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2.4 Implikationen und Perspektiven

2.4.1 Individualisierung und religiöse (und kulturelle) Verflechtungen

Ausgehend von lokalen Kontexten und spezifischen Formen der religiösen Individu-alisierung muss den Interaktionen und Vernetzungsprozessen zwischen gleichzeiti-gen religiösen Traditionsbildungleichzeiti-gen sowie der Übertragung von Praktiken und Über-zeugungen über die Grenzen verschiedener sozialer Gruppen und Lebensweisen hin-weg weitere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ob innerhalb oder zwischen konti-nentalen oder subkontikonti-nentalen Räumen – detaillierte historische und ethnographi-sche Studien müssen mit der Untersuchung von geografisch weitreichenden und langwierigen Transferprozessen kombiniert werden (Mulsow 2018). Was wir auf die-sem Forschungsgebiet erwarten können, ist ein tieferes Verständnis der Wechselwir-kungen zwischen Mikro- und Makrophänomenen, das von religiösen Ideosynkrasien intellektueller Vermittler, Nonkonformisten und Fernreisender bis hin zu Prozessen der Gruppenbildung reicht, die sich neuer Konzeptualisierungen und Formen indivi-dualisierter Praktiken bedienen. Zwei Aspekte verdienen hier besondere Aufmerk-samkeit:

a) Kulturvermittler: Für Norbert Elias waren es die wandernden Gelehrten der Renais-sance, die die ersten waren, denen Individualisierungsprozesse zugeschrieben wer-den können (Elias 2001). Im Gegensatz dazu hat unsere gemeinsame Arbeit gezeigt, dass solche Impulse keineswegs nur in Europa oder von der frühen Neuzeit an zu fin-den sind, sondern auch in alten und mittelalterlichen sowie außereuropäischen Ge-sellschaften, nicht zuletzt in Südasien. Im Kontext der Religion entstehen solche Pro-zesse vor allem dann, wenn sie mit Phasen der „Religionifizierung“ (so Rüpke 2010) oder der religiösen Pluralisierung zusammenfallen, wie zum Beispiel in der römi-schen Kaiserzeit und über weite Teile der Religionsgeschichte Indiens. Indien war während des größten Teils seiner Geschichte durch ein hohes Maß an religiöser Viel-falt gekennzeichnet. Religiöse Ideen und religiöse Gruppen konnten nicht anders, als andere religiöse Modi und Konzepte im Blick zu haben, wenn sie ihre eigenen Prakti-ken und Perspektiven ausarbeiteten. Dies hat zu lebhaftem Austausch, zu Abgren-zungen, zu allen möglichen Kombinationen sowie zu Disputationen und Kämpfen ge-führt, und es gab viele Konstellationen, in denen soziale Akteure keine besondere Unterscheidung zwischen den verschiedenen religiösen Strängen oder Stammbäu-men machten (Fuchs 2018, 141–3; Linkenbach 2016; Parson in Fuchs et al. 2019 und Parson im Erscheinen). Solche Konstellationen erlaubten einen unendlichen Strom neuer individualisierender Formen und Haltungen, die bisher noch nicht vollständig erforscht wurden. Im europäischen Kontext waren die Forderungen nach religiöser Individualisierung in abweichenden intellektuellen oder rituellen (und teilweise clandestinen) Traditionen, wie etwa bestimmten Traditionslinien der westlichen Eso-terik oder gelehrter Magie (zu letzterer Otto 2016), immer präsent; aber auch in be-stimmten Momenten und insbesondere an bebe-stimmten Orten nahmen sie auf breite-rer gesellschaftlicher Ebene zu, wie zum Beispiel in bestimmten Phasen des Mittelal-ters oder im 16. und 17. Jahrhundert in Mitteleuropa. In solchen Phasen kann man am

Beispiel des vormodernen Europas „pluralisierte Exilanten“ (so Mulsow 2010) und entsprechend pluralisierte Migranten untersuchen, die ihre pluralen Identitäten nut-zen könnten, um ihre eigenen Optionen für religiöses Handeln zu erweitern. Diese gebildeten Migranten waren sowohl Produkte von Verflechtungen und Verstrickun-gen als auch Akteure, die solche VerflechtunVerstrickun-gen durch die Entwicklung religiöser

