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Aufbrüche ins Unbekannte (1917–1922)

Im Dokument Eva Oberloskamp Fremde neue Welten (Seite 81-98)

Die ersten Besucher des sowjetischen Russlands kamen in ein vom Krieg verwüs-tetes Land, dessen politische Führung sich bis 1921 im offenen Kampf gegen inne-re und äußeinne-re Gegner zu behaupten hatte und dessen Wirtschaft auch danach noch schwer unter den Zerstörungen des Welt- und Bürgerkriegs und den Folgen der Blockade durch die Westalliierten und andere Staaten litt. Eine Reise während die-ser Jahre war in der Regel nicht nur äußerst unbequem, sondern konnte auch ge-fährlich sein. Für ausländische Besucher bestand die erste Schwierigkeit häufig schon darin, überhaupt nach Russland hineinzukommen, denn in den ersten zwei

1 Soweit die Datierung der Sowjetunionaufenthalte sich zweifelsfrei aus den Reiseberichten er-gibt, wurde auf detaillierte Belege hierfür verzichtet. Lediglich zusätzlich hinzugezogene Quel-len oder Sekundärliteratur werden im Anmerkungsapparat angeführt. Die visuelle Darstellung der Aufenthalte in den Kalendern auf S. 87, 110 f. u. 128 ist grob gerundet; im Text hingegen wurde versucht, die Angaben so genau wie möglich zu machen. Weitere Reisen von in dieser Arbeit behandelten Linksintellektuellen, auf deren Grundlage keine Reiseberichte entstanden sind, werden in der Regel nur kurz erwähnt.

2 Die Darstellung der Revolutionsereignisse und der Geschichte Sowjetrusslands bzw. der Sow-jetunion stützt sich weitgehend auf Hildermeier: Geschichte der SowSow-jetunion; Altrichter: Staat und Revolution in Sowjetrussland; ders.: Rußland 1917; sowie Pipes: Die Russische Revolu-tion.

3 Diese chronologische Unterteilung unterscheidet sich sowohl von den in Furler: Augen-Schein, S. 145–147, vorgeschlagenen Phasen, die nur deutsche Russlandreportagen berücksichtigen und vor allem an der sowjetischen Geschichte orientiert sind, als auch von der in Heeke: Reisen zu den Sowjets, S. 11–24, unternommenen Einteilung, die primär tourismusgeschichtlich ausge-richtet ist.

Jahren nach der Oktoberrevolution war das Land nahezu hermetisch von der Außen welt abgeschlossen. Der wirtschaftliche Austausch mit anderen Staaten war weitgehend zum Erliegen gekommen, die Post- und Verkehrsverbindungen funk-tionierten nur noch sporadisch, und darüber hinaus wurde der Großteil der noch intakten Verkehrskontingente für die Evakuierung und Rückführung von Kriegs- und Zivilgefangenen aus und nach Russland benötigt. Die Reisewege waren in höchstem Maße unsicher, und ohne Bestechung, Schwarz- und Tauschhandel oder administrative Protektion war es kaum möglich, die erforderlichen Fahrberech-tigungsscheine und Nahrungsmittel zu erhalten4. Die ersten Ausländer, die es in dieser frühen Phase trotz allem ins sowjetische Russland zog – zu ihnen zählten neben kommunistischen und sozialistischen Aktivisten vor allem Journalisten, Politiker und Geschäftsleute aus Westeuropa und den USA5 –, waren bereit, ein hohes Risiko einzugehen, um die „sozialistische neue Welt“ mit eigenen Augen zu sehen. Insgesamt blieb die Zahl der Reisenden ins sowjetische Russland in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution sehr gering. Linksintellektuelle, die als Journalisten, Vertreter einer Partei, politische Flüchtlinge oder als frühe Pilger des

„real“ gewordenen Sozialismus ins „neue Russland“ fuhren, machten einen wich-tigen Teil von ihnen aus.

