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Im Zeichen des Antifaschismus (1933–1939)

Im Dokument Eva Oberloskamp Fremde neue Welten (Seite 123-139)

Nicht allein unter Linksintellektuellen, sondern auch auf der Bühne der internati-onalen Politik stieg das Ansehen der Sowjetunion seit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler deutlich: 1933 nahmen die USA und die Sowjetunion diplomatische Beziehungen auf, 1934 trat die UdSSR dem Völkerbund bei. Eine weitere An-nährung des „neuen Russland“ an die westlichen Demokratien stellte das Bündnis-abkommen zwischen Frankreich und der UdSSR von 1935 dar208. Gleichzeitig waren in der Sowjetunion nach der „Vollendung“ der Kollektivierung Anzeichen einer Entschärfung des innenpolitischen Kurses zu erkennen.

In dieser Phase feierte der internationale UdSSR-Tourismus seinen Durchbruch, die Zahl der ausländischen Gäste in der Sowjetunion nahm deutlich zu und er-reichte 1936 mit 20 000 Buchungen bei Intourist ihren Höhepunkt209. Zu den Reisenden gehörten auch viele Franzosen, und die Zahl der in Monographieform publizierten französischen Reiseberichte über die Sowjetunion stieg bis zum Jahr 1936 kontinuierlich an210. Indessen gingen die deutschen Sowjetunionreisen nach 1933 zurück. Von Deutschland aus bestanden zwar weiterhin Reiseverbindungen und Pauschalreiseangebote, doch es war nur unter erheblich erschwerten Bedin-gungen möglich, diese zu nutzen211. Die Publikation von Reiseberichten, die nicht eindeutig der nationalsozialistischen Propaganda entsprachen, wurde nach 1933 im Inland nahezu unmöglich212. So gut wie alle in dieser Arbeit behandelten deutschsprachigen Autoren freilich waren ohnehin nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler emigriert; die meisten gingen zunächst nach Paris oder auch in die Tschechoslowakei und mit Ausbruch des Krieges dann in die USA oder nach Mexiko. Auch vom Ausland aus war eine Sowjetunionreise für Deutsche zumeist nur unter Inkaufnahme erheblicher Widrigkeiten zu realisieren: Neben materiel-len Schwierigkeiten und Passproblemen sind die Gründe hierfür in einer Kompli-zierung der Anreisewege zu sehen, denn für die Emigranten kam ein Transit durch Hitlerdeutschland nicht in Frage. Ebenso hatte die Publikation von deutschspra-chigen Reiseberichten im Ausland wenig Aussicht auf Erfolg, denn es fanden sich nur selten Verlage hierfür, war doch der potentielle Absatz gering. All diese

Fak-208 Vgl. hierzu Soutou: Les relations franco-soviétiques.

209 Vgl. Heeke: Reisen zu den Sowjets, S. 21.

210 Vgl. das Diagramm auf S. 189.

211 Vgl. Heeke: Reisen zu den Sowjets, S. 19–21; Dücker: Reisen in die UdSSR.

212 Laut Heeke konnten innerhalb Deutschlands zwischen 1933 und 1941 insges. nur noch drei Reiseberichte publiziert werden, denen eine Reise während oder nach der Machtergreifung zugrunde lag und die nicht im unmittelbaren Dunstkreis einer scharf antisowjetischen, völ-kisch-nationalsozialistischen Verleger- und Autorenschaft anzusiedeln sind. Vgl. Heeke: Rei-sen zu den Sowjets, S. 20. Es handelt sich um folgende Bücher: Kramer: Das rote Imperium;

Allerhand: Rußland aus der Nähe; sowie Pörzgen: Ein Land ohne Gott.

toren erklären den deutlichen Unterschied in der Anzahl deutscher und französi-scher Linksintellektueller, die in dieser Arbeit für den Zeitraum 1933 bis 1939 be-rücksichtigt werden.

