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Obwohl von unterschiedlichen Seiten und mit unterschiedlichen Maßnahmen versucht wird, das Arbeitskräfteangebot auf dem indischen Arbeitsmarkt quantitativ und qualitativ zu verbessern und so die Folgen des Arbeitskräftemangels für die Unternehmen zu mildern, besteht dieser ge-genwärtig – und voraussichtlich auch in näherer Zukunft – fort. Und so stehen die Unternehmen vor der Aufgabe, mit dem indischen Arbeitsmarkt umzugehen, sich also organisatorisch auf stei-gende Gehälter und weiterhin hohe Fluktuationsraten einzustellen.

In der Literatur werden verschiedene organisatorische und strategische Maßnahmen diskutiert, mit denen IT-Unternehmen in Indien versuchen, dieser Herausforderung zu begegnen, und die zeigen, wie weitreichend die Situation auf dem Arbeitsmarkt die Form der Arbeitsorganisation am indischen Standort beeinflußt.

Zum stetigen Anstieg der Löhne tragen die IT-Unternehmen dabei selber durch ihre Praxis, erfahrene und gut qualifizierte Beschäftigte von Konkurrenten abzuwerben, bei. Auch wenn seit Jahren öffentlichwirksam sogen. „Anti-Poaching Agreements“ (Abkommen gegen das gegenseitige Abwerben von Beschäftigten) zwischen Unternehmen geschlossen werden, geht diese Praxis wei-ter, und das Abwerben von Beschäftigten funktioniert zumeist über das Anbieten von Gehaltsstei-gerungen beim Firmenwechsel. Die von Managern in Indien häufig zu hörende Klage, Beschäftigte würden schon „for a few Rupees“ die Firma wechseln, ist daher zu einem nicht unerheblichen Teil auch ein selbst gemachtes Problem der Industrie.

Demnach laufen die Maßnahmen, die von IT-Unternehmen gegen die rasanten Lohnsteigerun-gen ergriffen werden, vorwieLohnsteigerun-gend darauf hinaus, die Produktivität der Beschäftigten zu steigern und somit die steigenden Lohnkosten auszugleichen.

Ein Mittel dazu kann sein, für bestimmte Aufgaben, die keine tiefe IT-spezifische Ausbildung erfordern, zunehmend auf weniger qualifizierte Beschäftigte zurückzugreifen, die entsprechend weniger umkämpft sind und daher weniger hohe Gehaltsforderungen stellen können (Athreye 2005a). Dies bedeutet, dass IT-Unternehmen bei der Rekrutierung zunehmend auch Beschäftigte mit nicht IT-spezifischer Ausbildung berücksichtigen. Schon lange sind in Indien alle Arten von

„Engineering“-Absolventen die primäre Zielgruppe bei der Rekrutierung durch IT-Unternehmen (vgl. Upadhya und Vasavi 2006; Ilavarasan 2007; Athreye 2005a; Abraham und Sharma 2005)9. Da diese aber entsprechend stark umkämpft sind, versuchen einige Unternehmen, mithilfe einer Art „Babbage-Prinzip“10, Tätigkeiten, die keine tiefere IT-spezifische Ausbildung erfordern, zu-nehmend durch Absolventen anderer Studienfächer erledigen zu lassen (Athreye 2005b). Die Ab-solventen werden zu diesem Zweck mithilfe betriebsinterner Trainingsmaßnahmen entsprechend geschult (vgl. auch Arora u. a. 2001). Gerade die großen indischen IT-Dienstleister haben in den letzten Jahrzehnten beachtliche betriebliche Trainingseinrichtungen geschaffen, in denen neu re-krutierte Beschäftigte gemäß der betrieblichen Bedürfnisse aus- und weitergebildet werden.