Nur einer der hier behandelten Intellektuellen konnte die revolutionären Ereig-nisse in Russland von Anfang an mit eigenen Augen mitverfolgen: Der Franzose René Marchand war als Korrespondent des Petit Parisien und des Figaro schon im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in die russische Hauptstadt Petrograd6 ge-kommen, wo er eine Russin geheiratet hatte. Erst 1926 sollte er die Sowjetunion wieder verlassen. Weil das Zarenreich im Weltkrieg auf der Seite der Westalliierten gegen die Mittelmächte gekämpft hatte, war es Marchand möglich gewesen, trotz des Kriegsausbruchs 1914 in Russland zu bleiben. 1917 erlebte er so aus nächster Nähe die Februarrevolution wie auch die im April erfolgte Rückkehr der bolsche-wistischen7 Führer, insbesondere Lenins, aus dem Exil, die immer stärker hervor-tretende Doppelherrschaft von provisorischer Regierung und Sowjets (Arbeiter- und Soldatenräten) sowie schließlich den erfolgreichen bolschewistischen Um-sturz am 6./7. November 19178: Die neue bolschewistisch dominierte Regierung (Rat der Volkskommissare) übertrug alle Befugnisse den Sowjets und entmachtete so den alten Staatsapparat, sie verfügte die entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes und forderte alle Kriegführenden zu einem Waffenstillstand

4 Vgl. ebd., S. 13–15.

5 Vgl. ebd., S. 13 f.

6 Die russische Hauptstadt Sankt Petersburg war kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Petrograd umbenannt worden.

7 Die Bolschewiki hatten sich 1903 auf dem zweiten Parteitag der Sozialdemokratischen Arbei-terpartei Russlands als linker Parteiflügel abgespalten. Unter der Führung Lenins traten sie für eine straffe Organisation der russischen Sozialdemokratie als eine Kaderpartei von Berufsrevo-lutionären ein. Da die Anhänger Lenins bei der Abstimmung über die künftige Taktik der Sozial-demokratischen Arbeiterpartei die Mehrheit erhalten hatten, nannten sie sich Bolschewiki [Mehrheitler], der verbleibende rechte Parteiflügel wurde Menschewiki [Minderheitler] ge-nannt.

8 24./25. Oktober nach dem julianischen Kalender, daher die gängige Bezeichnung Oktoberrevo-lution. Auch alle folgenden Daten werden entsprechend dem gregorianischen Kalender ge-nannt, der in Russland jedoch erst am 1. Februar 1918 eingeführt wurde.

und Friedensschluss auf. In den folgenden Wochen verabschiedete sie eine wahre Flut von Dekreten, die Wirtschaft, Gesellschaft und öffentliches Leben auf voll-kommen neue Grundlagen stellen sollten. Das erklärte Ziel aller Maßnahmen der Bolschewiki, das sie gegen alle Widerstände durchsetzen wollten, war die Schaf-fung einer neuen sozialistischen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Dabei scheuten sie sich nicht, bürgerliche Parteien und Presseorgane zu verbieten, die Ende November gewählte und von Sozialrevolutionären9 dominierte konstitu-ierende Nationalversammlung durch Rote Truppen sprengen zu lassen und zur Bekämpfung von „Konterrevolution und Sabotage“ die Tscheka10 genannte politi-sche Polizei zu gründen.