Die erste unter den behandelten Personen, die in der Phase von 1933 bis zum Kriegsausbruch die Sowjetunion besuchten, war Léon Moussinac. Nach seiner ersten Reise im Jahr 1927 kehrte er im Frühjahr 1933 im Auftrag der IVRS nach Moskau zurück. Der Schriftsteller, Journalist und Kinokritiker übernahm dort für etwa ein Jahr die Nachfolge von Aragon213, dessen Stellung als leitender Re-dakteur der Littérature internationale im April 1933 frei wurde214. Moussinacs Frau Jeanne kam ebenfalls in die sowjetische Hauptstadt, um als Übersetzerin bei der französischsprachigen Wochenzeitung Journal de Moscou zu arbeiten. In den Monaten Juli und August des Jahres 1933 folgte Moussinac einer Einladung des sowjetischen Gewerkschaftsbundes zu einer sechswöchigen Rundreise durch die Ukraine: Mehrere Schriftsteller aus verschiedenen Ländern waren aufgefordert, sich ein Bild vom „sozialistischen“ Aufbau in der Ukraine zu verschaffen und dann darüber zu berichten. Gemeinsam mit dem Ungarn Bartha, dem Chinesen Ciao und Letten Laicens besuchte Moussinac so unter anderem die Hauptstadt Char’kov und den Dnepr-Staudamm und ließ sich sowjetische Fabriken, Berg-werke und Kolchosen zeigen. Den Erwartungen der sowjetischen Propagandis-ten vollkommen entsprechend publizierte er noch 1933 das kleine Buch „Je reviens d’Ukraine (Juillet–Août 1933)“ (Bureau d’Editions, Paris). Dieser Sowjet-unionaufenthalt Moussinacs war auch die Grundlage für seine ebenfalls 1933 erschienene Broschüre „Des ouvriers dans leur usine. Les Chantiers de construc-tions navales et mécaniques ‚André Marty‘, à Léningrad“ (Bureau d’Ediconstruc-tions, Paris)215.

Der überaus positive Blick Moussinacs ist angesichts der schrecklichen Situa-tion, der insbesondere die ukrainische Bevölkerung in der ersten Hälfte der 1930er Jahre ausgesetzt war, frappierend: Die Ukraine war von den katastrophalen Fol-gen der Kollektivierung der Landwirtschaft, vor allem von der sich seit 1932 in der Sowjetunion ausbreitenden Hungersnot, am extremsten betroffen. Insgesamt ver-hungerten in der Sowjetunion selbst moderaten Schätzungen zufolge etwa vier bis fünf Millionen Menschen216 – der weitaus größte Teil davon in der Ukraine.

Ähnlich positiv wie bei Moussinac war auch die Haltung von Henri Barbusse, der wenig später, im Juli und August 1933, ein weiteres Mal nach Moskau kam.

Der renommierte französische Autor hatte bereits vom 17. September bis zum 13. Oktober 1932 eine dritte Sowjetunionreise unternommen. Sein Aufenthalt des Jahres 1933 hatte zum Ziel, Dokumentationsmaterial für ein Buch über Stalin zu sammeln. Auch sein fünfter Aufenthalt von September bis November 1934 diente der Vorbereitung seiner Arbeit über den sowjetischen Diktator. Unter dem Titel

„Staline. Un monde nouveau vu à travers un homme“ erschien sie schließlich im März 1935 im Verlag Flammarion (Paris) – nur wenige Monate vor dem Tod des

213 Vgl. Racine: Léon Moussinac.

214 Zur IVRS und zur Littérature internationale vgl. oben S. 56 f.

215 S. auch Moussinac: Le premier mai à Moscou.

216 Vgl. hierzu Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 400 f.

Schriftstellers, der während seiner sechsten Sowjetunionreise am 30. August 1935 in Moskau einem Lungenleiden erlag217.