„Synkretismen“ und sogar durch kulturelle „Missverständnisse“, die Strömungen unterschiedlicher kultureller Hintergründe zusammenführten, weiter vorantrieben (App 2014, 11-23; Mulsow 2018, 22–6). Die Begegnung zwischen dem portugiesischen Jesuiten Monserrate und dem mogulischen Herrscher Akbar ist ein Beispiel für diese facettenreiche Pluralität im Kontext der zivilisationsübergreifenden Verbreitung mil-lennaristischer Ideen im 16. Jahrhundert (Subrahmanyam 2005; s.a. Kouroshi 2015;

Fuchs, Linkenbach und Reinhard 2015). Wie andere marginal (wo)men trugen sie das Wissen um ihre Herkunftskulturen in andere Regionen und besaßen gleichzeitig eine besondere Empfänglichkeit für fremde Ideen.

Die Untersuchung dieser speziellen Gruppen von cultural brokers, die oft Mitglie-der von Eliten, aber manchmal auch von Unterklassen (Nath Yogis, Sufis, römisches Militärpersonal) sind, ermöglicht – soweit die Quellen vorhanden sind – die Untersu-chung von Fragen, die sonst kaum zu beantworten sind. Ein Ausgangspunkt ist dabei die Frage, wie sich Erfahrungen aus religiösen Kontakten oder Verstrickungen in in-dividuelle Aktivitäten umsetzen lassen, da das subjektive Bewusstsein für weitrei-chende Strukturen sehr unterschiedliche Formen annehmen kann.

Durch die Differenzierung der verschiedenen Facetten und Phänomene der reli-giösen Individualisierung und die Annahme, dass de- oder nichttraditionelles Ver-halten zwischen Perfektion und Abweichung schwanken kann, ist es möglich, das Spektrum der uns zur Verfügung stehenden deskriptiven Begriffe zu erweitern. Mit einem solchen Ansatz können wir zuverlässiger feststellen, inwieweit Konzepte und Ideen (Mulsow 2017), die außerhalb einer bestimmten Gruppe oder eines bestimmten kulturellen Kontextes entstanden sind, Auswirkungen auf die Individualität in die-sem Kontext und auf die spezifische Ausprägung dieser Form von Individualität hat-ten. Das sehen wir deutlich in Beiträgen unseres Abschlussbandes, die sich mit süd-asiatischen Persönlichkeiten wie Kabir, Akbar, Dara Shikoh, Banarsidas, Ramakrish-na, Keshab Sen und Gandhi (Dey, Fuchs, Höke, Murphy, Parson, Sangari), mit dem europäischen Judentum (Facchini) und Papst Benedikt XIII. befassen, mit Pedro Mar-tinez de Luna (Müller-Schauenburg), oder mit Albert dem Großen (Casteigt) und dem chinesischen buddhistischen Mönch Xuanzang (Deeg). Andere Fragen, die auch in den Vordergrund rücken können, sind Fälle von faktischen Zusammenhängen ("Hyb-ridität“), die jedoch nicht mehr als Phänomene der Differenz wahrgenommen werden (etwa der radikale Pietismus, der über Religionszugehörigkeiten läuft, oder die Fusi-onen zwischen Sufi, Nath Yogi und bhakti-Ideen und -Praktiken im frühneuzeitlichen Punjab); schließlich könnte stereotypes Abwehrverhalten, wie das der religiösen Apologetik, religiöse Zusammenhänge und Hybriditäten tatsächlich verstärkt haben, obwohl man genau dies verhindern wollte. Methodisch sollte eine solche Forschung

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von gut dokumentierten Fällen von Individuen und ihren speziellen Formen indivi-dualisierter religiöser Praktiken ausgehen und dann Konsequenzen, soziale Diffusion und die diskursive Bewertung von „prekären“ (Mulsow 2012) Formen religiöser Praxis und Wissen berücksichtigen.