Trotz der Gewaltsamkeit der Umwälzungen blieb Marchand auch nach der Ok-toberrevolution in Russland – im Gegensatz zu den meisten seiner Landsleute, die sich spätestens jetzt bemühten, so schnell wie möglich nach Frankreich auszurei-sen11: Der Journalist hingegen wandelte sich immer mehr zu einem begeisterten Befürworter der Bolschewiki12. Auf seine Haltung wirkte sich auch der Verlauf des im Frühsommer 1918 ausgebrochenen Bürgerkrieges aus, in dem unterschied-lichste Fronten aufeinanderprallten: Die bolschewistische Rote Armee kämpfte unter der Führung Trotzkis gegen die Weißen Armeen, gleichzeitig rangen nicht-russische Randgebiete um ihre Unabhängigkeit13, während sich die Landbevölke-rung gegen Getreiderequisitionen und DrangsalieLandbevölke-rungen von allen Seiten wehren musste. Schließlich mischten sich noch auswärtige Mächte ein: Britische, französi-sche, japanifranzösi-sche, amerikanische und anfänglich auch deutsche Truppen14 versuch-ten, gegen das bolschewistische Zentrum Russlands – die Bolschewiki hatten im Frühjahr 1918 die Hauptstadt aus Sicherheitsgründen von Petrograd nach Moskau verlegt – vorzurücken. Frankreich stand somit im Bürgerkrieg offen auf der Seite der Weißen Armeen – und die Art und Weise, wie es diesen Krieg führte, ver-anlasste Marchand zu deutlicher Kritik: Diese publizierte er 1918 in Form eines Briefes an den französischen Staatspräsidenten Raymond Poincaré, der in dem

9 Die Partei der Sozialrevolutionäre, 1902 als geheime Organisation gegründet, war aus der Be-wegung der Narodniki [Volkstümler] hervorgegangen. Ihr Ziel war es, auf revolutionärem Weg einen bäuerlichen Sozialismus zu errichten, wobei sie im Kampf hierfür das Mittel des Terrors einsetzten. Während des Ersten Weltkrieges spalteten sich die Sozialrevolutionäre in einen rechten und einen linken Flügel.

10 Auf regionaler Ebene nannten sich die Organe der politischen Polizei Črezvyčajnye komissii po bor’be s kontrrevoljuciej i sabotažem [Außerordentliche Kommissionen zum Kampf gegen Kon-terrevolution und Sabotage], kurz ČK (Tscheka). Ihnen übergeordnet war die Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej i sabotažem [Allrussische außerordentliche Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage], kurz VČK (Wetscheka). Der Begriff „Tscheka“ wird jedoch häufig für die gesamte politische Polizei Sowjetrusslands ver-wendet; dieser Praxis folgt auch die vorliegende Arbeit.

11 Bis etwa Mitte 1920 waren die letzten französischen Rückwanderer in ihr Heimatland zurück-gekehrt. Vgl. Cœuré: La grande lueur à l’Est, S. 31.

12 Eine ähnliche Wandlung vollzogen die vier Mitglieder der Französischen Militärmission Jac-ques Sadoul, Pierre Pascal, Robert Petit und Marcel Body, die sich im August 1918 zum Groupe communiste français zusammenschlossen. Vgl. hierzu Body: Les groupes communistes français de Russie; Kriegel u. Haupt: Les groupes communistes étrangers en Russie.

13 Vgl. hierzu ausführlich Altrichter: Rußland 1917, S. 399–537.

14 Die deutschen Kriegshandlungen in Russland wurden durch den Frieden von Brest-Litovsk vom 3. März 1918 beendet. In der zweiten Aprilhälfte 1918 kam Wilhelm Graf von Mirbach als deutscher Botschafter nach Moskau, Adol’f A. Joffe als sowjetrussischer Botschafter nach Ber-lin.

von der Unionsdruckerei Bern herausgegebenen Band „Pour la Russie socialiste“

erschien15. In einer weiteren Veröffentlichung, seiner Broschüre „Pourquoi je me sois rallié à la formule de la révolution sociale“ (Petrograd, Edition de l’Inter-nationale communiste, 1919)16, legte Marchand wenig später dar, warum er sich den Bolschewiki angeschlossen hatte.

Der Bürgerkrieg selbst war in Moskau und Petrograd nur indirekt zu spüren.

