• Keine Ergebnisse gefunden

Auf der Suche nach realen Alternativen (1922–1933)

Im Dokument Eva Oberloskamp Fremde neue Welten (Seite 98-123)

Nach dem Ende des Bürgerkriegs nahm der Reiseverkehr ins „sozialistische“

Russland deutlich zu. Rein touristische Besuche freilich waren zunächst weiterhin nicht möglich, da das Sowjetische Außenkommissariat Europäern ausschließlich zweckgebundene Einreisen genehmigte. Zudem existierten noch immer Hürden der sowjetischen sowie deutschen bzw. französischen Bürokratie, und große Teile der Sowjetunion galten als unsicher, so dass sie auch jetzt noch als exotisches Rei-seland erschien76. Trotzdem erweiterte sich in der ersten Hälfte der 1920er Jahre nicht nur die Zahl, sondern auch das Spektrum der Besucher und umfasste bald verschiedenste Berufsgruppen – von Korrespondenten, Journalisten und Reise-schriftstellern über Handels- und Geschäftsreisende, Ingenieure, Techniker und Facharbeiter bis hin zu Beamten, Politikern und Militärs, die im staatlichen Auf-trag in die Sowjetunion fuhren. Auch der wissenschaftliche Austausch mit dem westlichen Ausland wurde von beiden Seiten gepflegt; hinzu kamen Delegations- und Einladungsreisen unterschiedlicher Art77. Die meisten Intellektuellen, die in den 1920er Jahren die Sowjetunion besuchten, kamen als Journalisten oder Wis-senschaftler, häufig auch auf besondere Einladung des sowjetischen Staates.

Die erste unter den behandelten Reisenden, deren Aufenthalt nicht mehr im Zeichen von Bürgerkrieg und Hungerkatastrophe stand, war Magdeleine Marx.

Die Journalistin, Schriftstellerin und Mitbegründerin der Clarté-Bewegung78 kam wahrscheinlich im Spätsommer 192279 für sechs Monate nach Sowjetrussland. Sie war also dort, als am 30. Dezember 1922 die Union der Sozialistischen Sowjetre-publiken (UdSSR) gegründet wurde, die nun neben Russland auch die Ukraine, Weißrussland und den größten Teil des Kaukasus umfasste. Während ihres Auf-enthaltes lernte sie nicht nur Moskau und Petrograd kennen, sondern unternahm auch Reisen in andere Landesteile „de la Baltique à la mer Noire et de la mer d’Azov à la Caspienne“80. Ihr enthusiastischer Bericht erschien noch 1923 unter dem Titel „C’est la lutte finale! … Six mois en Russie soviétique“ im Verlag Flam-marion (Paris).

Auch der deutsche Maler Heinrich Vogeler, der im Mai 1923 über Berlin, Tallinn und Petrograd nach Moskau fuhr, war vom „neuen Russland“ begeistert. Vogeler

76 Vgl. Heeke: Reisen zu den Sowjets, S. 15.

77 Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 51–97.

78 Zur Clarté-Bewegung vgl. oben S. 53.

79 Die Reisedaten lassen sich anhand des Reiseberichts nur schwer rekonstruieren. Am wahrschein-lichsten ist ein Aufenthalt von August oder September 1922 bis Januar oder Februar 1923.

80 Marx: C’est la lutte finale!, S. VI.

reiste in Begleitung seiner Lebensgefährtin Zofia Marchlewska81, deren polnische Eltern in der Sowjetunion lebten: Ihr Vater, Julian Marchlewski, war Kommunist und von 1922 bis zu seinem Tod 1925 Vorsitzender der Internationalen Roten Hilfe (IRH, auf russisch MOPR)82 sowie Rektor der Kommunistischen Universität der nationalen Minderheiten des Westens (KUNMZ). Während der Monate bis zum Sommer 1924 war Vogeler zunächst längere Zeit in Moskau, wo er an der KUNMZ lehrte und wo im Oktober 1923 sein Sohn Jan geboren wurde. Im Mai/Juni 1924 folgte dann ein Aufenthalt in einem Universitätsgut im Gouvernement Tver’ auf den Valdaj-Höhen. Im Juli 1924 fuhr die Familie zur Krim, um danach gemeinsam nach Deutschland zurückzukehren. In seinem Buch „Reise durch Rußland. Die Ge-burt des neuen Menschen“ (Carl Reissner Verlag, Dresden, 1925) berichtete Vogeler in Texten sowie in zahlreichen Zeichnungen und Bildern über seine Eindrücke83.