Mit einem prononciert wissenschaftlichen Interesse besuchte im September und Oktober 1933 der Soziologe Georges Friedmann, zu diesem Zeitpunkt Dozent an der Ecole Normale Supérieure, die Sowjetunion. Nach einem ersten Besuch in den gleichen Monaten des Vorjahres war dies bereits seine zweite Reise in die UdSSR.

Beide Male fuhr er im Auftrag des Cercle de la Russie neuve218, einer 1932 gegrün-deten wissenschaftlichen Vereinigung, die sich mit den Anwendungs möglichkeiten der Methode des dialektischen Materialismus in unterschiedlichen Wissenschafts-zweigen beschäftigte und an deren Treffen Friedmann regelmäßig teilnahm. Die Reiseerfahrungen verarbeitete er in seinem 1934 publizierten Buch „Problèmes du machinisme en U.R.S.S. et dans les pays capitalistes“ (Editions Sociales Internatio-nales, Paris) sowie in einem 1936 in der Zeitschrift Inventaires publizierten Auf-satz „Quelques traits de l’esprit nouveau en U.R.S.S.“219.

Moussinac kehrte schon im Frühjahr 1934, nach kurzem Zwischenaufenthalt in Paris, zurück in die sowjetische Hauptstadt. Im Mai 1934 begleitete er eine

Schau-217 Vgl. Relinger: Henri Barbusse, S. 208; sowie ausführlicher Baudorre: Barbusse, S. 353–357, 367, 376–379 u. 387–391. S. auch die Aufzeichnungen der Sekretärin von Barbusse: Vidal: Henri Barbusse, S. 270–272 u. 326–336.

218 Vgl. hierzu oben S. 63.

219 Friedmann: Quelques traits de l’esprit nouveau en U.R.S.S. Zu Friedmanns Sowjetunionreisen vgl. Mazuy: Des voyages aux doutes.

Abbildung 11: Henri Barbusse spricht in einer Moskauer Fabrik.

spieltruppe des Moskauer Staatlichen Jüdischen Theaters auf ihrer Tournee von Moskau nach Tiflis. Hierüber veröffentlichte er 1935 sein kurzes Buch „Avec les comédiens soviétiques en tournée. Notes de voyage“, das im Verlag Editions Sociales Internationales (Paris) erschien. Er unternahm außerdem eine Reise nach Armenien und inszenierte dann in Moskau das französische Theaterstück „Les trente millions de Gladiator“ von Eugène Labiche, das am 12. November 1934 auf der Bühne des Staatlichen Jüdischen Theaters Premiere hatte220.

Ähnlich wie die Reisenden des Jahres 1933 scheinen auch die ausländischen Schriftsteller, die im Sommer 1934 auf Einladung des sowjetischen Schriftsteller-verbandes zum I. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller (17. August bis 1. Sep-tember 1934) in die Sowjetunion kamen, die katastrophalen Folgen der Zwangs-kollektivierung weitgehend ignoriert zu haben. Während aus Frankreich eine nicht ganz so umfangreiche Gruppe von sechs Autoren an dem Kongress teilnahm221, waren die deutschen Exilschriftsteller mit zwölf Teilnehmern weitaus zahlreicher vertreten222. Im Folgenden soll vor allem auf die Aufenthalte von Oskar Maria Graf, Klaus Mann und Jean-Richard Bloch näher eingegangen werden, die über ihre Sowjetunionfahrten Reiseberichte verfasst haben.