Aus nächster Nähe jedoch konnte Marchand mitverfolgen, wie die Bolschewiki an der Spitze des Staates eine weitgehende Straffung der Kompetenzen und Zentrali-sierung der Macht durchsetzten, die darauf zielte, jegliche Opposition zur Kom-munistischen Partei Russlands (Bolschewiki)17, kurz KPR (b), auszuschalten. Als am 6. Juli 1918 Sozialrevolutionäre den deutschen Botschafter Wilhelm Graf von Mirbach ermordeten, wurde dies zum Anlass genommen, den Staatsapparat von innen zu „säubern“. Ebenfalls im Juli 1918 ließen die Bolschewiki – der Befehl hierzu wurde von Lenin persönlich gegeben18 – die Zarenfamilie in Ekaterinburg umbringen.

Nur wenige Tage vor dem Attentat auf Mirbach kam erstmals ein deutscher Berichterstatter in die russische Hauptstadt: Alfons Paquet reiste mit dem Zug von Warschau aus direkt nach Moskau – eine Route, die bald darauf aufgrund der kriegerischen Entwicklungen nicht mehr zugänglich sein sollte. Paquet war nicht nur als Korrespondent der Frankfurter Zeitung tätig, sondern zudem von August 1918 bis zum vorübergehenden Verlassen der deutschen Gesandtschaft Moskaus und seiner eigenen Abreise aus Russland am 20. November 1918 als Leiter des Pressebüros am deutschen Generalkonsulat19. Über seine Erlebnisse im bolsche-wistischen Russland berichtete er in einer Serie von Artikeln, die in der Frankfur-ter Zeitung veröffentlicht wurden und einige Monate nach seiner Rückkehr unFrankfur-ter dem Titel „Im kommunistischen Rußland. Briefe aus Moskau“ (Eugen Diederichs Verlag, Jena, 1919) auch in Buchform erschienen20. Seine Eindrücke beschreibt

15 Vgl. Marchand: Lettre au Président Poincaré.

16 Diese Broschüre erschien 1919 auch in deutscher Sprache im Verlag der von Franz Pfemfert herausgegebenen Wochenschrift Die Aktion. S. Marchand: Warum ich mich der sozialen Revo-lution angeschlossen habe. Im Folgenden wird aufgrund der schwierigen Zugänglichkeit des französischen Textes die deutsche Ausgabe verwendet. Vgl. außerdem den Artikel Marchands:

Die Weltgeschichtliche Bedeutung der Sowjets; sowie die 1927 zusammen mit Pierre Weinstein verfasste Darstellung zum russischen Kino: Marchand u. Weinstein: Le cinéma. Marchands Ak-tivitäten in Sowjetrussland werden kurz erwähnt in Body: Les groupes communistes français de Russie, S. 17–19.

17 So der vollständige Name ab 1918.

18 Diese Rolle Lenins bei der Ermordung der Zarenfamilie konnte erst in den 1990er Jahren durch neu entdeckte Quellen belegt werden, die die bis dahin angenommene Verantwortlichkeit eines Kommandanten der örtlichen Tscheka widerlegen. Vgl. Hildermeier: Geschichte der Sowjet-union, S. 152.

19 Zu Paquets Reise ins sowjetische Russland und zu seinen Berichten darüber vgl. Hertling: Quer durch, S. 40–44; Furler: Augen-Schein, S. 33–36 u. 106–113; Koenen: Alfons Paquet und „Der Geist der russischen Revolution“; Brenner u. a.: Ich liebe nichts so sehr wie die Städte, S. 81–88;

Korn: Rheinische Profile, S. 127–131; Merz: Das Schreckbild, S. 316–331. Zur Verarbeitung der sowjetischen Eindrücke in Paquets dramatischem Werk vgl. Thöne: Zwischen Utopie und Wirklichkeit. Die Erfahrungen in Sowjetrussland haben auch eine wichtige Rolle für die Ent-stehung von Paquets unveröffentlichtem Roman „Von November bis November“ gespielt. Vgl.

hierzu Wagner: Von November bis November.