Die deutsche Frauenrechtlerin und Pazifistin Helene Stöcker traf in Moskau bei einem Besuch der KUNMZ mit Vogeler zusammen und zeigte sich beeindruckt von dessen Vorhaben, während eines mehrmonatigen Aufenthaltes die „Verhält-nisse und die neue Erziehung [in der Sowjetunion] gründlich erforschen“ zu wol-len84. Stöcker selbst war einer Einladung Radeks an einige Mitglieder der Gesell-schaft der Freunde des Neuen Rußland (GdF) gefolgt, der sie im Juni 1923 beige-treten war, und besuchte nun im Oktober/November 1923 für wenige Wochen die sowjetische Hauptstadt, um die dort entstandene „neue Welt“ mit eigenen Augen zu sehen. Unter anderem konnte sie auch an den Revolutionsfeierlichkeiten am 7. November teilnehmen85. Nach ihrer Rückkehr publizierte sie eine Reihe von Aufsätzen in der von ihr selbst herausgegebenen Zeitschrift Die Neue Generation, in denen sie von ihrer Reise berichtete86.

Ebenso wie Stöcker nahm auch Charles Gide – der Onkel des Schriftstellers André Gide – in Moskau an den Feierlichkeiten zum sechsten Jahrestag der Okto-berrevolution teil. Der am Collège de France lehrende Wirtschaftsprofessor, der sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten intensiv mit der Theorie des Genossen-schaftswesens beschäftigte, war vom Zentralverband der Konsumgenossenschaften der UdSSR (Centrosojuz) aus Anlass seines 25-jährigen Bestehens eingeladen

wor-81 Auch Sonja genannt.

82 Meždunarodnaja organisacija pomošči borcam revoljucii [Internationale Organisation zur Un-terstützung von Kämpfern der Revolution]. Auf dem IV. Weltkongress der Komintern im Ok-tober und November 1922 in Moskau war die Gründung eines Proletarischen Roten Kreuzes beschlossen worden. Diese Organisation wurde bald in Internationale Rote Hilfe umbenannt.

Sie hatte in einer Reihe von Ländern eigene Sektionen.

83 Dieser erste Reisebericht wurde erneut abgedruckt in Vogeler: Reisebilder, S. 25–107. Außerdem findet die Reise Erwähnung in Vogelers Ende der 1930er Jahre bis zu seinem Tod 1942 verfass-ten, jedoch erst 1952 publizierten Lebenserinnerungen. Vgl. Vogeler: Erinnerungen, S. 315–317.

S. auch die textkritische und umfangreichere Ausgabe von Vogelers Lebenserinnerungen: Voge-ler: Werden, S. 301–303. Vgl. zu diesem ersten Sowjetunionaufenthalt Vogelers Erlay: Worps-wede – Bremen – Moskau, S. 195–198; Petzet: Von WorpsWorps-wede nach Moskau, S. 140–145; Hoff-meister: Das Sowjetunion-Erlebnis; Pforte: Rußland-Reiseberichte; Stenzig: Worpswede – Moskau, S. 188–191; Bresler: Heinrich Vogeler, S. 86–93.

84 Stöcker: Neue Kulturträger in Rußland.

85 Zu diesem Sowjetunionaufenthalt Stöckers vgl. Rantzsch: Helene Stöcker, S. 118–123; Wickert:

Helene Stöcker, S. 125 f.; Bockel: Philosophin einer „neuen Ethik“, S. 69 f.; sowie Hamelmann:

Helene Stöcker, S. 131 f.

86 Stöcker: Als Antimilitaristin in Rußland; dies.: Das neue Rußland; dies.: Neue Kulturträger in Rußland; sowie dies.: Der Kampf gegen die Wehrpflicht in Rußland.

den und besuchte so im November 1923 das „neue Russland“. Seine Reiseein-drücke publizierte der Professor 1924 unter dem Titel „La Russie soviétique“ im Verlag La Flèche (Sarthe)87.

