Inkontinente Ältere zeigen in der Regel die gleichen Multimorbiditäts
muster wie Nichtinkontinente (3).
Dabei ist der Einfluß von Erkran
kungen auf die Fahrtauglichkeit schwierig abzuschätzen. Mehrere Untersuchungen weisen auf eine er
höhte Unfallgefahr bei Vorliegen un
terschiedlicher Krankheiten hin. De
mentielle Erkrankungen erhöhen, unabhängig von ihrer Ursache, die Unfallgefahr erheblich (28). Auto
fahrer mit einer koronaren Herz
krankheit hatten einer Untersu
chung zufolge eine 62% höhere Un
fallrate: andere Untersuchungen er
brachten kein erhöhtes Risiko, ver
glichen mit Gesunden (17). Untersu
Fehler
Altersgruppen
41-50 51-60 61-70 71-80 18-30 31-40
I Abb. 1: Untersuchung der Vigilanz - Er
gebnis einer Testreihe mit 420 Personen
chungen über den Einfluß einer In
kontinenz auf das Autofahren liegen bisher nicht vor. Inkontinenz ist nur ein Symptom einer Erkrankung, das ohne Zweifel die Lebensqualität be
einträchtigt. Vordergründig dürfte aber die auslösende Krankheit be
züglich des Verkehrs im Vorder
grund stehen.
Ältere Diabetiker haben ein um das 2,6fache erhöhtes Risiko, in ei
nen Autounfall mit Verletzungsfol
gen verwickelt zu werden. Das Risi
ko steigt weiter an, wenn sie mit In
sulin oder Sulfonylharnstoffen be
handelt werden oder wenn gleich
zeitig eine koronare Herzkrankheit vorliegt (11). Auch scheinbar harm
lose Erkrankungen wie eine Bursitis können in Folge der eingeschränk
ten Bewegungsfähigkeit bei älteren Autofahrern zu einer erhöhten Un
fallgefahr fuhren (27).
Die bestehende Multimorbidität bei Inkontinenz zieht in der Regel auch eine Multimedikation nach sich. Eine solche Multimedikation kann dann direkt die Fahrtüchtig
keit beeinträchtigen oder indirekt die Nebenwirkungsrate der Para
sympatholytika überlagern bzw. ver
stärken. Tabelle 1 zur Gefährdung der Verkehrssicherheit durch verschie
dene Substanz- bzw. Indikations
gruppen gibt einen groben Hinweis, welche Medikamentgruppen hier ein Gefährdungspotential bieten.
Nicht vergessen werden darf, daß unerwünschte Arzneimittelwirkun
gen im Alter häufiger sind als bei jüngeren Personen. Einige Studien haben - bei allen methodischen Schwierigkeiten - mehrere Medika
mentgruppen in Verbindung mit ei
ner eingeschränkten Fahrtauglich
keit und einer erhöhten Unfallgefahr gebracht. Zyklische Antidepressiva und zentral wirkende Analgetika ge
hen mit einer in etwa verdoppelten Unfallgefahr einher (7, 11, 22). Auf die Potenzierung bzw. Überlagerung der Nebenwirkungsrate von Inkonti
nenzmedikationen wird nachfol
gend kurz eingegangen.
I Inkontinenzmedikation
Die wenigen experimentellen Ar
beiten zu möglichen Leistungsbe
einträchtigungen durch Parasympa
tholytika/Spasmolytika beziehen sich im wesentlichen auf Atropin und Scopolamin. Beiden wird eine deutliche Sicherheitsgefährdung für den Verkehrsbereich attestiert (29;
Tab. 1). Diese sind jedoch in ihrer che
mischen Struktur und Wirkweise, insbesondere auch im Hinblick auf ihre Indikationen, in keiner Weise mit den heute üblichen Präparaten der Inkontinenz-Therapie (Oxybuty- nin, Propiverin und Trospiumchlo- rid) zu vergleichen. Am Zentrum für
THERAPIESTUDIE
Psychometrie und Klinische Prüfung des TÜV Rheinland in Köln wurden nun die drei gebräuchlichsten An
ticholinergika Trospiumchlorid, Oxybutynin-HCl und Propiverin-HCl mittels einer für Verkehrssicher
heitsprüfungen üblichen Testbatte
rie (2, 5,6,10.20; Abb. 2} hinsichtlich ihrer Effekte auf das Leistungsver
mögen überprüft (8).
Geprüft wurde, wie sich Anticholi
nergika (2x20mg Trospiumchlorid, 3x5mg Oxybutynin und 3x15mg Pro- piverin) auf visuelle Orientierung, Konzentration, Vigilanz, motorische Koordination, Reaktion unter Streß und aktuelles Befinden auswirken.
Jeweils 18 Probanden im Alter zwi
schen 35 und 70 Jahren wurden zu Beginn der Einnahme, nach einem und nach sieben Tagen Einnahme untersucht. Das für den Alltag - nicht nur für das Autofahren - wich
tige Ergebnis war, daß alle drei Sub
stanzen zu keinen Leistungsver
schlechterungen unter Medikation führten.
ln der Untersuchung zeigten sich allerdings Unterschiede zwischen den Substanzen in der Vigilanz. Die Vigilanzeinbußen bei der Einnahme von Medikamenten werden mit zu
nehmendem Alter bedeutsamer, wie die oben angeführten physiologi
schen Veränderungen in diesem Be
reich deutlich machen. Im Bereich der Vigilanz unterscheiden sich die
Score aus Reaktionszeiten und Fehlern
2.5 ±0,8 ±0.8 ±1.0
Jt
Vor Therapie
(Baseline) Tagesgabe
nach 7 Tagen
Trospiumchlorid ■ Oxybutynin ■ Propiverin n-54
Abb. 3: Mittelwerte und Standardab
weichungen (baseline adaptiert):
Trospiumchlorid versus Oxybutinin + Propiverin am 1. Tag p = 0,01 Trospiumchlorid versus Propiverin am 7. Tag p = 0,01
tertiären Ammoniumbasen (Oxybu
tynin und Propiverin) durchaus be
deutsam vom quaternären Amin Tro
spiumchlorid (Abb. 3).