9Genau genommen handelt es sich schon beim Großteil der Engineers auf dem indischen Arbeitsmarkt um IT-ferne Arbeitskräfte. Denn Studierende des civil- oder mechanical-engineering (Bauingenieurwesen bzw. Maschinenbau) studieren auch kein IT-spezifisches Fach. Dass dennoch generell Absolventen aller Engineering-Studiengängen in In-dien zur Kerngruppe der IT-Fachkräfte gezählt werden, liegt daran, dass angenommen wird, dass Studierende dieser Fachrichtungen wichtige Sekundärqualifikationen mitbringen (z.B. technisches Verständnis, logisches Denken), die sie für eine Beschäftigung in der IT-Industrie grundsätzlich geeignet machen.

10„Das Babbage-Prinzip (nach Charles Babbage) besagt, dass die Aufspaltung eines Arbeitsprozesses in unterschiedlich anspruchsvolle Teilprozesse die Lohnkosten für die Produktion senkt. Babbage formulierte dieses Prinzip erstmals in seinem 1832 in London erschienenen Werk On the Economy of Machinery and Manufactures.[...]Voraussetzung ist die unterschiedliche Entlohnung unterschiedlich anspruchsvoller Arbeit (bzgl. Qualifikation, Anstrengung etc.)“

(Wikipedia 2010a).

Von steigender Bedeutung ist in dieser Hinsicht aber auch der private Trainingsbereich, also jene Unternehmen und Bildungsinstitutionen, die Weiterbildungsmöglichkeiten für Absolventen ande-rer Studienfächer anbieten und diesen einen IT-fähigen Abschluß, in Form von speziellen Diplo-men, verleihen. Grundsätzlich werden diese Arbeitskräfte vom Qualifikationsniveau her nicht so hoch geschätzt wie die Enginnering-Absolventen, doch für bestimmte Aufgaben lassen sich auch diese Beschäftigten im Unternehmen einsetzen. Dies schafft die Voraussetzung dafür, die höher qualifizierten Beschäftigten ausschließlich jene Aufgaben bearbeiten zu lassen, für die ihre Qualifi-kation unbedingt nötig ist (Arora u. a. 2001; Athreye 2005a). So ziehen die neuen Rekrutierungs-strategien gleichzeitig neue Formen der Arbeitsteilung und Spezialisierung im Arbeitsprozess nach sich.

Ein anderes Mittel, die Kostensteigerungen durch steigende Löhne auszugleichen, ist die Steige-rung der Produktivität der Arbeitsprozesse selbst. So führt z.B. Prasad 1998 das seit 1993 in der indischen IT-Industrie grassierende „ISO-Fever“11 wesentlich auf den Arbeitskräftemangel der in-dischen IT-Industrie in den Boomjahren der 1990er zurück. Diese Prozessmodelle – so war die Er-wartung – sollten die Effizienz der Arbeitsprozesse steigern und somit den Personalbedarf reduzie-ren (ebd., S. 446). In die gleiche Richtung geht auch die zunehmende Nutzung von Software-Tools (Athreye 2005a, S. 34). Diese können einerseits helfen, Arbeitsprozesse durch computergestützte Prozeduren zu effektivieren, andererseits bieten sie ein Automatisierungspotential (wie z.B. bei automatisierten Testverfahren), welches den Bedarf an Arbeitskraft in der Produktion zusätzlich reduziert.

Doch die Einführung der standardisierten Prozessmodelle bietet nicht nur die Möglichkeit, den Personalbedarf zu reduzieren und so Lohnkosten zu sparen, sie bilden auch den zentralen Me-chanismus, mit dem einige Unternehmen in Indien versuchen, mit den Folgen der hohen Perso-nalfluktuation umzugehen. Dabei kann zwischen zwei grundsätzlichen Strategierichtungen unter-schieden werden, die sich keineswegs immer gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr teilweise gut ergänzen können (vgl. auch Mayer-Ahuja und Feuerstein 2008).