Als am 21. Januar 1924 Lenin nach schwerer Krankheit starb, befanden sich von den in dieser Arbeit behandelten Personen nur René Marchand und Heinrich Vo-geler in der Sowjetunion88. Bei der Trauerfeier für Lenin, die am 26. Januar statt-fand, trat Stalin erstmals im Namen der Parteiführung auf. Gegen den Willen des Verstorbenen inszenierte er das „Begräbnis“ Lenins, dessen einbalsamierter Kör-per zunächst in einem provisorischen, hölzernen Mausoleum auf dem Roten Platz gebettet wurde89, als pompöses Staatsereignis. Innerhalb von drei Tagen kamen mehr als eine Million Menschen zu dem Sarg. Die Trauer um den Revolutionsfüh-rer war auch im Februar noch deutlich zu spüren, als Kurt Kersten zum zweiten Mal nach Moskau fuhr und zudem die inzwischen in Leningrad umbenannte ehe-malige Hauptstadt des Zarenreiches besuchte90. Über diese Reise veröffentlichte der Autor 1924 im Taifun Verlag (Frankfurt/M.) ein kleines Buch mit dem Titel

„Moskau – Leningrad. Eine Winterfahrt“.

Im Februar 1925 kam der Wirtschaftsjournalist Alfons Goldschmidt ebenfalls ein zweites Mal nach Moskau. Anlass seiner Reise war ein Forschungsaufenthalt an dem seit Dezember 1921 bestehenden Marx-Engels-Institut, wo er beabsichtig-te, sich „einige bibliographische Kenntnisse zu verschaffen“, die er „zur Überset-zung des ‚Kapital‘ von Marx ins Spanische benötigte“91 – ein Projekt, das Gold-schmidt allerdings nie realisieren sollte. Geplant war außerdem ein Treffen mit dem Sekretariat der Internationalen Arbeiterhilfe. Bemüht, immer wieder die Un-terschiede zum Moskau des Jahres 1920 herauszuarbeiten, beschreibt Goldschmidt diesen zweiten Russlandaufenthalt in seinem 1925 im Ernst Rowohlt Verlag (Ber-lin) erschienen Buch „Wie ich Moskau wiederfand“92. Von Interesse ist auch Goldschmidts 1928 veröffentlichter Artikel über das Staatliche Jüdische Theater in Moskau, das er während dieses Aufenthaltes besuchte93.

87 Von Interesse ist auch Charles Gides Vorlesung am Collège de France über das russische Ge-nossenschaftswesen: Gide: La Coopération à l’Etranger. Zur Sowjetunionreise von Gide vgl.

Pénin: Charles Gide, S. 220–225.

88 Vogeler beschreibt den Tag in seiner Autobiographie. Vgl. Vogeler: Erinnerungen, S. 317.

89 Im Sommer 1924 wurde dieses erste Mausoleum durch ein größeres, aber immer noch hölzer-nes Gebäude ersetzt. 1929/30 dann wurde das steinerne Mausoleum in seiner heutigen Form auf dem Roten Platz errichtet.

90 Nur wenige Tage nach Lenins Tod, am 26. Januar 1924, wurde Petrograd in Leningrad umbe-nannt.

91 Goldschmidt: Wie ich Moskau wiederfand, S. 20.

92 Vgl. zu dieser Russlandreise Goldschmidts Kießling: Ein Zeitzeugnis und sein Verfasser, S. 65–

67; Knox: Weimar Germany between two worlds, S. 59–65. S. auch Hertling: Quer durch, S. 61–

86. Goldschmidt hielt sich in der Folge noch mehrmals in der Sowjetunion auf: 1927 nahm er an den Revolutionsfeierlichkeiten in Moskau teil, 1932 hatte er eine Gastprofessur am Internatio-nalen Agrarinstitut in Moskau inne und unternahm eine Studienreise nach Mittelasien, 1933 emigrierte er mit seiner Frau über Moskau in die USA, während seine 22-jährige Tochter in Moskau blieb. Vgl. Heeke: Reisen zu den Sowjets, S. 575 f. Die recht umfangreiche Korrespon-denz der in Moskau unter prekären Verhältnissen lebenden Irene Goldschmidt mit ihrem Vater aus den Jahren 1937 bis 1939 ist überliefert: Humboldt-Universität zu Berlin, Universitäts-archiv zu Berlin, Nachlass Alfons Goldschmidt, 90.

