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Auseinandersetzung mit religiöser Individualisierung − Erweiterung der Perspektive

Die Entdeckung und Dokumentation dieser verschiedenen Facetten und Prozesse der religiösen Individualisierung aus anderen Zeiten und Orten eröffnet ein breites, aber vernachlässigtes Feld einer empirischen Forschung, in der dem Vergleich und der Verfolgung der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen religiösen und kulturel-len Traditionen besonderes Gewicht beigemessen wird. Dieser Ansatz erfordert aber auch, dass wir nach den Auswirkungen dieser Forschung auf die Sozialtheorie und die Religionsgeschichte fragen. Unser Zugriff wurde dabei durch die folgenden fünf Hypothesen bestimmt:

1) Religiöse Individualisierung ist nicht bloß ein spezifisches Phänomen des modernen Europas, sondern eine nützliche heuristische Kategorie für die Erforschung histori-scher Prozesse in sehr unterschiedlichen religiösen und kulturellen Kontexten, unab-hängig davon, ob sie als Religionen (Islam, Buddhismus), Regionen (West-, Süd- und Ostasien, auch Gebiete in Europa wie die Iberische Halbinsel) und Zeiträume betrach-tet werden. Dies erfordert einen kritischen Umgang mit Übersetzung und Terminolo-gie und stimuliert eine Erweiterung und Überarbeitung der Konzepte durch die Ein-beziehung anderer Erfahrungen und Erzählungen sowie anderer Formen und Wege der Individualisierung (Fuchs 2015). Die Anwendung der religiösen Individualisie-rung als Heuristik zur Interpretation verschiedener kultureller und historischer Kon-texte (unabhängig davon, ob sie von der obigen Matrix inspiriert ist oder nicht) geht von der polemischen Absicht aus, in einer Weise zu suchen, die sich gegen die übli-chen eurozentrisübli-chen und Modernitäts-fixierten Narrative richtet. Indem wir an an-deren Orten andere Arten oder Facetten der religiösen Individualisierung aufdeckten, konnten wir geläufigere Arten von Individualisierungsprozessen kontextualisieren und sensibler miteinander in Beziehung setzen.

2) Diese Prozesse der religiösen Individualisierung sollten weniger als isolierte Phä-nomene verstanden werden, denn als Veränderungen von oder Reaktionen auf reli-giöse Erfahrungen, Traditionen und Diskurse. So bleiben die Kontexte, in denen In-dividualisierungsprozesse Gestalt annehmen, ebenso wie die Praktiken und Ideen, von denen sich bestimmte Akteure distanzieren oder die sie sich anzueignen versu-chen, von Bedeutung. Gleichzeitig eröffnet die Suche nach den Kontexten von Pro-zessen der religiösen Individualisierung den Weg, zusätzliche (religiöse) Optionen und Traditionen sichtbar werden zu lassen. Entsprechend können auch Konstellatio-nen kultureller Verflechtungen als wichtige Auslöser für individualisierende Ent-wicklungspfade in Erscheinung treten. Die Kapitel in Fuchs et al. 2019 zeigen, dass die Erforschung der Geschichte der Individualisierung in vielen Fällen eine Erfor-schung der Geschichte der Zusammenhänge ist, eine ForErfor-schung, die die verschiedenen Wege untersucht, auf denen kulturelle Grenzen überschritten wurden. Unter „Ge-schichte der Zusammenhänge“ verstehen wir eine Untersuchung im Sinne von en-tangled history oder histoire croisée, die die wechselseitigen Wechselwirkungen und Transfers zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten, Regionen, Religionen und Bezugssystemen analysiert. Eine solche Untersuchung beinhaltet einen verstärkten Fokus auf grenzüberschreitende Interaktionen und Austauschvorgänge, in denen verschiedene kulturelle und religiöse Traditionen aufeinander treffen und Ideen und Praktiken, die Individualisierungsprozesse stärken oder auslösen, transferiert wer-den. Neben der Frage, wie bestimmte Institutionen (zum Beispiele Rechte religiöser Gruppen) umgesetzt werden und wie vergessene Praktiken (Einzelbeichte) und Dis-kurse (Prophetie) wiederentdeckt werden, ist die Frage nach möglichen Wechselwir-kungen besonders spannend. Migrationen von Ideen, Praktiken und deren Auswir-kungen schufen komplexe WechselwirAuswir-kungen mit Folgen für die Religion, lange vor den großen Traditionszerfällen innerhalb und außerhalb Europas im 19. und 20. Jahr-hundert. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, können die von unserer Forschungs-gruppe gewonnenen Erkenntnisse genutzt werden, um die vertikale oder zeitliche Tiefen-Dimension dieser Transformationsprozesse zu verfolgen. In der Gegenwart und für die Zukunft ist die immer stärkere Interaktion und Vernetzung zwischen kul-turellen Traditionen und Trends unterschiedlicher Herkunft inmitten intensiver und divergierender Globalisierungsprozesse auffällig.