Die Einführung standardisierter Prozessmodelle bildet dabei den zentralen Kern der einen Stra-tegie, die darauf abzielt, die Arbeitsprozesse gegen hohe Fluktuationsraten möglichst weitgehend zu immunisieren, indem die Arbeitsprozesse möglichst unabhängig von den beteiligten Perso-nen gemacht werden sollen. Denn mit den Prozessmodellen einher gehen Bemühungen, das Aus-maß der Dokumentation der Arbeitsschritte zu erhöhen und den Arbeitsprozess zunehmend eng und detailliert zu überwachen. Die negativen Folgen einer Kündigung für die Unternehmen (in Form des Verlusts von individuellem und Erfahrungswissen der Beschäftigten) sollen so möglichst gering gehalten werden (Athreye 2005b, Arora u. a. 2001, Prasad 1998). Hier wird der Arbeits-kräftemangel also zu einem eigenständigen Motiv für die Industrialisierungsbemühungen der IT-Unternehmen in Indien: in der Absicht, das IT-Unternehmen und die laufenden Projekte gegen die hohen Fluktuationsraten zu immunisieren, treiben Unternehmen die Standardisierung und For-malisierung ihrer Arbeitsprozesse voran.

Doch selbst wenn die Abhängigkeit von einzelnen Beschäftigten durch formalisierte und stan-dardisierte Prozessmodelle reduziert werden kann – gänzlich abgeschafft werden kann sie nicht (vgl. zu einer ähnlichen Einschätzung Arora u. a. 2001). Gerade in höheren Managementpositio-nen und bestimmten technischen Spezialisierungsrichtungen bestehen Abhängigkeiten in hohem

11Gemeint ist die Zunahme der Aufmerksamkeit, die der Qualitätssicherung bei Softwareentwicklung in Form von standardisierten Prozessmodellen und Evaluationen geschenkt wird. Dies beinhaltete zunächst vor allem eine Zer-tifizierung nach dem ISO-Standard 9001, später gesellten sich weitere ZerZer-tifizierungen wie CMMI oder auch Six Sigma dazu.

Maße fort und Unternehmen sind weiter von Fluktuation bedroht. Demnach findet sich neben dem Versuch, die Arbeitsprozesse gegen Fluktuation zu immunisieren, auch eine Strategie, die darauf abzielt, Fluktuation zureduzieren.

Diese Strategie besteht in der Gewährung besonderer Anreize – nicht nur finanzieller Natur – für die Beschäftigten, in der Firma zu bleiben.

Dazu zählen zunächst finanzielle Anreize, wie z.B. stark ansteigende Gehälter in Abhängigkeit von Betriebszugehörigkeit, Sonderzulagen oder Aktienateile am Unternehmen (Arora u. a. 2001).

Darüberhinaus ist allerdings auch die Eröffnung attraktiver Karrierewege im Unternehmen ein wesentlicher Anreiz für die Beschäftigten, im Unternehmen zu bleiben (Athreye 2005a, Arora u. a. 2001). Der Nachteil ist, dass schnelle Beförderungen und steile Karrieren in der Folge von den Beschäftigten geradezu „erwartet“ werden und sie bei Ausbleiben einer Beförderung die Firma auch verlassen. Dadurch werden die Firmen förmlich gezwungen, regelmäßig und in teilweise sehr kurzen Zeitabständen zu befördern (vgl. ebd., Upadhya und Vasavi 2006, Abraham und Sharma 2005). In den multinationalen Unternehmen, gerade auch im deutschen Unternehmen des Unter-suchungssamples dieser Studie, stößt diese Form der Beförderungen auf gänzlich andere Praktiken aus den Heimregionen der Unternehmen und wird von diesen Unternehmen daher nur langsam adaptiert (vgl. auch Arora u. a. 2001).