Der bayerische Schriftsteller Oskar Maria Graf wurde als Redakteur der litera-rischen Monatsschrift Neue Deutsche Blätter nach Moskau eingeladen. Der in das tschechoslowakische Brünn emigrierte Autor hatte sich im Herbst 1933 als ein-ziger Nichtkommunist zur Mitarbeit bei der von Wieland Herzfelde in Prag ge-gründeten Zeitschrift entschlossen, weil er in der Spaltung der Arbeiterklasse eine der Hauptursachen für Hitlers Machtübernahme in Deutschland sah und sich schon seit Ende 1932 für eine Einheitsfront eingesetzt hatte223. Graf hielt sich von August bis Oktober 1934 insgesamt neun Wochen in der Sowjetunion auf. Nach dem Schriftstellerkongress reiste er zusammen mit einer Reihe anderer Kongress-teilnehmer durch die südlichen Sowjetrepubliken von Char’kov über Baku, Tiflis und Batumi nach Jalta und dann zurück nach Moskau224. Nach seiner Rückkehr nach Brünn berichtete Graf im Rahmen eines von der Volkshochschule organisier-ten Vortragabends vor etwa tausend Zuhörern über seine Sowjetunionreise225. Auf der Grundlage dieses Vortrags verfasste Graf wahrscheinlich zwischen Herbst

220 Es ist unklar, ob sich Moussinac die gesamte Zeit zwischen Mai und Oktober 1934 in der Sow-jetunion aufhielt.

221 Zur französischen Delegation gehörte auch André Malraux, der zwar keinen Reisebericht über seinen Sowjetunionaufenthalt verfasst hat, von dem jedoch inzwischen ein Reisetagebuch in publizierter Form vorliegt. S. Malraux: Carnet d’U.R.S.S. 1934.

222 Zu den Teilnehmern des Kongresses vgl. ausführlicher oben S. 67 f.

223 Vgl. Walter: Nachwort, S. 217. Zur Sowjetunionreise Grafs vgl. auch Recknagel: Ein Bayer in Amerika, S. 204–219; Bauer: Oskar Maria Graf, S. 262–267; Schoeller: Oskar Maria Graf, S. 297–309; Kummer: Vom Propheten zum Produzenten, S. 225–231. Zu den Neuen Deutschen Blättern vgl. oben S. 59.

224 Laut einem vermutlich an die Reiseteilnehmer ausgegebenen Informationsblatt sollte diese Rundfahrt vom 15. September bis zum 8. Oktober 1934 dauern. Zur Reisegruppe gehörten Theodor Plievier und seine Frau Hildegard, Adam Scharrer und seine Frau Sophie, Albert Ehrenstein, Rafael Alberti und seine Frau Teresia León, Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Bal-der Olden sowie Bal-der sowjetische Schriftsteller Sergej M. Tret’jakov und seine Frau Ol’ga. Vgl.

Graf: Reise in die Sowjetunion, S. 160 f.

225 Vgl. Graf: Rußland-Rede in der Volkshochschule Brno vom 10. Dezember 1934 [Manuskript], Bayerische Staatsbibliothek, ANA 440, 22–17.

1936 und Frühjahr 1938 einen ausführlichen und insgesamt durchaus wohlwollen-den Reisebericht, wohlwollen-den er allerdings nicht vollendete226. Nach seiner Übersiedlung in die USA hielt er weitere Vorträge über seine Sowjetunionreise, die weitgehend auf diesem Reisebericht aufbauten227. Das Typoskript des Reiseberichts wurde erst 1974 unter dem Titel „Reise in die Sowjetunion“ von Hans-Albert Walter im Luchterhand Verlag (Darmstadt und Neuwied) herausgegeben.

Graf hat die anderen Kongressteilnehmer in Moskau genau beobachtet. Über den „Landsmann“ Klaus Mann – beide kamen aus Bayern – hält er in seinem Reise bericht fest: „Alles an ihm schien ein bißchen manieriert, aber es wurde ab-gedämpft durch einen klug witternden Geschmack. Der ganze Mensch hatte etwas Ruheloses, überhitzt Intellektuelles und vor allem etwas merkwürdig Un-jugendliches.“228 Der damals gerade 27-jährige Klaus Mann war der Einladung in die Sowjetunion in Begleitung einer Freundin, der schweizerischen