3) Da viele Prozesse der religiösen Individualisierung eng mit der Bildung von Insti-tutionen, der Traditionalisierung und der Konventionalisierung verbunden sind, müssen die Wechselwirkungen zwischen diesen Prozessen systematisch untersucht werden. Solche Institutionalisierungsprozesse können (müssen aber nicht unbe-dingt) den paradoxen Effekt haben, dass sie den Individualisierungsgrad wieder ein-schränken. Individualisierung und Deindividualisierung sind in vielen Fällen mitein-ander verflochten. Der institutionelle Schutz einzelner Praktiken schafft gleichzeitig ein Bewusstsein für die Möglichkeiten von Heteropraxie oder Heterodoxie und die In-strumente, diesen durch Standardisierung entgegenzuwirken. Solche gegenseitigen

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Reaktionen können dann die Macht des Dissens, aber auch die entschiedene Ableh-nung von Alternativen noch einmal erhöhen. So können auch Prozesse wie die Schaf-fung von Kanons, Traditionen oder Formen des Fundamentalismus im Licht und im Kontext von Individualisierungsprozessen lohnend revidiert werden (Rüpke 2018c), wenn man die damit verbundenen Mehrdeutigkeiten im Auge behält. Religiöse Indi-vidualisierung – sofern sie nicht als Einbahnstraße zur Modernisierung verstanden wird – bezeichnet daher kontingente Prozesse des persönlichen religiösen Experi-mentierens und der kulturellen oder sozialen Grundlagen solchen ExperiExperi-mentierens und ihrer jeweiligen Artikulationen. Die Grenzüberschreitungen und Rückkopp-lungsschleifen sind Prozesse, die sowohl den einzelnen Handlungen als auch der Bil-dung von Gemeinschaften oder der Standardisierung auf institutioneller Ebene inne-wohnen. Darüber hinaus wird die Deindividualisierung nicht nur den Einzelnen ein-schränken, sondern kann auch Freiräume für neue Formen der Individualisierung schaffen. Genau aus diesem Grund strukturieren Begriffe wie „Selbst“, „Individualis-mus“ oder „religiöse Genies“ unsere Arbeit nicht. Stattdessen wurden Formulierun-gen wie „Transcending Selves“, „The Dividual Self“, „Conventions and Contentions“

und „Authorities“ als Organisationsprinzipien etwa unseres Abschlussbandes ge-wählt.

4) Die soeben skizzierten Perspektiven ermöglichen die Entwicklung einer alternati-ven oder gar komplementären Erzählung zu der oben genannten Meistererzählung der „modernen westlichen Individualisierung“. Hier kommt das Konzept der dividu-ality ins Spiel, nicht nur im Hinblick auf die „nicht-westlichen“ Perspektiven, son-dern auch durch den Vergleich der vielfältigen westlichen und nicht-westlichen Mo-dernitäten. Verschiedene Autoren mit anthropologischem Hintergrund, wie Edward LiPuma (1998; 2001) und Alfred Gell (1999; 2013), aber auch Charles Taylor, der Phi-losoph des modernen Selbst (Taylor 1989, 2007), haben begonnen, (zwei) verschie-dene, nebeneinander existierende Dimensionen der Persönlichkeit herauszuarbei-ten, die über Zeiten und Räume, auch im modernen Wesherauszuarbei-ten, auffindbar sind. Von diesen ist der eine individueller und der andere „dividueller“. Die veränderte Per-spektive, das das Konzept der Dividualität, der Teilbarkeit der Person, hat sich gerade in unseren jüngsten Arbeiten niedergeschlagen (Fuchs et al. 2019). Individualität wird einerseits als dynamische Grundlage der menschlichen Sozialität und Individu-alität und andererseits als gelebte soziale ReIndividu-alität und konkrete soziale Praxis in be-stimmten Gesellschaften und sozialen Kontexten verfolgt. Vor allem die sozialhisto-rische Perspektive trägt dazu bei, verborgene Geschichten der „Dividualisierung“