20 Von diesen Artikeln wurden außerdem sechs schon vor der Buchpublikation in einem Sonder-abdruck aus der Frankfurter Zeitung unter dem Titel „Aus dem bolschewistischen Rußland“

(Frankfurter Societäts-Druckerei, Frankfurt/M., 1919) veröffentlicht.

Paquet außerdem in zwei weiteren Büchern: „Der Geist der russischen Revolu-tion“ (Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1919) sowie „Rom oder Moskau. Sieben Auf-sätze“ (Drei Masken Verlag, München, 1923).

Während seines Aufenthalts erlebte Paquet, wie das nur um Haaresbreite miss-lungene Attentat auf Lenin durch die Sozialrevolutionärin Fanni E. Kaplan am 30. August 1918 zum Auslöser wurde für einen ab September 1918 mit erbar-mungsloser Härte geführten Kampf der Bolschewiki gegen innere „Feinde“: den Roten Terror. Für die Ausübung der Staatsgewalt wurde der Einsatz der Tscheka und mit dieser eines ganzen Netzes von außerordentlichen Organen und Kom-missionen charakteristisch, die reguläre Zuständigkeiten außer Kraft setzten und häufig völlig eigenständig handelten. Erklärtes Ziel der Tscheka war es, die „Bour-geoisie als Klasse“ auszulöschen21. Die Schätzungen über das Ausmaß des Roten Terrors bleiben uneinheitlich; Hildermeier hält für den Zeitraum von Dezember 1917 bis Februar 1922 die Zahl von etwa 280 000 Todesopfern für wahrschein-lich22, hinzu kommen noch Tausende von Opfern, die in Gefängnissen, Konzen-trations- und Arbeitslagern inhaftiert waren. Der Rote Terror trug auch dazu bei, dass die Weißen Armeen mit immer größerer Grausamkeit vorgingen, wenn sie eine Zusammenarbeit der Bevölkerung mit Roten Truppen vermuteten.

Inmitten dieser von Bürgerkrieg und Terror beherrschten Situation kam am 5. März 1919 der Schriftsteller und Journalist Henri Guilbeaux zusammen mit sei-ner Frau23 über Berlin und Vilnius nach Moskau. Der Pazifist und Sozialist war in Paris wegen Hochverrats und geheimen Einvernehmens mit dem deutschen Feind in Abwesenheit zum Tode verurteilt und daraufhin aus der Schweiz, wo er sich seit dem Sommer 1915 aufgehalten und unter anderem Kontakte zu Lenin gepflegt hatte, ausgewiesen worden. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Sowjetrussland nahm er am Gründungskongress der Kommunistischen Internationale (Kom in-tern)24 teil, 1920 machte er zusammen mit ausländischen Delegierten des II. Kom-internkongresses, darunter Wilhelm Herzog25, eine Wolgaschifffahrt. Seine An-wesenheit in Moskau sollte bis Ende Juli 1922 dauern, danach lebte er bis 1932 in Berlin. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Moskau publizierte Guilbeaux 1919 die Broschüre „Comment et pourquoi je suis venu dans la République des soviets de Russie“ (Editions du Groupe communiste français, Moskau)26. Über seinen

21 Zitiert nach Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 151.

22 Vgl. ebd.

23 Guilbeaux ließ sich während seines Russlandaufenthalts von seiner ersten Frau scheiden und heiratete die Russin Nina Leont’evna. Vgl. Guilbeaux: Du Kremlin au Cherche-Midi, S. 259.

24 Der Gründungskongress der Komintern, auch III. Internationale genannt, fand vom 2. bis 6. März 1919 in Moskau statt. Die auf Anregung Lenins geschaffene Institution hatte zum Ziel, die Arbeit der Kommunistischen Parteien aller Staaten zu koordinieren, um so die Weltrevolu-tion unter sowjetrussischer Führung exportieren zu können. Sie entwickelte sich bald zu einer von Sowjetrussland dominierten Organisation unter der straffen Führung des in Moskau resi-dierenden Exekutivkomitees (EKKI). Zur Gründungsphase der Komintern vgl. Hájek u.