Industriellen-226 Warum das Typoskript nicht abgeschlossen wurde, lässt sich nicht zweifelsfrei klären. Mögli-cherweise war Graf durch die Notwendigkeit, 1938 aus der Tschechoslowakei zu fliehen und in die USA zu emigrieren, an der Fertigstellung gehindert worden, eventuell hatte er selbst auch aufgrund der innenpolitischen Entwicklungen in der Sowjetunion und der zunehmenden Polarisierung der Diskussion hierüber von einer Publikation Abstand genommen. Später hatte Graf vor, den Reisebericht in den zweiten Band seiner Lebenserinnerungen einzuarbeiten, die er während seiner letzten Lebensjahre verfasste; er starb jedoch im Juni 1967, ohne die Auto-biographie vollendet zu haben. Vgl. Walter: Nachwort, S. 230–232.

227 Vgl. Graf: [Russland-Rede in Philadelphia], Bayerische Staatsbibliothek, ANA 440, 21–12.

Graf thematisiert die Sowjetunionreise auch in dem wahrscheinlich im New Yorker Exil ge-schriebenen Kapitel „Epilog und Verklärung“ in: Graf: Das Leben meiner Mutter, S. 650–666.

Vgl. hierzu Mohr: Hunde wie ich, S. 333–364.

228 Graf: Reise in die Sowjetunion, S. 27 f.

Abbildung 12: Klaus Mann (oben, dritter von links) mit Schriftsteller-kollegen auf der berühmten Glocke

„Zar-Kolokol“ im Moskauer Kreml, August 1934; links von Mann Gustav Regler, rechts Wieland Herzfelde und Willi Bredel, vorne rechts (mit Brille) Balder Olden

tochter und Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach, gefolgt229. Sein Aufenthalt dauerte deutlich kürzer als der von Graf, Mann blieb lediglich zwei Wochen in der sowjetischen Hauptstadt. Nach seiner Rückkehr über Leningrad und Finnland nach Paris veröffentlichte er in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Sammlung (2. Jg., 1934, H. 2) seine „Notizen in Moskau“230.

Der französische Schriftsteller Jean-Richard Bloch reiste – in Begleitung seiner Frau Marguerite – erst kurz vor Beginn des Kongresses, am 10. August, nach Mos-kau231. Der Aufenthalt sollte eigentlich nur drei bis vier Wochen dauern, doch schließlich blieb Bloch insgesamt 19 Wochen in der Sowjetunion (seine Frau fuhr nach zwei Monaten zurück nach Paris)232. Nach dem Schriftstellerkongress nahm Bloch im September an einem von Erwin Piscator organisiertem Theaterfestival teil233, bevor er sich zu einer großen Rundreise durch die südlichen Sowjetre-publiken aufmachte, die ihn unter anderem bis nach Armenien führte234. Seine dann für Anfang Dezember geplante Rückfahrt nach Frankreich verzögerte sich erneut aufgrund eines für die sowjetische Geschichte überaus folgenschweren Er-eignisses:

Am 1. Dezember 1934 fiel der Leningrader Parteichef Sergej M. Kirov einem Attentat zum Opfer: Er wurde von Leonid V. Nikolaev – „ein einfacher, vom Le-ben enttäuschter und etwas verwirrter Kommunist“235 – ermordet. Kirov war seit einigen Monaten, ohne sein Dazutun und gegen seinen Willen, von einem kleinen, kritischen Kreis von Stalingegnern als potentieller Gegenkandidat des General-sekretärs gehandelt worden. Lange galt es in der westlichen Literatur mehr oder weniger als Faktum, dass der NKVD236 und Stalin selbst beim Attentat auf Kirov ihre Hände im Spiel hatten, um den in der Partei durchaus populären Konkurren-ten aus dem Weg zu räumen. Wenngleich diese Deutung plausibel erscheint, fehlen

229 Zu Manns zweitem Sowjetunionaufenthalt s. Naumann (Hg.): „Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluß“, S. 162; Kerker: Weltbürgertum – Exil – Heimatlosigkeit, S. 153–163; Kröhnke: Propa-ganda für Klaus Mann, S. 22–25; Weil: Klaus Mann, S. 51–56; Klaus-Mann-Schriftenreihe, hg. v.

