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2 Bisherige Modelle und Befunde zum Umgang mit dynamischen

3.3 Grundlagen der Repräsentation dynamischer Systeme

3.3.2 Hypothesen

Die Repräsentation der Daten bildet die Grundlage für (2) die Entwicklung von Hypo-thesen über Variablenzusammenhänge, die in ihrer Gesamtheit als “subjektives Kau-salmodell” (FUNKE, 1986a) oder “mentales Modell” (z.B. OPWIS, 1985) des Pro-blemlösers über das dynamische System bezeichnet werden. Dieser Teil der Reprä-sentation des Variablengefüges betrifft in entscheidender Weise Wissenserwerb und Wissensanwendung. Wie kein anderer ist er Gegenstand permanenter Veränderung durch den Problemlöser – ja man kann sagen: an dieser Stelle spiegelt sich der Prozeß

der Informationsverarbeitung am deutlichsten! Daher sei erlaubt, hierauf etwas aus-führlicher einzugehen.

Unter Hypothesen versteht man Erwartungen über bestimmte Zusammenhänge.

Solche Erwartungen begegnen einem häufig in Form von “wenn-dann”-Aussagen, ge-wichtet mit einer Angabe über die Sicherheit dieser Aussage. In den von uns durchge-führten Untersuchungen kommen etwa Hypothesen derart vor: “Wenn ich Olschen hinzufüge, erhöht sich die Zahl der Gaseln”. Solche Hypothesen bilden das Grundge-rüst für das mentale Modell, das “operative Abbild”, die interne Repräsentation des beobachteten Systems. Repräsentiert werden die Zusammenhänge zwischen Varia-blen; das Repräsentat dieser Zusammenhänge nennt man Hypothese.

Aus dieser Sicht kann man den Vorgang des Wissenserwerbs über ein zunächst un-bekanntes dynamisches System als Prozeß der Hypothesengenerierung und der Hypo-thesenprüfung bezeichnen. Um zu empirisch gehaltvollen Aussagen vorzudringen, müssen die beiden Aspekte der Erzeugung und der Prüfung jedoch präzisiert werden, zusätzlich zu den Angaben über das Repräsentationsformat und über darauf zulässigen Operationen. Eine Theorie über den Prozeß des Wissenserwerbs – Wissen hier als Hy-pothesenkonglomerat verstanden – muß also zu folgenden vier Fragen Stellung bezie-hen:

(1) Welche Form nehmen derartige Hypothesen an, genauer gesagt: aus welchen Be-standteilen setzt sich eine Hypothese zusammen?

(2) Wie kommt es zur Bildung einer einzelnen Hypothese? Aufgrund welcher Beob-achtungen/äußerer Ereignisse kommt eine derartige Abstraktionsleistung zu-stande?

(3) Wie können verschiedene Einzelhypothesen zu einem Hypothesen-“Ensemble”

zusammengefaßt werden, das wir unter dem Begriff des mentalen Modells fas-sen?

(4) Welche kognitiven Operationen sind auf derartigen Hypothesen bzw. Hypothe-sen-Ensembles erlaubt? Wie erfolgen z.B. Modifikation und Löschung?

Zumindest zu (1) soll bereits jetzt ein Antwortversuch unternommen werden. Nach den bisherigen Ausführungen wird angenommen, daß Hypothesen über Zusammen-hänge zwischen den Variablen eines dynamischen Systems die Grundlage für das mentale Modell des Akteurs bilden. Die einfachste Form einer Hypothese H besteht aus vier Komponenten (“Quadrupelmodell”):

H := < V1, V2, Z, S > (3.4)

Die in Definition (3.4) dargestellten Komponenten V1 und V2 bezeichnen zwei Vari-ablen, über die in Hypothese H ein Zusammenhang Z mit Sicherheit S formuliert wird. Diese paarweise Verknüpfung von Variablen wird auch als bivariate Repräsen-tationshypothese bezeichnet.

Die Variablenangaben V stammen aus der Menge der vorgegebenen bzw. vom Pb als wirksam angenommenen Variablen. In aller Regel – sofern keine Intransparenzbe-dingung vorliegt – handelt es sich um eine Kombination einer exogenen mit einer dogenen Variable oder um eine von einer endogenen Variablen mit einer anderen en-dogenen Variable. Die an erster Stelle genannte Variable V1 stellt dabei die mögliche Ursache, die an zweiter Stelle genannte V2 die mögliche Wirkung dar. Eine Kom-bination von endogener V1 mit exogener V2 widerspräche zwar der Definition einer exogenen Variablen (als von nichts anderem abhängig als höchstens ihrem eigenen

vorherigen Zustand), könnte aber empirisch realisiert werden, da nicht jeder Problem-löser ein entsprechendes Kausalitätsprinzip befolgen muß.

