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5 HIV, soziales Kapital und Vulnerabilität

Im Dokument Armut und Gesundheit (Seite 130-133)

Mehrzahl der von uns interviewten Frauen, wie auch Mariamu, lebten deutlich unterhalb der von der Weltbank festgelegten Armutsgrenze34.

HIV und AIDS sind in Tansania – wie auch anderswo auf der Welt – mora-lisch beladen und stark stigmatisiert. Alle von uns interviewten Frauen berichteten von erlebter Diskriminierung, die oft zu sozialer Marginalisierung führte35. Ma-riamu und weitere Frauen berichteten, dass sie nach Bekanntwerden ihrer Diagno-se das Haus ihres Mannes verlasDiagno-sen mussten und zurück zu ihren Eltern gezogen seien. Die überwiegende Mehrzahl der interviewten Frauen (70 %) lebte zum Zeit-punkt des Interviews von ihrem Lebenspartner getrennt, geschieden oder war bereits verwitwet.

Facetten aus und was bedeutet eine HIV-positive Diagnose, Armut und dessen Einzeldimensionen für ein Individuum im Alltag? Paul Farmer38, beschreibt in seinem Buch Infections and Inequalities39 sehr eindrücklich das Schicksal einiger HIV-infizierter Frauen in Haiti, Indien und den USA. In seinen Interviews wird facettenreich dargestellt, wie eine Kombination an Umständen zu einer Infektion führte. Farmer hebt hier insbesondere hervor, dass die von ihm interviewten Frau-en mehr gemein habFrau-en würdFrau-en als lediglich monetäre Armut. Vielmehr ist ihr Umfeld von sogenannter struktureller Gewalt geprägt:

„Their sickness is a result of structural violence: neither culture nor pure individual will is at fault; rather, historically given (and often economically driven) processes and forces conspire to constrain individual agency. Structural violence is visited upon all those whose social status denies them access to the fruits of scientific and social progress. (...) Structural violence means that some women are, from the outset, at high risk of HIV infection, while other women are shielded from risk“40. Dilger nimmt Bezug auf Farmer und schreibt:

„Erst vor dem Hintergrund der gesellschaftlich produzierten Vulnerabilität von Frauen könne überhaupt verstanden werden, warum sich die HIV/AIDS-Epidemie in bestimmten Gesellschaften so stark ausbreite und warum, damit verbunden, Frauen durch AIDS in sehr unterschiedlicher Weise stark gefährdet und beansprucht seien“41

Soziales Kapital, insbesondere in Form von sozialen Netzwerken, ist in Tansania, einem Land mit limitierten Ressourcen und niedrigem Einkommen, besonders wichtig. Es kann insbesondere in einem Krankheitsfall über Leben oder Tod ent-scheiden. Unterstützung für Frauen – monetär, physisch, aber auch sozial – kommt in der Regel von der Herkunftsfamilie und der Familie des Ehemanns. In Tansania ist ein einheitliches und funktionierendes Krankenversicherungssystem quasi nicht existent, Medikamente in den Krankenhäusern oft nicht vorrätig und müssen privat erworben werden. Die Pflege von kranken Personen wird von Fa-milienmitgliedern übernommen – insbesondere Frauen. Krankenhäuser sind häu-fig massiv unterbesetzt und es mangelt an qualifiziertem Personal.

38 Prof. Paul Farmer ist amerikanischer Arzt und Ethnologe und Leiter der Abteilung für Global Health and Social Medicine an der Harvard Universität.

39 Paul Farmer, Infections and Inequalities: The Modern Plagues (University of California Press, 2001). Zu Deutsch: „Infektionen und Ungleichheiten“.

40 Ibid., 79. Im Deutschen lautet die Übersetzung in etwa: „Ihre Krankheit ist ein Ergebnis struktu-reller Gewalt. Weder der kulturelle Hintergrund noch das Individuum tragen die Schuld, sondern vielmehr historische (und ökonomisch angeheizte) Prozesse und Kräfte tun sich zusammen und zwingen einen Einzelnen. Strukturelle Gewalt betrifft all diejenigen deren sozialer Status den Zugang zu den Früchten wissenschaftlicher und sozialer Fortschritte verwehrt bleibt. (…) Strukturelle Gewalt heisst, dass manche Frauen, von aussen betrachtet, einem hohen Risiko einer HIV-Infektion ausge-setzt sind, wohingegen andere Frauen vor diesem Risiko bewahrt bleiben.“

41 Hansjörg Dilger, Leben mit Aids (Frankfurt am Main [u.a.]: Campus, 2005), 31.

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Schlusswort

Um die Folgen von HIV (und AIDS) auf Armut, als auch umgekehrt die Bedeu-tung von Armut für das Risiko einer HIV-Infektion zu beleuchten, wird sich in der Literatur oftmals auf den rein ökonomischen Armutsbegriff gestützt, der sich am Einkommen einer Person orientiert. Wie gezeigt werden konnte, ist davon auszu-gehen, dass HIV einen deutlichen Einfluss auf die Wirtschaftsleistung eines Lan-des hat. Inwiefern Armut – wie von der Weltbank definiert – zur erhöhten HIV-Prävalenz beiträgt wird jedoch konträr diskutiert. Es konnte gezeigt werden, dass der eindimensionale Armutsbegriff gemessen am Einkommen hier nicht ausreicht und vielmehr eine Kombination an Faktoren zu einer erhöhten HIV-Prävalenz führen.

Wie das Beispiel auf der Mikroebene belegt, spiegelt Armut, wie sie von der Weltbank und anderen global players definiert wird, nicht die Lebenswirklichkeit der von uns interviewten Frauen wider. Es kann vielmehr angenommen werden, dass geringe Mehreinnahmen, die die Frauen über die von der Weltbank definierte Armutsgrenze heben würden, nicht weniger arm machen würden und Entschei-dungen und Verhalten hierdurch nichtwesentlich verändert werden würden. Das Kapital eines Menschen besteht nicht einzig aus ökonomischem bzw. monetärem Kapital. Vielmehr ist es ein Mosaik aus ökonomischem, aber auch ökologischem, sozialem, physischem und politischem Kapital, das einen Menschen lebensfähig und überlebensfähig macht und Entscheidungen und Verhalten beeinflusst. Es ist vielmehr wichtig, den Gesamtkontext zu verstehen, um ein unabhängiges, selbst-bestimmtes und würdevolles Leben führen zu können.

Um effektive und nachhaltige Unterstützung leisten zu können, muss verstan-den werverstan-den, was die Diagnose HIV – insbesondere für besonders vulnerable Men-schen einer Gesellschaftsschicht – bedeutet, und wie, abhängig von multiplen Fak-toren, Entscheidungen getroffen werden. Insbesondere Frauen müssen gestärkt werden und multiple Abhängigkeiten minimiert werden. Um die Komplexität von Armut in Zusammenhang mit HIV zu verstehen, bedarf es ethnographischer, interdisziplinärer und longitudinaler Studien, rein ökonomische Kalkulationen greifen hier zu kurz. Der Blickwinkel sollte vermehrt auf die individuellen Perspek-tiven der in mit Armut und/oder HIV/AIDS konfrontierten Gesellschaften le-benden Menschen gerichtet werden. Neben der Erfassung demografischer und epidemiologischer Variablen sollten sich Untersuchungen auch konkret mit der individuellen Lebenswelt der einzelnen Betroffenen befassen und diese verstanden werden, um effektive und nachhaltige Strategien im Zusammenhang von HIV und Armut zu entwickeln.

On Counting and Miscounting Maternal Mortality:

Im Dokument Armut und Gesundheit (Seite 130-133)