Kroll, Bd. 4, Teilbd. 1, S. 234–253; Yang: „Ich kann einfach das Leben nicht mehr ertragen“, S. 158–163; Ackermann: Talent zum Dialog, S. 83–91; Thiel: Klaus Mann, S. 127–130; sowie Schaenzler: Klaus Mann, S. 233–237. Zum Einfluss André Gides auf Manns Haltung zur Sow-jetunion vgl. Grunewald: André Gide – Klaus Mann: Ein Briefwechsel, insbes. S. 597–600. All-gem. zu Klaus Manns politischem Engagement in den 1930er Jahren s. Grunewald: Klaus Mann, S. 465–487.

230 Verwendet wird im Folgenden die in Klaus Mann: Jugend und Radikalismus, S. 14–27, zugäng-liche Originalfassung des Aufsatzes. Zur Zeitschrift Die Sammlung vgl. Walter: Deutsche Exilliteratur, Bd. 4, S. 424–445.

231 Die Anreise hatte sich mehrfach verzögert, weil die Schiffe von Frankreich oder England aus bereits ausgebucht waren und eine Anreise über Deutschland oder Italien Bloch zu unsicher erschien. Vgl. hierzu die im unmittelbaren Vorfeld der Reise verfassten Briefe Jean-Richard Blochs aus Paris an seine Frau Marguerite in Poitiers: BnF, Mss, Papiers Jean-Richard Bloch, Correspondance: lettres de Jean-Richard Bloch à sa femme, VII (1931–1946), Bl. 253–266.

232 Vgl. Brief Jean-Richard Blochs an Roger Martin du Gard vom 1. Januar 1935 aus Paris, BnF, Mss, Papiers Jean-Richard Bloch, Correspondance: lettres de Jean-Richard Bloch à Jules Bloch et à Roger Martin du Gard, Bl. 391.

233 Vgl. den Kommentar von Duchatelet in: Gide u. Bloch: Correspondance, S. 124.

234 Vgl. Brief Jean-Richard Blochs an Romain Rolland vom 11. November 1934 aus Moskau, BnF, Mss, Fonds Romain Rolland, Correspondance avec Jean-Richard Bloch, Bl. 334 f.

235 Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 447.

236 Die sowjetischen Sicherheitsdienste waren 1934 neu strukturiert und im Innenministerium (NKVD) zusammengefasst worden, dessen wichtigstes Ressort nun die ehemalige OGPU bil-dete.

bis heute unwiderlegbare Beweise für ihre Stichhaltigkeit237. Weitgehend außer Frage stehen dahingegen die Folgen des Mordes an Kirov, der von Stalin als Vor-wand für eine Welle von Gewalt und Verhaftungen instrumentalisiert wurde. Mit dem Attentat änderte sich die Qualität der seit dem Bürgerkrieg stets präsenten, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägten Repressionen grundlegend: Wäh-rend bis 1934 die innerparteilichen Gegner entmachtet, aus der Partei ausgestoßen, verbannt oder aus der Sowjetunion ausgewiesen wurden, behandelte man sie nun wie „Konterrevolutionäre“, die letztlich physisch zu vernichten waren: Sie wur-den in Gefängnisse und Arbeitslager inhaftiert, wo die meisten von ihnen elend zugrunde gingen, oder direkt „liquidiert“. Kaum ein prominenter Bolschewist der

„alten Garde“, der je mit Stalin in Konflikt geraten war, sollte die bis zum Tode des Generalsekretärs 1953 andauernde Terrorwelle überleben, die durch den Mord an Kirov ausgelöst wurde. Trotz der offensichtlichen Willkür wurde hierbei ver-sucht, die Fiktion der Rechtmäßigkeit durch erpresste Geständnisse und befohle-ne Anschuldigungen gegen die nächsten Opfer aufrecht zu halten. Bereits Mitte Dezember 1934 wurden Grigorij E. Zinov’ev, Lev B. Kamenev und eine Reihe vermeintlicher Trotzkisten verhaftet und der Planung des Anschlags beschuldigt.