Oxybutynin und Propiverin gehören zu den lipidlöslichen Para
sympatholytika, die die Blut-Liquor- schranke passieren. Eine klinische Prüfung zur Penetration der Blut-Li- quorschranke erbrachte den Beleg, daß Trospiumchlorid auch im quan
titativen EEG im ZNS nicht nach
weisbar ist (15).
Zentrale Wirkungen haben bei oraler Gabe im therapeutischen Do
sisbereich für Trospiumchlorid kei
ne Bedeutung. Dies veranlaßt Kurz (12) im Standardwerk von Ammon (Arzneimittelnebenwirkungen und - wechselwirkungen/Handbuch und Tabellenwerk für Ärzte und Apothe
ker) zu schreiben: Bei den qua
ternären Verbindungen ist die Ge
fahr, daß es zu einer wesentlichen Verringerung der Fahrtüchtigkeit kommt, nur nach parenteraler An
wendung, vor allem bei hoher Do
sierung. gegeben.
Die gefundenen Unterschiede im Vigilanzbereich für die drei Medika
mente fanden ihre Bestätigung in der TÜV-Studie und in der Erhebung des Befindens mit stärkerer Desakti- viertheit, Benommenheit und Mü
digkeit bei den tertiären Aminen.
Ferner ist die Nebenwirkungspro
blematik bei den quaternären Ami
nen, wie Trospiumchlorid, gegen
über den tertiären geringer ausge
prägt (24). Die bekannte höhere Ra
te unerwünschter Nebenwirkungen (14), insbesondere beim Symptom Mundtrockenheit, von Oxybutynin gegenüber Trospiumchlorid fand sich auch in der TÜV-Studie bestätigt.
Unter Trospiumchlorid wurde Mund
trockenheit nur einmal, unter Oxy
butynin dagegen elfmal und unter Propiverin neunmal genannt.
Wichtig für die Fahrtüchtigkeits
beurteilung ist auch, daß beim Tro
spiumchlorid als quaternäres Amin der Ziliarmuskel nur unwesentlich beeinflußt wird (23). Die in der vor
liegenden TÜV-Studie (8) durchge
führten Tests, die eine präzise
visu-■ Abb. 4: Besonders bei multimorbiden Patienten an eine Vigilanzbeeinträchti-gung denken!
eile Orientierung und eine motori
sche Koordination zur Präzision der visuellen Orientierung erfordern, er
brachten keinen indirekten Hinweis auf eine mögliche Beeinflussung der Sehfähigkeit.
Offen bleibt, inwieweit Interaktio
nen im Rahmen einer durchaus üb
lichen Medikation bei älteren Pati
enten die bekannten parasympatho
lytischen Nebenwirkungen wie Ak
kommodationsstörungen, Sedation und Tachykardie zu einem Problem im Verkehr werden lassen (18).
Beispielhaft sind hier mögliche Überlagerungen bei einer gleichzei
tigen Hypertoniebehandlung zu nen
nen, auch wenn entsprechende Stu
dien und Erkenntnisse über Kombi
nationsbehandlungen in diesem Be
reich bisher nicht vorliegen. Am Bei
spiel der H3q)ertonie ist zu raten, daß man Antihypertensiva gibt, die nur geringfügig sedieren und zu keiner ausgeprägten Orthostase führen.
Clonidin und Prazosin eignen sich deshalb weniger für bluthochdruck
kranke Kraftfahrer. Statt Clonidin könnte man Moxonidin oder Lofexi- din einsetzen (21).
293
I Fazit
Die Betreuung älterer, inkonti- nenter Verkehrsteilnehmer verlangt vom Arzt eine auf die multimorbiden Bedürfnisse ausgerichtete Inkonti
nenztherapie. Die vorliegenden Un
tersuchungen, insbesondere die Un
tersuchung am Zentrum für Psycho- metrie und Klinische Prüfung des TÜV Rheinland, machen deutlich, daß die häufig eingesetzten An
ticholinergika Trospiumchlorid, Oxybutynin und Propiverin bei Pro
banden keine signifikanten, multi
plen Leistungsverschlechterungen über die Medikationsphase verursa
chen. Allerdings zeigen die tertiären Ammoniumbasen, wie z.B. Oxybuty
nin und Propiverin, im Gegensatz zum quaternären Amin Trospi
umchlorid eine Vigilanzbeeinträch- tigung. Sie basiert vermutlich auf der Liquorgängigkeit und damit der Ein
flußnahme auf das ZNS. Auch die Ne
benwirkungsrate ist bei den ter
tiären Aminen deutlich höher, was besonders im Rahmen der Multi
morbidität mit parasympatholyti
schen Überlagerungen anderer Me
dikationen zu beachten ist.
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Dr.rer.nat.K.W. Herberg
conTest - Zentrum für Psychometrie und Klinische Prüfung TÜV Rheinland Am Grauen Stein
51105 Köln
Prof.Dr.med.I.Füsgen
Lehrstuhl für Geriatrie der Universität Witten-Herdecke
Tönisheiderstraße 24 42553 Velbert