aufzudecken, die mit der Individualisierung als Ergänzung einhergehen und para-doxerweise oft individuelle und sehr profilierte Standpunkte durch Strategien der Di-vidualisierung ermöglicht haben (etwa in Form von literarischen Praktiken, wie das Spiel mit verschiedenen Pseudonymen, die von einem einzelnen Autor verwendet werden, oder der Gegensatz zwischen Autor und Privatperson).

5) In der Theoriegeschichte hat das Konzept der Individualisierung meist als euro-zentrische Strategie der Ausgrenzung gedient. Ebenso hat der Begriff der Religion das

Kollektiv oft in einen absoluten Wert verwandelt, der vor allem den vormodernen oder nicht-westlichen Gebieten zugeschrieben wird. Ausgehend von den Ergebnissen der KFG und durch die Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte wurde ein Religionskonzept entwickelt, das es ermöglicht, die Geschichte der Religionswissen-schaft im Kontext historischer Prozesse der Individualisierung und Vernetzung zu re-konstruieren und gleichzeitig die Fallstricke des Eurozentrismus zu vermeiden. Mit diesen theoretischen Überlegungen (Fuchs 2015; Rüpke 2015c; Otto 2017; Albrecht et al. 2018), neuen großformatigen Erzählungen (wie Joas 2012; Rüpke 2016d) und der im vorliegenden Band gesammelten Arbeit streben wir nicht weniger als eine Neude-finition des Religionsbegriffs an, indem wir die vorherrschende Sichtweise, die Reli-gion im Kollektiv, im Institutionellen und im Standardisierten lokalisiert, in Frage stellen.

Diese vorherrschenden Annahmen über Religion haben die Wahl von Forschungsge-genständen beeinflusst, indem sie bestimmt haben, welche Themen analytische Auf-merksamkeit erhalten und welche Gruppierungen, Verhaltensweisen oder Überzeu-gungen es verdienen, als „Religion“ bezeichnet zu werden. Sie haben auch einen ent-scheidenden Einfluss auf die Darstellung der Religion in anderen Disziplinen ausge-übt. Unsere Hypothese, die auf unseren bisherigen und den in Fuchs et al. 2019 dar-gelegten Erkenntnissen beruht, ist, dass eine neue Auffassung von Religion erforder-lich ist, eine Auffassung, die eine intrinsische und wechselseitige Beziehung zwi-schen dem Einzelnen und dem Sozialen beinhaltet – vermittelt durch Zusammen-hänge und Prozesse der Individualisierung und Deindividualisierung). Mit dem Kon-zept der religiösen Individualisierung als analytischem Ausgangspunkt einer sowohl Kontingenz- als auch Kontext-sensiblen Untersuchung ist es möglich, die Religions-wissenschaft auf eine Perspektive auszurichten, die Prozesse der Individualisierung und Verstrickung systematisch einbezieht. Individuen handeln religiös, wenn sie mit zumindest situationsbedingt verfügbaren nicht-menschlichen Adressaten (unabhän-gig davon, ob diese innerhalb oder außerhalb dieses Kontextes angesiedelt sind) kommunizieren, denen Agency zuschreiben, und sie machen solche Handlungen sich selbst wie ihrem Umfeld plausibel, indem sie sich routinemäßig und strategisch traditionelle Semantiken aneignen. Folglich beinhaltet religiöses Handeln die Zu-schreibung von Agency an Sponsoren solchen Handelns oder an das Publikum, um-fasst Prozesse der Gruppenbildung wie Wettbewerb und Distinktion. Religion sollte daher analysiert und beschrieben werden als gelebte und stets neu entstehende Reli-gion, religion in the making.