93 Goldschmidt: Das jüdische Theater in Moskau. Zum jüdischen Theater in der Sowjetunion vgl.

allgem. Picon-Vallin: Le théatre juif soviétique; sowie Rühle: Theater und Revolution, S. 97–99.

Auch der kommunistische Anwalt, Schriftsteller und Journalist Paul Vaillant-Couturier kannte die Sowjetunion bereits von einem früheren Aufenthalt, als er im März 1925 in die sowjetische Hauptstadt kam: Er war im Frühjahr und Som-mer 1921 als Leiter der französischen Delegation zum III. Kominternkongress ins

„neue Russland“ gereist. 1925 besuchte er Moskau, wo er im Hotel Lux wohnte und mehrfach Kontakte zum Exekutivkomitee der Komintern hatte94. Außerdem fuhr er nach Leningrad und unternahm einen Ausflug in die Provinz, um ein russisches Dorf zu sehen. Sein Reisebericht „Un mois dans Moscou la Rouge. La vérité sur ‚l’enfer‘ bolchevik“ erschien 1926 im Verlag Editions des reportages populaires E. Parmentier (Paris)95.

Kersten, Goldschmidt und Vaillant-Couturier erlebten auf ihren Reisen, mit welch rasantem Tempo sich das sowjetische Russland innerhalb weniger Jahre ver-ändert hatte. Auch wurde ihnen vor Augen geführt, dass die idealistischen Auf-brüche der Revolutionsjahre im Zuge der Konsolidierung des neuen Regimes Ge-fahr liefen, an Unbedingtheit und an Dynamik zu verlieren. In dieser Situation und nach dem Tod der Führerfigur Lenins traten die widerstrebenden Kräfte in-nerhalb der Bolschewiki immer deutlicher zutage: Angesichts der Stabilisierung in den westeuropäischen Ländern hatte sich die Parteiführung um den Generalsekre-tär Stalin mehr und mehr von der Idee einer unmittelbar bevorstehenden Weltre-volution abgewendet und vertrat seit 1925 die Position, dass es auch möglich sei, den Sozialismus zunächst nur in Russland aufzubauen. Im Mai 1925 stimmte der III. Kongress der Sowjets für den „Sozialismus in einem Lande“. Die „linken“

Kritiker um Trotzki und Preobraženskij jedoch wandten sich gegen diese Linie und betonten immer wieder, wie schwach die wirtschaftlichen Grundlagen für ein sozialistisches System in Russland weiterhin seien und wie unzulänglich die KP auf dem Lande verwurzelt bliebe. Die Parteilinke forderte deshalb, die revolutio-näre Tätigkeit im Westen wieder aufzunehmen und gleichzeitig die industrielle Entwicklung innerhalb Russlands auf Kosten der Bauern zu forcieren. Der „rech-te“ Parteiflügel hingegen, dessen prominentester Vertreter Nikolaj I. Bucharin war, warnte davor, das „Klassenbündnis“ zwischen Arbeitern und Bauern aufzu-lösen, und lehnte Zwang und Restriktionen als Mittel der Wirtschaftspolitik ab.

Heinrich Vogeler scheinen diese innerparteilichen Streitigkeiten über grund-legende Konzepte zur Erreichung des sozialistischen Staates wenig berührt zu haben, als er im Juli 1925 erneut in die Sowjetunion kam. Ähnlich wie Kersten, Goldschmidt und Vaillant-Couturier unternahm auch er bereits zum zweiten Mal eine Russlandfahrt: Auf Einladung der Russischen Roten Hilfe reiste der Maler von Leningrad aus durch Karelien bis nach Murmansk am nördlichen Eismeer und von dort nach Archangel’sk am Weißen Meer, um dann mit dem Dampfer die Dvina aufwärts Richtung Moskau zu fahren. Nach einem Aufenthalt in der sow-jetischen Hauptstadt kehrte er im Oktober zurück nach Deutschland. Seinen

94 Vgl. hierzu einen französischen Polizeibericht vom 22. Mai 1925: „Au sujet du voyage en Russie de Vaillant-Couturier“, AN, F7 13494.