Der letzte Anreiz, der an dieser Stelle hervorgehoben werden soll, besteht letztendlich auch im Angebot interessanter Arbeit. Lacity, Rudramuniyaiah und Iyer (2008) zeigen in ihrer Studie zu den Fluktuationsraten in der indischen IT-Industrie, dass die Suche nach einer befriedigenden Tä-tigkeit ein ganz wesentlicher Faktor bei der Entscheidung der Beschäftigten ist, ein Unternehmen zu verlassen oder in einem zu verweilen. Dies betrifft zum einen natürlich die Art der Tätigkeiten, welche die Beschäftigten in Indien ausführen sollen. Gerade im Zusammenhang mit verlagerten Tätigkeiten und Kooperationen in transnatioalen Projektteams bildet zum anderen aber auch die Möglichkeit, am Standort des Kunden oder des Mutterhauses arbeiten zu können, eine arbeitsin-haltliche Herausforderung und damit einen guten Anreiz für die Beschäftigten, länger im Unter-nehmen zu bleiben (vgl. auch Arora u. a. 2001).

Es wurde oben argumentiert, dass sich die beiden Strategierichtungen des Umgangs mit Fluk-tuation – Immunisierung und Reduzierung – nicht notwendigerweise widersprechen, sondern sich teilweise auch ergänzen können. So kann ein stark standardisierter Arbeitsprozess, der die Abhän-gigkeit von den einzelnen Beschäftigten stark reduziert, durchaus mit einem finanziellen Anreiz-system koexistieren, das ein längeres Verweilen der Beschäftigten im Betrieb durch in Abhängigkeit von der Betriebszugehörigkeit stark steigende Gehälter fördern soll. Gerade an der Gewährung interessanter Arbeit zeigen sich jedoch auch die Grenzen der Vereinbarkeit beider Strategierich-tungen. So resultiert die Standardisierung und Formalisierung der Arbeitsprozesse im Zuge der Immunisierung gegen Fluktuation ja gerade darin, die Arbeitsaufgaben zu verkleinern und inter-personell austausch- und wiederholbar zu machen, was häufig mit der Reduzierung der Attrakti-vität der Arbeitsaufgaben einhergeht. An dieser Stelle besteht also ein Widerspruch zwischen den beiden Strategierichtungen, und Unternehmen können unterschiedliche Entscheidungen treffen.

Die verschiedenen Ansatzpunkte, mit den hohen Gehaltssteigerungen und Fluktuationsraten am indischen Standort organisatorisch umzugehen, begründen somit ein weites Spektrum mögli-cher betrieblimögli-cher Strategien. Dementsprechend kann aus der Situation auf dem Arbeitsmarkt auch keine gleichförmige Wirkung auf die Formen der betrieblichen Arbeitsorganisation und -kontrolle abgeleitet werden. Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass Unternehmen in unterschiedlicher Weise versuchen können, mit den strukturellen Herausforderungen des indischen Arbeitsmarktes organisatorisch umzugehen.

Wie sich bei den im Rahmen dieser Studie untersuchten IT-Unternehmen noch genauer zeigen wird, sind es die unterschiedlichen Geschäfts- und Verlagerungsmodelle der Unternehmen, die einen wesentlichen Einfluß darauf haben, wie stark die Unternehmen von den Eigenheiten des indischen Arbeitsmarktes betroffen sind, und wie sie sich in Bezug auf diese Herausforderungen verhalten und welcher Strategie des Umgangs sie dabei folgen. Es wird sich zeigen lassen, dass sich in Abhängigkeit von den zugrundliegenden Verlagerungsmodellen ganz unterschiedliche Formen herausbilden, mit dem indischen Arbeitsmarkt umzugehen, und dass der indische Arbeitsmarkt, auf dem beide Unternehmen gleichermaßen operieren, damit unterschiedliche organisatorische Umgangsformen zulässt.

betrieblicher Arbeitsprozesskontrolle

Die zentrale Hypothese dieser Studie besagt, dass sich in der IT-Industrie im Zuge ihrer Inter-nationalisierung weniger eindeutige und gleichförmige Industrialisierungstendenzen als vielmehr unterschiedliche Reorganisationsmodi identifizieren lassen, die auf der einen Seite von unterschied-lichen Internationalisierungswegen und auf der anderen Seite von den Arbeitsmarktbedingungen der Offshore-Standorte geprägt sind. Untersucht werden sollen die unterschiedlichen Reorganisa-tionsmodi in ihrem Einfluß auf die in ihnen jeweils enthaltene Form der Kontrolle von Arbeit.

