung, die der Informationsbegriff im Mainstream der angelsächsi-schen Information Science – und auch im vergleichsweise unbedeutenden (vgl. Klemm 2003) Westdeutschen Gegenstück genommen hat, lässt sich anhand des Kontinuums zwischen abstrakt autonomen Entitäten (Daten) und interpretationswürdiger Kopfsache (Wissen), recht gut darstellen. Grob lassen sich drei Phasen ausmachen:

In den 1950er und 1960er Jahren erlebt die Informationswissenschaft eine von Gernot Wersig so bezeichnete „Shannon and Weaver phase“ (Wersig 2003, S. 311), in der sich die gerade entstehende Disziplin stark durch die mathematische Theorie der Kommuni-kation und durch Überlegungen zur Optimierung von Nachrichtenübertragung beeinflus-sen ließ. Die Physik der Signale stand im Mittelpunkt und die technischen Probleme der Datenübertragung wurden dabei recht häufig unreflektiert auf soziale Zusammenhänge übertragen. Infolge zum Teil verkürzter Annexionen galt Information als uneinge-schränkt messbar, wurde objektiviert, verdinglicht, lediglich verstanden als klar ab-grenzbare Entität und Träger einer Nachricht. Datum und Informationen wurden zu-nächst synonym verwendet. In den 1970er Jahren entwickelte die Information Science dann nach und nach ihr eigenes Profil und erlebte eine Art „Cognitive Turn“ (Cornelius 2002, S. 406). Damit richtete sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf den menschlichen Empfänger. Dessen Informationsverarbeitung im Gehirn wurde nun zwar nicht mehr gleichgesetzt mit maschineller Datenverarbeitung (womit sich das Verständnis von Information etwas erweiterte), nichtsdestotrotz war man zu dieser Zeit immer noch bemüht, Information als rein quantitativ messbare Einheit zu behandeln. Dieses Informa-tionsverständnis wurde dann drittens wiederum abgelöst durch eine weitere Aufwei-chung des Begriffs. Vornehmlich konstruktivistische Kritiken sorgten in dieser dritten Phase sozusagen für eine Soziologisierung der Information und verstanden diese eben nicht nur als abhängig von kognitiven Strukturen, sondern immer mit einem Weltbezug versehen, als zwischenmenschlich konstruiert, abhängig von sozialen Praktiken, im

64 Vgl. zu dieser Hypothese auch Haigh (2001), der in einem aufschlussreichen Aufsatz über die amerika-nischen „Systems Men“, die Versuche einer Berufsgruppe beschreibt, die betriebliche Bedeutung von Information auch mittels einer begrifflichen Aufwertung zu erhöhen. Ab den 1950er Jahren wollten sich die Systems Men nicht bloß als Spezialisten für Datenverarbeitung profilieren, sondern mit strategischen Informationskonzepten vermehrt Einfluss über das Top-Management gewinnen. Im Zuge dessen löste sich der gebrauchte Informations- vom Datumsbegriff.

Zusammenhang mit Motivation oder Intention stehend, mit Geschlecht und/oder Kultur.

Das Informationsverständnis wurde damit interpretationsbezogen und semantisch aufge-laden. Bei Tefko Saracevic, einem der bedeutendsten amerikanischen Informationswis-senschaftler, liest man Ende in einem Ende der 1990er Jahre veröffentlichten Aufsatz:

„In information science, we must consider the third and broadest sense of information, because information is used in a context and in relation to some reasons” (Saracevic 1999, S. 1054).

Diese grundsätzliche Bedeutungserweiterung des Begriffs innerhalb der Information Science prägt auch die unterschiedlichsten Unter-, Teil-, und Nachbardisziplinen. So zeichnen Pettigrew et al. für das so genannte Information Behavior Research eine ähnli-che Entwicklung auf, indem sie den „system/resource approach“ durch den „user-centered paradigm shift“ der 1980er Jahre abgelöst sehen, um dann etwa ein Jahrzehnt später den verstärkten Einfluss sozialer Ansätze zu erkennen, „which were developed to address information behavior phenomena that lie outside the realm of cognitive frame-works“ (Pettigrew et al. 2001, S. 54). Es ist auch zu beobachten, wie sich Teile der Computerwissenschaften, die sich soziologischen Fragen geöffnet haben, unter anderem die noch zu diskutierende Social Informatics (vgl. Kapitel 6), ebenfalls auf dieses weite Verständnis des Informationsegriffs beziehen. Hier ist insbesondere das Stichwort „Em-beddedness“ von Bededutung, dies offenbar auch in Bezug auf den Informationsbegriff.