Die Zusammenhangsangabe Z stammt aus der Menge aller möglichen Zusammen-hangsformen, die ein Individuum kennt bzw. in einer gegebenen Situation für möglich hält. Diese Zusammenhangsformen können vielfältiger Art sein: neben abstrakten Zusammenhangsbeschreibungen etwa in Form mathematischer Modelle können auch konkrete Angaben in Form von Propositionen sowie Mischformen aus quantitativen wie qualitativen Beschreibungen vorliegen. Angaben zu zeitlichen Qualitäten des Zu-sammenhangs (z.B. zeitverzögerter Effekt) finden sich ebenfalls an dieser Stelle. Die Annahme verschiedener Stufen der Repräsentation (z.B. bei PLÖTZNER et al., 1990:

qualitativ, semiquantitativ-relational, quantitativ-relational und quantitativ-numerisch) trägt zum einen dem schrittweisen Aufbau von Wissen Rechnung, andererseits auch der Flexibilität bei der Nutzung bereits vorliegenden Wissens.

Die Sicherheitsangabe S einer Hypothese H hebt auf ihren Bewährungsgrad ab: Je mehr empirische Instanzen gegeben sind, die sich mit der fraglichen Hypothese in Einklang bringen lassen, umso sicherer ist die Annahme ihrer Richtigkeit. Dabei spielt der Präzisionsgrad der Zusammenhangsform Z eine wichtige Rolle: Je präziser Z formuliert ist – unter sonst gleichen Bedingungen –, umso leichter dürfte die Gültig-keit der Hypothese H überprüft werden können. Die Angabe S setzt also die Existenz eines (impliziten oder expliziten) Feedbacks voraus, einer Bewertung also, die den Grad der Richtig- bzw. Falschheit einzuschätzen hilft.

Aus schematheoretischer Sicht könnte man sagen: Eine Hypothese ist ein Schema mit vier “slots” – den oben angeführten Bestandteilen V1, V2, Z und S – wobei die Kenntnis der semantischen Etiketten von V1 und V2 Standardwerte (“defaults”) für die Zusammenhangsform Z und die dafür anzunehmende Sicherheit S bereitstellt.

Gibt man etwa die Etiketten “Umsatz” und “Gewinn” vor, so wird die vermutete Zu-sammenhangsform (z.B. “positiv verknüpft”) zugleich eine hohe Sicherheit besitzen;

diese könnte etwa abnehmen, wenn man Z präzisierte (z.B. “linear wachsend”), da mit wachsender Präzision empirische Ereignisse denkbar sind, die der Vermutung widersprechen könnten.

Ausgehend vom “Quadrupel”-Format von Hypothesen stellen sich wiederum Fra-gen, auf die eine Theorie des Wissenserwerbs in unbekannten dynamischen Systemen antworten können sollte:

(1) Wie erfolgt die Auswahl einer aktuell vorliegenden Hypothese Hakt aus dem Ge-samtrepertoire aller möglichen Hypothesen Htot (“Strategiefrage”)?

(2) Wie kommt für ein bestimmtes Paar (V1, V2) von Variablen die vermutete Zu-sammenhangsform Z zustande (“Detektionsfrage”)?

(3) Wie bestimmt sich der Sicherheitsgrad S, der an eine bestimmte Hypothese H geknüpft ist (“Bekräftigungsfrage”)?

Darauf wird im folgenden Abschnitt einzugehen sein, der sich mit den Regeln zur Modellbildung und -prüfung beschäftigen wird. Hypothesen der eben beschriebenen Art können in verschiedener Form anfallen:

(2.1) Bivariate Zusammenhangshypothesen. Diese beziehen sich auf den Zusammen-hang zwischen je zwei Systemvariablen (wobei es sich auch um eine Variable zu zwei Zeitpunkten handeln kann) und stellen die einfachste Form der Zusam-menhangsrepräsentation dar. V1 und V2 aus Definition (3.4) stellen dabei

je-weils eine einzige Variable dar. Es wird zu zeigen sein, daß aus diesen Basishy-pothesen unter Verwendung geeigneter Regeln komplexere HyBasishy-pothesen gebildet werden können, wie sie der nächste Punkt beschreibt.

(2.2) Multivariate Zusammenhangshypothesen, bei denen V1 und/oder V2 Mengen von Variablen sein dürfen. Diese können in der Form von Dependenzhypothe-sen (“von welchen Variablen hängt eine endogene Variable y ab?”, zielorien-tierte Perspektive) oder in Form von Effektanzhypothesen (“auf welche Vari-ablen wirkt eine exogene Variable x ein?”, maßnahmenorientierte Perspektive) vorliegen. Die Klassifikation greift auf die bei DÖRNER et al. (1983, p. 420) dargelegte Unterscheidung von Dependenz- und Effektanzanalysen zurück, die dort als Kausalanalysen “vorwärts” bzw. “rückwärts” bezeichnet wurden.

Der gesamte Bereich sonstiger Hypothesen (etwa über die Untersuchungsabsichten des Forschers) wird hier ausgeklammert, da er nur schwer eingrenzbar ist und für die verfolgte Fragestellung (Repräsentation eines dynamischen Systems) ohne Bedeutung ist.