In den vorausgehenden Kapiteln wurden die beiden in dieser Studie berücksichtigten Interna-tionalisierungswege (Offshore-Outsourcing und Captive-Offshoring), sowie die besonderen Ar-beitsmarktbedingungen des indischen IT-Standortes, näher erläutert. Das folgende Kapitel wird nun bestimmen, mit welchem Analysekonzept und in welchen Dimensionen die Unterschiede der betrieblichen Kontrolle zwischen den beiden Untersuchungsfällen untersucht werden sollen.

Als Anforderung an das gesuchte Analysekonzept lassen sich zwei zentrale Aspekte formulieren:

– Das Analysekonzept muss erstens in der Lage sein, die Veränderungen in der Form der be-trieblichen Kontrolle im Zuge der Industrialisierung von IT-Arbeit angemessen fassen zu können.

– Darüber hinaus muss es das Analyskonzept zweitens ermöglichen, die erwarteten unter-schiedlichen Reorganisationsmodi als unterschiedliche Ausprägungen und Mischungsverhält-nisse derselben Dimensionen von Arbeitskontrolle zu fassen und zu interpretieren.

Wie in den folgenden Unterkapiteln argumentiert werden soll, bietet ein von Andrew Friedman (1977) in der „Labour Process Debate“ vorgeschlagenes Konzept zur Untersuchung betrieblicher Formen von Arbeitskontrolle genau diese Möglichkeiten und wird daher den folgenden Ausfüh-rungen zugrunde gelegt.

4.1 IT-Industrialisierung: ein grundlegender Strategiewechsel

Wie bereits in der Einleitung angedeutet, kann die von den Vertretern der Industrialisierungsthese erwartete Industrialisierung von IT-Arbeit im Zuge ihrer zunehmenden Internationalisierung als einwesentlicher Umbruch in der Form der Kontrolle von IT-Arbeitgefasst werden.

Einen gewinnbringenden Zugang zu dem damit angerissenen Problemkomplex betrieblicher Formen der Kontrolle von Arbeit bietet nach wie vor das von Braverman (1980) unter Bezug auf Marx als Auftakt der „Labour Process Debate“ herausgearbeiteteTransformationsproblem1.

1Die „Labour Process Debate“ entfaltete anfänglich vor allem im angelsächsischen Raum Wirkung. Mittlerweile haben aber die zentralen Einsichten dieser Debatte auch Eingang in weitere Bereiche und auch in die deutsche Debatte gefunden, so dass das Transformationsproblem mittlerweile quasi arbeitssoziologisches Lehrbuchwissen darstellt (vgl. auch Deutschmann 2002).

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Mit dem Transformationsproblem wird ein Grundproblem des kapitalistischen Arbeitsprozes-ses angesprochen: Wenn Unternehmen Arbeitskräfte rekrutieren und einstellen, ist keineswegs sichergestellt, dass deren Gebrauchswert – die von den Beschäftigten zu leistende lebendige Arbeit – durch das Unternehmen in der gewünschten Intensität und Qualität auch genutzt werden kann.

Das Unternehmen kauft Arbeitskraft, die Arbeit ist zu diesem Zeitpunkt noch reine Potentiali-tät, das Unternehmen muss die Beschäftigten wirklich arbeiten lassen, um den Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft zu nutzen. Dabei obliegt die Form der Nutzung der gekauften Ware dem Unter-nehmen, d.h. es wird versuchen, den Gebrauchswert, den es aus der gekauften Ware ziehen kann, zu maximieren. Konkret heißt das, die Arbeit der Beschäftigten in quantitativer (Arbeitszeit) und qualitativer Hinsicht (Arbeitsintensität), so weit wie möglich über den Punkt hinaus zu verlän-gern, an dem der Arbeitende das Äquivalent seiner eigenen Reproduktionskosten geschaffen hat.