95 Unmittelbar nach seiner Rückkehr veröffentlichte Vaillant-Couturier zudem mehrere Zeitungs-artikel über seinen Aufenthalt. Vgl. Vaillant-Couturier: En Russie, quatre ans après, in: L’Hu-manité, 5., 17. u. 21. Mai 1925.

Reise bericht veröffentlichte er unter dem Titel „Eindrücke aus Karelien und dem nördlichen Rußland“ in der Zeitschrift Das neue Rußland (Jg. 3, H. 5/6, 1926)96.

Auch der französische Reformpädagoge Célestin Freinet und der französische Schriftsteller und Direktor der Zeitschrift Les Humbles, Maurice Wullens, interes-sierten sich kaum für konkrete parteipolitische Probleme, als sie im September 192597 an einer einmonatigen Studienreise teilnahmen, zu der die sowjetische All-russische Gewerkschaft der Bildungsarbeiter Lehrer aus verschiedenen westlichen Ländern eingeladen hatte. Nach einem Aufenthalt in Moskau und Leningrad fuhr die Gruppe zunächst auf der Wolga von Saratov bis Stalingrad98. Wullens bereiste außerdem noch zusammen mit einem kleineren Teil der Lehrerdelegation die Kau-kasusrepubliken, bevor er über Moskau nach Frankreich zurückkehrte. Der Autor publizierte 1927 unter dem Titel „Paris – Moscou – Tiflis. Notes et souvenirs d’un voyage à travers la Russie soviétique“ einen Reisebericht im Verlag der Zeitschrift Les Humbles (Paris)99. Auch Freinets Bericht „Un mois avec les enfants russes“ – der insofern eine Besonderheit darstellt, als er für Kinder und Jugend liche ge-schrieben ist – erschien 1927 in der Zeitschrift Les Humbles100.

Wahrscheinlich im Monat der Abreise Vogelers, im Oktober 1925, traf der habi-litierte Mathematiker Emil Julius Gumbel in Moskau ein. Dieser hatte dank seiner guten Verbindungen zu Willi Münzenberg und Julius Schaxel101 für sechs Monate, bis Anfang April 1926, eine Anstellung am Marx-Engels-Institut erhalten, wo er damit betraut war, mathematische Notizen von Marx druckfertig zu machen102. Gumbel befand sich also in Moskau, als Stalin im Dezember 1925 in seinem Amt als Generalsekretär der Kommunistischen Allunionspartei (Bolschewiki) – so der Name seit 1925 (auf deutsch auch damals schon gelegentlich KPdSU) – bestätigt wurde, wodurch nicht nur seine Machtstellung, sondern auch sein politischer Kurs eine Stärkung erfuhr. Gumbel veröffentlichte 1927 unter dem Titel „Vom Rußland der Gegenwart“ seine geradezu anthropologischen Beobachtungen über das „neue Russland“ bei der E. Laubschen Verlagsbuchhandlung (Berlin)103.

96 Der Reisebericht wurde, teilweise um Bilder und Zeichnungen Vogelers ergänzt, erneut abge-druckt in: Vogeler: Reisebilder, S. 109–127. Diese Ausgabe wird im Folgenden verwendet. Zu der Reise des Jahres 1925 vgl. Bresler: Heinrich Vogeler, S. 95–97.

97 Die Zeitangabe in Freinets Reisebericht ist vage und missverständlich. Nach dem Reisebericht von Wullens jedoch, der sehr genau datiert ist und in dem Freinet mehrmals Erwähnung findet und auch fotografisch abgebildet ist, dauerte der Aufenthalt vom 1. bis zum 26. September 1925. Vgl. Wullens: Paris – Moscou – Tiflis, S. 33 u. 212.

98 Volgograd wurde 1925 in Stalingrad umbenannt. Zur Sowjetunionreise Freinets vgl. Peyronie:

Célestin Freinet, S. 23–25; Acker: Célestin Freinet, S. 91 f.; sowie Freinet: Elise et Célestin Frei-net, Bd. 1, S. 108 f.