Joseph Goguen, der sich als amerikanischer Computerwissenschaftler um eine „Social, Ethical Theory of Information“ bemüht, ist ein gutes Beispiel, um dieses weite Begriffs-verständnis zu illustrieren. So unterscheidet er sieben Eigenschaften (Qualities) von Information:

„1. Situated. Information can only be fully understood in relation to the particular, concrete situation in which it actually occurs. 2. Local. Interpretations are constructed in some par-ticular context, including a parpar-ticular time, place and group. 3. Emergent. Information can-not be understood at the level of the individual, that is, at the cognitive level of individual psychology, because it arises through ongoing interactions among members of a group. 4.

Contingent. The interpretation of information depends on the current situation, which may include the current interpretation of prior events […]. In particular, interpretations are sub-ject to negotiation, and relevant rules are interpreted locally, and can even be modified lo-cally. 5. Embodied. Information is tied to bodies in particular physical situations, so that the particular way that bodies are embedded in a situation may be essential to some interpreta-tions. 6. Vague. In practice, information is only elaborated to the degree that it is useful to do so; the rest is left grounded in tacit knowledge. 7. Open. Information (for both

partici-pants and analysts) cannot in general be given a final and complete form, but must remain open to revision in the light of further analyses and further events” (Goguen 1997, S. 7f.).

Information wird hier also nicht mehr autonom und interpretationsfrei gedacht, sondern eingebunden in bestimmte soziale Zusammenhänge. Diese in einem kursorischen Exkurs zur Genealogie des Informationsbegriffs skizzierte Annäherung des Informations- an den Wissensbegriff steht dem hier zu diskutierenden originären Informationsverständnis der Informatisierungstheorie allerdings diametral gegenüber. Hier wird Information gerade in Abgrenzung zum Wissensbegriff, als „Artefakt formaler Rationalität“

(Schmiede 1996, S. 16) verstanden.

Eine solche begriffliche Einschränkung zahlt sich zunächst einmal aus. Die Technisie-rung des Informationsbegriffs sorgt an dieser Stelle nicht für eine De-humanisieTechnisie-rung des Diskurses, sondern lässt Parallelen zwischen Informatisierung und historischen Prozes-sen der Formalisierung erkennen. Information selbst basiert bei Schmiede auf der ma-thematisch-logischen Objektivierung von Denkstrukturen; Fluchtpunkt ist dabei das Modell bewusst geformter, handlungsgesteuerter Sicherung eindeutiger Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Durch Identifikation des auslösenden Impulses und durch Isola-tion störender Faktoren wird deren kontrollierte ManipulaIsola-tion möglich. Ausgehend von der ontologischen Herleitung des lateinischen Verbs „informare“ (in deutscher Überset-zung: formen, gestalten, bilden) und in Anlehnung an den jungen Wittgenstein (und dessen Abbildungstheorie), den Schmiede gleichzeitig historisch als Klassiker des logi-schen Positivismus liest (siehe unten), wird Information bei Schmiede als Abbild von Realität, das „nach demselben Modell gebildet“ wird, verstanden. Damit gehorcht In-formation also Wenn-Dann-Kausalitäten und ist „konditionale Aussage über einen Sachverhalt unter bestimmten, klar definierten Randbedingungen“ (Schmiede 1996b, S.