Mejdrová: Die Entstehung der III. Internationale.

25 Vgl. zu Herzog unten S. 78 f.

26 In diese Schrift konnte nicht Einsicht genommen werden, da sie weder als Bibliotheks- noch als Archivbestand ausfindig zu machen war. Erwähnt wird die Broschüre in Guilbeaux: Kraskreml, S. 2. Es wurde lediglich ein von Guilbeaux verfasster Zeitungsartikel mit dem gleichen Titel he-rangezogen, bei dem allerdings unklar bleibt, ob er den gesamten Text der Broschüre oder nur einen Ausschnitt bzw. eine Zusammenfassung beinhaltet. S. Guilbeaux: Comment et pourquoi je suis venu dans la République des soviets de Russie. Ein Exemplar findet sich in AN, F7 13477.

Aufenthalt im bolschewistischen Russland berichtete er nach seiner Ausreise nach Deutschland in dem Gedichtband „Kraskreml“ (Editions des Humbles, Paris, 1922), in seiner Leninbiographie „Le portrait authentique de Vladimir Ilitch Lénine“ (Librairie de l’Humanité, Paris, 1924)27 sowie in seiner Autobiographie

„Du Kremlin au Cherche-Midi“ (Gallimard, Paris, 1933)28.

Der Waffenstillstand vom November 1918, der die Kriegshandlungen im west-lichen Europa beendete, änderte zunächst nichts an der Lage in Sowjetrussland, wo der Bürgerkrieg weiter andauerte: Das Gros der ausländischen Truppen wurde hier erst im Sommer 1919 aus den Kampfhandlungen abgezogen. Ende des Jahres 1919 schließlich konnte die Rote Armee den Konflikt für sich entscheiden, wenn-gleich sich auch im Jahr 1920 noch in Auflösung begriffene Weiße Verbände in Russland befanden, die durch Rote Truppen verfolgt wurden. Im Westen Sowjet-russlands dauerten die Kämpfe noch länger an: Hier entwickelte sich der Konflikt zu einem Grenzkrieg zwischen der Sowjetunion und dem neu gegründeten polni-schen Staat, der erst durch den Frieden von Riga am 18. März 1921 endgültig bei-gelegt werden konnte. Im Fernen Osten schließlich war der Bürgerkrieg erst im Dezember 1922 beendet, als Rote Truppen in Vladivostok einmarschierten. Mit der allmählichen Stabilisierung des neuen Regimes wurden auch die Reisebedin-gungen im sowjetischen Russland – zumindest im Vergleich zu den Jahren 1918/19 – etwas weniger abenteuerlich und beschwerlich29: Die Erfolge der Roten Armee im Bürgerkrieg, die Aufhebung der Wirtschaftsblockade gegen Sowjetrussland im Ja-nuar 1920, welche vom Herbst 1918 an bestanden hatte, und die Friedensverträge mit den baltischen Staaten und Finnland im Sommer und Herbst 1920 erlaubten die allmähliche Wiederherstellung einer halbwegs sicheren Verkehrsanbindung an das europäische Ausland.