99 Wullens bereiste 1929 ein zweites Mal die Sowjetunion, publizierte hierüber jedoch keinen Reisebericht. Vgl. GARF, fond 5283, opis’ 7, delo 13, Bl. 148 f.

100 Freinet: Un mois avec les enfants russes.

101 Vgl. Brenner: Emil J. Gumbel, S. 63.

102 Die von Gumbel vorbereitete Publikation der mathematischen Schriften erfolgte allerdings nicht – ein möglicher Grund könnte darin liegen, dass Gumbel auf die mathematische Uner-heblichkeit der Notizen hingewiesen hatte und dies kaum mit dem Mythos von Marx’ Genie vereinbar war. Vgl. Vogt: Emil Julius Gumbel, S. 20–23 u. 190–193. Gumbel veröffentlichte le-diglich 1927 in russischer Sprache eine kurze Mitteilung „Über die mathematischen Manu-skripte von K. Marx“ in der sowjetischen Zeitschrift Letopisi Marksizma [Annalen des Mar-xismus] (3/1927, S. 56–60), nachgedruckt in ebd., S. 182–189.

103 Gumbels Reisebericht erschien zunächst 1926/27 in Ausschnitten in unterschiedlichen Zeitun-gen. Vgl. Brenner: Emil J. Gumbel, S. 64, Anm. 42. Zu Gumbels erstem Russlandaufenthalt

Ebenfalls im Winter 1925/26 kam der durch seinen Reportagenband „Der rasende Reporter“ berühmt gewordene deutschsprachige Prager Journalist und Schriftsteller Egon Erwin Kisch in die Sowjetunion. Höchstwahrscheinlich im Dezember 1925 fuhr er nach Moskau, um dann in der ersten Jahreshälfte 1926 Leningrad, das Donezgebiet und Transkaukasien zu bereisen104. Nach seiner Mit-te Mai 1926 erfolgMit-ten Rückkehr veröffentlichMit-te er die überaus erfolgreiche Repor-tage „Zaren Popen Bolschewiken“ (E. Reiss, Berlin, 1927)105: Allein zwischen 1927 und 1929 erlebte das Buch zehn Auflagen. Auch in seinem „Kriminalisti-schen Reisebuch“ (Verlag Die Schmiede, Berlin, 1927)106 sowie in zahlreichen ver-streuten Artikeln107 thematisiert Kisch seine erste Sowjetunionreise108.

Stalin nimmt in Kischs Reisebericht durchaus noch keine dominierende Stel-lung ein: Doch gerade um die Mitte der 1920er Jahre verstand es der General-sekretär, sein politisches Gewicht geschickt auszubauen. Inzwischen hatte die Produktion der russischen Industrie und Landwirtschaft ungefähr wieder das Niveau von 1914 erreicht. Endlich war es dem neuen Regime gelungen, Hunger und Not zu überwinden und die Lage im Innern zu konsolidieren: Die NE˙P hatte sich als der richtige Weg erwiesen. Stalin, der den 14. Parteitag vom Dezember 1925 hinter sich wusste, verteidigte diese Politik gegen die „linken“ Kritiker um Trotzki. Schließlich warf die Parteiführung der „linken“ Opposition spalterische Tendenzen und Fraktionsbildung vor, was 1926 zu ihrem Ausschluss aus dem Po-litbüro führte.

Den ausländischen Besuchern, die Mitte der 1920er Jahre in die Sowjetunion kamen, mussten diese Konflikte und auch die Methoden, mit denen unliebsame politische Gegner bekämpft werden konnten, keineswegs verborgen bleiben. So wurde der deutsche Schriftsteller Ernst Toller, der im Jahr 1926 Anfang März für einen zehnwöchigen Aufenthalt nach Moskau reiste109, selbst Opfer einer Ver-leumdungskampagne in der Pravda110. Nur zögernd und erst einige Jahre später

vgl. ausführlich Vogt: Emil Julius Gumbel, S. 20–24; Sheynin: Gumbel, Einstein and Russia, S. 9–15; Benz: Emil J. Gumbel, S. 176 f.; Jansen: Der Zivilist als Außenseiter, S. 14 f. u. 23–26;

Wolgast: Emil Julius Gumbel, S. 13 f.; sowie Brenner: Emil J. Gumbel, S. 63–65. Vgl. auch ein Schreiben der Deutschen Botschaft in Moskau an das Auswärtige Amt vom 5. November 1925, BArch, R 1501, 113394d, Bl. 13.