19). Wenn man dieses Verständnis von Information noch einmal rückbezieht auf die oben geführte Diskussion und das Verhältnis zu Wissen, so geht es also bei diesem Informationsbegriff von Schmiede gerade um die Isolation der Unbestimmtheit des Kontextes. Anders als beispielsweise bei dem zuvor zitierten Goguen, spielt damit die Subjektivität des Menschen mit spezifischem Erfahrungshintergrund, Wissensbestand und so weiter, eine vergleichsweise geringe, eher störende Rolle. Information wird bei Schmiede verstanden als „Fassung von Wissenspartikeln in einer Form, die den organi-sierenden und technischen Umgang mit ihnen erlaubt, sie in operable Einheiten trans-formiert“ (Schmiede 1996c, S. 122).

Diese Dichotomie von Wissen und Information bildet nun die zentrale begriffliche Grundlage von Informatisierung und wird ineinsgesetzt mit einem Abbildungs- und Doppelungsverhältnis von komplexer, ambivalenter und materieller Realität (realer Welt) auf der einen und abstrakten Funktionszusammenhängen (künstlicher Welt) auf der anderen Seite. Ein wichtiger Gedanke für diese Arbeit, geht es mir doch darum soziale Beziehungen und Verhältnisse in ein systematisches Entsprechungsverhältnis zur technischen Systemarchitektur zu setzen65. Die im Vergleich zu Castells sehr klare begriffliche Trennung von Wissen und Information zahlt sich damit aus.

Dieses Doppelungsverhältnis wird historisch hergeleitet im Zusammenhang mit unter-schiedlichen Entwicklungsprozessen. Dies sind etwa die Herausbildung und Etablierung der naturwissenschaftlich-experimentellen Methode und Denkweise, die Entwicklung einer allgemeinen Form von Maschinerie und Technik sowie die Entstehung neuer, auf der Formulierung rein schematischer Regeln basierender Denkformen in der reinen Mathematik. Im Mittelpunkt stehen also Entwicklungen, denen in gewisser Hinsicht immer ein formaler Charakter innewohnt. Vor diesem breiten historischen Hintergrund emanzipiert sich die informatorische Ebene zunehmend von der materiellen Bezugsebe-ne. Ihre Inhalte sind beliebigen Manipulations- und Bearbeitungsvorgängen zugänglich.

Gleichzeitig übernimmt sie auch die Formierung der ursprünglichen Bezugsebene. „Der informationelle Kontroll- und Steuerungsprozeß beherrscht die materielle Produktion, nicht umgekehrt“ (Schmiede 1996b, S. 44).

Ich werde auf diesen Zusammenhang und den zugrunde liegenden historischen Entwick-lungsprozess im folgenden Abschnitt (3.2.2) genauer eingehen.

65 Allerdings lässt sich der später entwickelten sozialwissenschaftlichen Analytik zu Recht vorwerfen, selbst lediglich instrumentell angelegt zu sein, gewissermaßen als Verwaltungstechnik. Nicht nur Ihre Grundlage auch das, was später der sozialen Dimension zugerechnet wird, ist Technik. Denn für Wilke ist die „Bildung und Nutzung von Organisationen […] eine der herausragenden Kulturtechniken [Hervorhe-bung durch SR] der Menschheit“ (Wilke 2005, S. 130). Bei Douglas ist Organisation gar eine Form der Informationstechnik, verbessern Individuen durch Organisation doch ihre Fähigkeit im Umgang mit Information (vgl. Douglas 1991, S. 93). Aus techniktheoretischer Sicht ist unsere zentrale Dichotomie – wie jede andere auch – also zugegebenermaßen problematisch. Die hier zu diskutierende Unterscheidung zwischen Informationstechnik und Organisation wäre dann lediglich zwischen Sach- und Handlungstech-nik getroffen. Die Freude an der erkannten strukturellen Adäquanz von TechHandlungstech-nik (IT) und Sozialem (Orga-nisation), könnte man mit dem Erstaunen über die gleiche innere Struktur zweier Apfelhälften vergleichen.

Aus lebensweltlicher Sicht, ist die Unterscheidung allerdings höchst bedeutsam, prägt diese Grenze doch nicht nur die realbetriebliche Organisation, sondern, wie ich in Kapitel 6 darstellen möchte, auch den

3.2.2 SOZIALE STRUKTUREN UND INFORMATIONSTECHNIK IM