Aus Mangel an Beweisen erhielten Zinov’ev und Kamenev zunächst lediglich Haftstrafen – 1936 sollte der erste große Moskauer Schauprozess folgen, in dem die beiden dann zum Tode verurteilt und umgehend hingerichtet wurden238.

In der aufgeheizten Stimmung nach diesem „pénible attentat contre Kyrov“239 wurde es für Bloch deutlich komplizierter, einen Auftrag zu erledigen, den Ro-main Rolland ihm mit auf den Weg gegeben hatte: Bloch war von dem großen Pazifisten und Schriftsteller gebeten worden, sich in der Sowjetunion genauer über den Fall Victor Serge zu informieren. Der russischstämmige, in Belgien geborene Serge war 1919 nach Sowjetrussland übergesiedelt, wo er seit etwa Mitte der 1920er Jahre zu linksoppositionellen Kreisen zählte und deshalb 1928 aus der Par-tei ausgeschlossen und verhaftet wurde. Wenngleich er nach fünf Wochen wieder frei kam, wurde das Leben in der Sowjetunion für Serge und seine Frau von nun an überaus schwierig, denn er erhielt keine Arbeit mehr und befand sich unter ständiger Überwachung. Seit 1930/31 bemühten sich Serges französische Freunde, die sich im Comité pour la libération de Victor Serge zusammengeschlossen hat-ten240, die Öffentlichkeit auf den Fall aufmerksam zu machen und so eine Aus-reiseerlaubnis für die Familie zu erzwingen. Nachdem Serge im März 1933 erneut durch die GPU verhaftet und nach Orenburg im Ural verbannt worden war, hatte sich auch Rolland in einem Brief an Maxim Gorki für Serge eingesetzt241. Für

237 Eine Diskussion möglicher Interpretationen der Ereignisse findet sich bei Hildermeier: Ge-schichte der Sowjetunion, S. 444–448.

238 Vgl. Altrichter: Kleine Geschichte der Sowjetunion, S. 90 f. Zur Geschichte des sowjetischen Terrors in den 1930er Jahren s. insges. auch Baberowski: Der rote Terror, S. 135–208; sowie Verbrechen im Namen der Idee, hg. v. Weber u. Mählert.

239 Brief Jean-Richard Blochs an Romain Rolland vom 11. Dezember 1934 aus Moskau, BnF, Mss, Fonds Romain Rolland, Correspondance avec Jean-Richard Bloch, Bl. 337.

240 Das Comité hatte am 11. Mai 1933 durch einen Artikel in der Zeitschrift L’Œuvre seine Grün-dung bekannt gegeben. Darin engagiert war auch Magdeleine Marx, die nach ihrer erneuten Heirat nun den Namen Paz trug.

241 Neben Rolland verwendeten sich von den hier behandelten Persönlichkeiten auch Vildrac, Durtain und Duhamel für Serge. Vgl. Rière u. a.: Victor Serge.

Bloch wurde es nun infolge des Mordes an Kirov erheblich schwieriger, mit den zuständigen Behörden und Persönlichkeiten, die er treffen wollte, in Kontakt zu kommen242, so dass er schließlich erst Ende Dezember zurück nach Paris fahren konnte, ohne jedoch etwas Wesentliches erreicht zu haben. Seine trotz allem ins-gesamt sehr wohlwollenden Reiseeindrücke publizierte Bloch in einer Reihe von Artikeln, die in der Zeitschrift Europe erschienen243.

Rund ein halbes Jahr später, am 21. Juni 1935, reiste Romain Rolland schließlich

Rund ein halbes Jahr später, am 21. Juni 1935, reiste Romain Rolland schließlich

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