Die meisten der hier behandelten Autoren, die in den frühen 1920er Jahren nach Sowjetrussland fuhren, gelangten über das Baltikum dorthin. Seit den Friedens-verträgen von 1920 führte die übliche Route für Deutsche wie Franzosen mit dem Schiff – meist von Stettin aus – in die estnische Hauptstadt Tallinn (Reval)30, von dort mit dem Zug über die estnische Grenzstadt Narva und das russische Jamburg (heute Kingisepp) nach Petrograd und von dort weiter nach Moskau31. Die direk-te Schiffspassage von Sdirek-tettin nach Petrograd war bis 1922 nicht ohne größere Risi-ken befahrbar, denn die Ostsee und die Zufahrt zur Neva wurden erst in diesem

27 Das Buch war zunächst 1923 im Verlag die Schmiede in deutscher Übersetzung erschienen:

Guilbeaux: Wladimir Iljitsch Lenin. Ein treues Bild seines Wesens. Im Folgenden wird diese deutsche Ausgabe verwendet. Von Interesse ist besonders das dritte Kapitel, in dem Guilbeaux seine persönlichen Erinnerungen an Lenin beschreibt. Vgl. ebd., S. 130–157. S. außerdem den Nekrolog von Guilbeaux auf Lenin in der Weltbühne: Guilbeaux: Wladimir Iljitsch Lenin, in:

Die Weltbühne 20 (1924), S. 161–163.

28 Guilbeaux: Du Kremlin au Cherche-Midi, S. 203–262. S. außerdem Guilbeaux: Préface zu: Wul-lens: Paris – Moscou – Tiflis, S. 5–8. In der neueren Forschung hat Guilbeaux so gut wie keine Berücksichtigung gefunden. Einige Informationen zu seinem Russlandaufenthalt enthält der Aufsatz von Krabiel: Bertolt Brechts Aufruf für Henri Guilbeaux, insbes. S. 749–753, sowie Racine: Henri Guilbeaux. Erwähnt werden Guilbeaux’ Aktivitäten in Russland auch in Body:

Les groupes communistes français de Russie, S. 33–36 u. 41 f.

29 Vgl. Heeke: Reisen zu den Sowjets, S. 14.

30 Bis 1918 war der offizielle Name der Stadt Revel’. Im deutschen Sprachraum wurde sie auch danach noch häufig als Reval bezeichnet.

31 Vgl. ebd., S. 128–132.

Jahr von den Minen aus der Zeit des Krieges und der alliierten Blockade geräumt32. Ein Problem für Deutsche und Franzosen bestand allerdings oftmals darin, dass die zuständigen Behörden des Heimatlandes nicht immer gewillt waren, die erfor-derlichen Ausreisegenehmigungen zu erteilten, und dass häufig auch die benötig-ten Durchreisegenehmigungen anderer Staabenötig-ten nicht beschafft werden konnbenötig-ten33. Nicht wenige Sympathisanten des „neuen Russland“ sahen sich deshalb gezwun-gen, ihre Anreise illegal und auf höchst abenteuerlichen Wegen zu bestreiten.

Im Jahr 1920 kam eine Reihe von deutschen und französischen Linksintellektu-ellen nach Sowjetrussland. Insgesamt hatte sich die Zahl der ausländischen Besu-cher nicht nur dank der verbesserten Reisemöglichkeiten erhöht, sondern auch, weil die Sowjetregierung – noch immer das Ziel der Weltrevolution vor Augen – darum bemüht war, die Sympathien ausländischer Sozialisten zu gewinnen und deshalb verstärkt Vertreter linker Gruppen oder Parteien ins „neue Russland“ ein-lud34. Von den in dieser Arbeit berücksichtigten Autoren gelangte als erster

Im Jahr 1920 kam eine Reihe von deutschen und französischen Linksintellektu-ellen nach Sowjetrussland. Insgesamt hatte sich die Zahl der ausländischen Besu-cher nicht nur dank der verbesserten Reisemöglichkeiten erhöht, sondern auch, weil die Sowjetregierung – noch immer das Ziel der Weltrevolution vor Augen – darum bemüht war, die Sympathien ausländischer Sozialisten zu gewinnen und deshalb verstärkt Vertreter linker Gruppen oder Parteien ins „neue Russland“ ein-lud34. Von den in dieser Arbeit berücksichtigten Autoren gelangte als erster

Im Dokument Eva Oberloskamp Fremde neue Welten (Seite 81-98)