Dies tut das Unternehmen, indem es die Umstände der Produktion, die seiner Verfügung unterlie-gen, v.a.technisch-organisatorischzu beeinflussen versucht (vgl. u.a. Braverman 1980; Deutschmann 2002; Thompson 1989; Voß und Pongratz 1998). Dem Management erwächst aus diesem Grund-sachverhalt kapitalistischer Arbeit ein generellerKontrollimperativ(vgl. Thompson 1989), d.h. auf die eine oder andere Weise muss das Management die Transformation von Arbeitskraft in lebendi-ge Arbeit bewerkstellilebendi-gen.

Entgegen der Annahme Bravermans wird heute davon ausgegangen, dass die Form, in der dieser Kontrollimperativ vom jeweiligen Management konkret umgesetzt wird, keinesfalls determiniert ist2, sondern dass sich in verschiedenen Branchen – mit verschiedenen Arten von Arbeit – und sogar innerhalb ein und desselben Unternehmens unterschiedliche Formen der Arbeitskontrolle identifizieren lassen.

Die IT-Industrie mit ihren kreativen und wissensbasierten Tätigkeiten, stand dabei in den letz-ten Jahren im Zentrum der Debatte über „neue Formen“ von Arbeit, die (je nach Autor) im Über-gang der Industriegesellschaft zur Wissens- oder Informationsgesellschaft an Bedeutung gewinnen.

Kennzeichen dieser neuen Art von Arbeit sei die Abkehr von Formen technisch-bürokratischer Kontrolle des Arbeitsprozesses, die als überkommene Formen des tayloristisch-fordistischen In-dustriezeitalters angesehen wurden. IT-Arbeit hingegen – so wurde generell konstatiert – bedürfe spezieller, wesentlich anderer Kontrollformen (u.a. Töpsch, Menez und Malanowski 2001; Hei-denreich und Töpsch 1998; Voß und Pongratz 1998; Willke 1998).

Aufgrund der „Stofflichkeit“ der Arbeit, ihres kreativen und innovativen Charakters, sei es für Manager von IT.Arbeit wesentlich schwerer, klar definierte Arbeitspakete zu schneiden, die in der Folge dann eng überwacht abgearbeitet werden könnten. Vielmehr zeichneten sich Aufgaben in der IT-Industrie durch eine hohe Komplexität und damit einhergehend hohe qualifikatorische An-forderungen aus. Probleme und Schwierigkeiten der Aufgabenbewältigung zeichneten sich meist erst im Verlauf ab, Lösungen könnten daher schwerlich im voraus verbindlich bereitgestellt wer-den. Daher – so wurde argumentiert – seien die Beschäftigten gefordert, auf solche Probleme mög-lichst eigenverantwortlich und schnell zu reagieren und selbständig eine entsprechende Lösung zu finden (vgl. Voß und Pongratz 1998).

Solch gewünschtes Verhalten muss organisatorisch unterstützt werden, da angenommen wurde, dass eine „herkömmliche, auf Funktionsspezialisierung und Aufgabenteilung, Kompetenzabgren-zung und Einzelentscheidung beruhende hierarchische Organisationsform[...]für komplexe

Auf-2Braverman ging zu Beginn der Labour Process Debate noch von einem quasi naturwüchsigen Zusammenhang zwi-schen kapitalistischem Arbeitsprozess und tayloristischer Form der Arbeitskontrolle aus. Im Laufe der Debatte wurde gerade dieser Zusammenhang zunehmend kritisiert und durch eine differenziertere Konzeption ersetzt (für einen guten Überblick, siehe Thompson 1989).

gabenstellungen und Entscheidungsmaterien immer weniger geeignet“ sei (Kalkowski und Mickler 2009, S.9). Als dominante Organisationsform habe sich daher bei IT-Firmen3die Form von Pro-jektteams durchgesetzt, böten diese doch „grundsätzlich flache Hierarchien und ein[en]locker[en]

Umgangston auch mit Vorgesetzten, Ganzheitlichkeit, kollegiale Zusammenarbeit jenseits büro-kratischer Vorschriften, Autonomie sowie Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten“ (ebd., S.11).