104 Aus der umfangreichen Sekundärliteratur über Kisch vgl. zu seiner ersten Russlandreise Gold-stücker: Egon Erwin Kisch, F. C. Weiskopf, S. 40–46; Hertling: Quer durch, S. 114–149;

Schlenstedt: Egon Erwin Kisch, S. 283 f.; Wessel: „He, wer schreitet dort rechts aus?“; Hofmann:

Egon Erwin Kisch, S. 203–208; Knox: Weimar Germany between two worlds, S. 75–87; Patka:

Egon Erwin Kisch, S. 112; ders. (Hg.): Der rasende Reporter Egon Erwin Kisch, S. 104–106.

105 Kischs Reportage erschien zunächst als Vorabdruck im linksliberalen Tagebuch. Verwendet wurde eine Ausgabe des Knaur-Verlags von 1983. Zur ersten Sowjetunionreportage Kischs vgl. Geissler: Die Entwicklung der Reportage Egon Erwin Kischs, S. 45–56.

106 Verwendet wurde eine Ausgabe aus dem Jahr 1994. Vgl. Kisch: Kriminalistisches Reisebuch.

107 Vgl. Quellenverzeichnis.

108 Nicht eindeutig belegen lässt sich eine eventuelle zweite Reise Kischs in die Sowjetunion im Jahr 1927: Möglicherweise nahm er im November 1927 an der I. Internationalen Konferenz proletarischer und revolutionärer Schriftsteller in Moskau teil. Vgl. Patka: Egon Erwin Kisch, S. 113.

109 Zu Tollers Sowjetunionreise vgl. Hertling: Quer durch, S. 49–60; Haar: Ernst Tollers Verhält-nis zur Sowjetunion; Lixl: Ernst Toller, S. 115–117; Dove: Revolutionary Socialism, S. 381–389;

ders.: Ernst Toller, S. 219–225; Distl: Ernst Toller, S. 133–136; sowie Knox: Weimar Germany between two worlds, S. 135–192.

110 Vgl. hierzu Toller: Quer durch, S. 96–103.

berichtete Toller über diese Reise in seinem Buch „Quer durch. Reisebilder und Reden“ (Gustav Kiepenheuer Verlag, Berlin, 1930), dessen Grundtenor zwar nicht unkritisch, aber insgesamt dennoch positiv blieb.

Heinrich Vogeler, der bereits von November 1925 bis März 1926 eine dritte Sowjetunionreise unternommen hatte, über die jedoch keine Publikation vorliegt, machte sich gemeinsam mit Zofia Marchlewska Anfang Juli 1926 erneut nach Moskau auf. Am 20. Juli erlebte er dort den Tod von Feliks Dzierżyński, Gründer und bis 1926 Leiter der politischen Geheimpolizei111. Im September und Oktober fuhr der Maler zusammen mit Zofia Marchlewska, zwei befreundeten russischen Studenten und dem Hund Lajka von Moskau nach Taškent, Ura-Tjube und Sa-markand. Von dort aus setzte Vogeler die Reise alleine fort und gelangte mit dem

Heinrich Vogeler, der bereits von November 1925 bis März 1926 eine dritte Sowjetunionreise unternommen hatte, über die jedoch keine Publikation vorliegt, machte sich gemeinsam mit Zofia Marchlewska Anfang Juli 1926 erneut nach Moskau auf. Am 20. Juli erlebte er dort den Tod von Feliks Dzierżyński, Gründer und bis 1926 Leiter der politischen Geheimpolizei111. Im September und Oktober fuhr der Maler zusammen mit Zofia Marchlewska, zwei befreundeten russischen Studenten und dem Hund Lajka von Moskau nach Taškent, Ura-Tjube und Sa-markand. Von dort aus setzte Vogeler die Reise alleine fort und gelangte mit dem

Im Dokument Eva Oberloskamp Fremde neue Welten (Seite 98-123)