Die Quellen offenbaren somit ein breites Spektrum von Akteuren, von religiös ab-weichenden Individuen in Mitteleuropa („Beginen“, „Visionäre“, „Hermetiker“,

„Spiritisten“, Praktizierende der „Gelehrtenmagie“ und so weiter), die sich nicht im-mer der vielfältigen transnationalen Wege bewusst waren, die ihre Quellen bis hin zu religiösen Kleinunternehmern, darunter Missionare (wie die Jesuitenmissionen in China, Japan und Indien; seit dem 19. Jahrhundert auch Missionarinnen), Kaufleute, Militärangehörige und Forscherinnen und Forscher in sehr unterschiedlichen Kultu-ren genommen hatten. Solche Menschen findet man über Epochen und Kontinente hinweg, angefangen bei „Chaldäern“, „Zauberinnen“, „Magi“, alten Astrologen, un-ternehmerischen Asketen in Indien und anderswo, prominenten Bhaktas, Gurus oder ācāryas, und Heiligenpoeten, darunter einige aus Gruppen ohne jedes Ansehen und Frauen, im indischen Fall aber auch vielen einfachen Menschen, bis hin zu Zen-Spe-zialisten wie E. Herrigel und D. T. Suzuki.

b) Strukturelle Austausch- und Vernetzungsbeziehungen über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg: Schon der Begriff „Jesuiten“ verweist auf die Notwendigkeit, nicht nur Kontakte über einzelne Akteure, sondern auch Netzwerke und vernetzte Systeme sowie deren Entwicklungen zu berücksichtigen. Unter „Vernetzungsregimen“ verste-hen wir Netzstrukturen, in denen besondere strukturelle und habitualisierte Rahmen – Prinzipien, Regeln, Normen und Erwartungen auf beiden Seiten – langfristige Ver-bindungen ermöglichen. Beispiele für Vernetzungsregime sind Orden, Missionsge-sellschaften und imperiale Formationen (Römisches Reich, Osmanisches Reich, Mo-gulreich), in denen verschiedene religiöse Strömungen, ethnische Gruppen und auch bestimmte Amtsträger interagieren. Lokale und überregionale Netzwerke werden durch solche Systeme miteinander verbunden und verfestigt; die rechtliche Klassifi-zierung von Gruppen bietet sowohl Grenzen als auch einen Freiraum für ihre jeweili-gen Aktivitäten. Die Stereotypen von Außenstehenden über Gruppen können pole-misch abgelehnt oder im Gegenteil als eigene Selbstbeschreibungen der Gruppen an-genommen und kanonisiert werden.

Auch die Art der Interaktion und ihre individualisierende Wirkung sollten be-rücksichtigt werden. Sowohl Verbundprozesse als auch isolierte Entwicklungen soll-ten in einem geografischen Gebiet von Europa bis Südasien untersucht werden, wo-bei Westasien und islamische Reiche als Brücke in wo-beide Richtungen dienen. Neben Strategien der Gruppen- und Netzwerkbildung und der gegenseitigen Differenzierung zählen auch individuelle Begegnungen. Zum Beispiel die Reaktionen zeitgenössi-scher „Beobachterinnen und Beobachter“, die diese Fakten in ihrem jeweiligen Text-genre in ihrer Eigenschaft als Philosophinnen, Theologinnen, Juristinnen, Ethnogra-phinnen, Hagiographinnen und Historikerinnen (und ihre männlichen Pendants) konzeptualisieren. Solche Prozesse sind für die Geschichte der Individualisierung

von besonderem Interesse, zum einen durch ihr Verhältnis zu Traditionen der Selbs-treflexion, die in Philosophie und Ethnographie seit der Antike präsent sind (sowohl in Europa als auch in West-, Süd-, Südost- und Ostasien) und zum anderen durch die von Mobilität geprägte Individualisierung der religiösen Erfahrung sowie durch die Übernahme fremder Traditionen durch den Einzelnen.

2.4.2 Die langfristigen Auswirkungen von Prozessen der religiösen