Die organisatorische Form des Projektes unterstütze damit teamförmiges Arbeiten und gewähre den Beschäftigten hohe Selbstorganisationsmöglichkeiten, um komplexe Probleme zu bearbeiten.

Kurzum, die Kontrolle von IT-Arbeit wurde in der arbeitssoziologischen Forschung geradezu als Prototyp für Formen „indirekter“ Kontrolle angesehen. Daran änderten auch vereinzelte Studien nichts, die das Fortbestehen von direkter Kontrolle auch bei IT-Arbeit demonstrierten (vgl. z.B.

Kraft und Dubnoff 1986; Kraft 1979; Barrett 2005; Prasad 1998; Friedman 1990a; Friedman 1992;

Mayer-Ahuja und Wolf 2005).

Mit dem Einsetzen der räumlichen Verlagerung von IT-Arbeit scheint sich nun die Realität in der IT-Industrie stark zu verändern. Das zugrundliegende Transformationsproblem wird im Zuge der Internationalisierung, so die Erwartung vieler Autoren, im Sinne einer Industrialisierung von IT-Arbeit zu lösen versucht – es finde also ein grundsätzlich anderer technisch-organisatorischer Zugriff auf die Arbeitsleistung der Beschäftigten statt.

So wird erwartet, dass die vormals ganzheitlichen Aufgabenprofile der Entwickler zugunsten stärker (global) arbeitsteiliger Profile ersetzt würden. Die Folge seien Tätigkeitsprofile für Entwick-ler, deren Arbeitsaufgaben einerseits kürzer terminiert und andererseits auch weniger komplex sind, da sie engere und inhaltlich stärker auf Teilfunktionen spezialisiert seien. Mit dieser Frag-mentierung der Tätigkeitsprofile und der Arbeitsaufgaben gehe dann in der Folge auch eine stär-kere Durchdringung der Arbeitsprozesse mithilfe von zentralen Informationssystemen einher, die eine detailliertere Messung der Arbeitsleistung der Beschäftigten und ein engeres Monitoring der Arbeitsabläufe ermögliche (Kämpf 2008, S.27ff.). Dadurch würden die Beschäftigten einer detail-lierteren und stärker formalisierten Form der Kontrolle unterworfen. Die aus anderen Branchen bekannte bürokratische Beherrschung des Arbeitsprozesses in Form von standardisierten Prozess-modellen mit genau definierten Schritten der Bearbeitung halte demnach auch zunehmend bei Arbeit Einzug. Schließlich werde damit auch die traditionelle Beschäftigungssicherheit von IT-Beschäftigten untergraben, indem die Arbeitsprozesse durch die fortschreitende Standardisierung und Formalisierung von den einzelnen Beschäftigten unabhängiger und die Beschäftigten damit auch leichter ersetzbar würden. Damit verändere sich die Verhandlungsgrundlage zwischen Be-schäftigten und Management, weil die neue Ersetzbarkeit vom Management genutzt werden kann, um Zugeständnisse bei den Beschäftigungsverhältnissen durchzusetzen.

Der von den Vertretern der Industrialisierungsthese behauptete Wandel im organisatorisch-technischen Zugriff auf die Arbeitsleistung der Beschäftigten (vgl. Voß und Pongratz 1998, S.137) verläuft damit genau entlang jener Achse, deren Pole Friedman (1977) in seiner – inzwischen als klassisch zu bezeichnenden – Konzeption als die beiden Strategietypen der „direkten Kontrolle“

und der „verantwortlichen Autonomie“ bezeichnet hat.

3Natürlich betrifft dieser Trend nicht nur die IT-Industrie, doch wurde die IT-Industrie stets als Trendsetter dieser Entwicklung angesehen, an deren Erfahrungen sich auch andere Branchen orientieren würden.