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3 Armut – ein facettenreicher Begriff

Im Dokument Armut und Gesundheit (Seite 126-130)

Der bisherige Beitrag hat sich auf den ökonomischen, beziehungsweise monetären Armutsbegriff gestützt. Doch was bedeutet Armut im Zusammenhang mit HIV und AIDS auf der Mikroebene?

Armut wird in der Literatur oft mit monetärer Armut gleichgesetzt: Arm ist, wer nicht über genügend Ressourcen in Form von Geld oder Einkommen verfügt.

Die Weltbank kalkuliert ihre Armutsstatistik insbesondere anhand des Einkom-mens, wobei eine festgelegte Armutsgrenze definiert, ob eine Person als arm oder weniger arm gilt.

Amartya Sen22 definierte das Wohlergehen eines Menschen – im Kontrast zum eindimensionalen Armutsbegriff der sogenannten Wohlfahrtsökonomie – als die Fähigkeit, in einer Gesellschaft funktionieren und daran teilhaben zu können23. Dies steht im Gegensatz zu den Berechnungen der Weltbank, die lange Zeit Ar-mut allein am Pro-Kopf-Einkommen von Individuen bemessen hat. Freiheit sei laut Sen die normative Voraussetzung, um über Verwirklichungschancen zu verfü-gen, die wiederum über Armut entscheiden würden. Er schreibt:

„There are systematic disparities in the freedoms that men and women enjoy in different societies, and these disparities are often not reducible to differences in income or resources. While differential wages or payment rates constitute an important part of gender inequality in most societies, there are many other spheres of differential benefits.“24

22 Professor Amartya Sen ist Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph und erhielt im Jahr 1998 für seine Arbeiten über den Zusammenhang von Armut und Hunger den Nobelpreis.

23 Amartya Sen, Inequality Reexamined (New York [u.a.]: Russel Sage Foundation, 1992). Available at:

http://graduateeconomist.files.wordpress.com/2012/07/published-1992-inequality-reexamined-by-amartya-sen.pdf.

24 Ibid., 122. Die deutsche Übersetzung lautet in etwa: „Es gibt systematische Ungleichheiten zwi-schen Männern und Frauen bezüglich Freiheiten in unterschiedlichen Gesellschaften, und diese Ungleichheiten lassen sich oft nicht einfach durch Unterschiede im Einkommen oder Ressourcen erklären. Obwohl ungleiche Löhne in den meisten Gesellschaften einen grossen Anteil an der Unge-rechtigkeit von Geschlechtern haben, gibt es doch noch viele andere Aspekte von verschiedensten Vorteilen.“

Laut Sen greife die bisherigeDefinition von Armut zu kurz:

„A ‘poverty line’ that ignores individual characteristics altogether cannot do justice to our real concerns underlying poverty, viz. capability failure because of inadequate economic means“25.

Wie hier deutlich wird, muss Armut als ein höchst vielschichtiger, facettenreicher Begriff verstanden werden. Der von Sen geprägte Befähigungsansatz könnte ange-sichts der widersprüchlichen Ergebnisse bei rein monetärer Betrachtung entspre-chend ermöglichen, die Zusammenhänge von Armut und HIV/AIDS besser zu erklären.

4 Die Lebenswelt einer HIV-positiven Frau – Ein Einblick

Während sich der Beitrag bisher auf theoretischer Ebene mit dem Zusammenhang von Armut und HIV und AIDS auseinandergesetzt hat, veranschaulicht das fol-gende Beispiel die Thematik auf der Mikroebene und schildert das Leben einer HIV-positiven Frau in Tansania.26

Tanga, Tansania. Bombo Regional Hospital. Frühjahr 2008. 35 Grad Celsius, gefühlte 90% Luftfeuchtigkeit. Vor dem Haupttor wartet bereits eine Gruppe auf den Einlass zum Krankenhausgelände. Frauen, eingehüllt in bunte Khangas27 mit Isoliertöpfen, Thermoskannen und Eimern in der Hand. Frauen in schwarzen Buibuis28, die bis auf den Boden reichen, Gesichtsschleiern, mit schwarzen Hand-schuhen und schwarzen Handtaschen. Männer mit braunen, zerknitterten Papier-umschlägen, in denen sie ihr Geld und die Patientenkarte aufbewahren. Manche von ihnen mit bestickten Kofias29, Alte und Kinder. Die lehmige und von

25 Ibid., 111. Die Übersetzung lautet in etwa: „Eine ‚Armutsgrenze‘, die gänzlich individuelle Charak-teristiken ignoriert, kann unseren wahrhaftigen Bedenken, die Armut unterliegen, nicht gerecht wer-den, das heisst, ein Scheitern am Leistungsvermögen auf Grund inadäquater ökonomischer Mittel.“

26 Der folgende Beitrag entstammt einem Forschungsprojekt zur Enthüllung des HIV-positiven Status aus dem Jahr 2008. Hierbei wurden insgesamt 61 HIV-positive Frauen auf der HIV-Station des Bombo Regional Hospitals in Tanga, Tansania, interviewt. Die Studie wurde von Prof. Hansjörg Dilger (Institut für Ethnologie, Feie Universität Berlin) und Prof. Uwe Groß (Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen) betreut und vom Krankenhauspersonal und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) vor Ort unterstützt. Das For-schungsprojekt wurde zu Teilen von der Universitätsmedizin Göttingen und dem Deutschen Aka-demischen Austauschdienst (DAAD) finanziert.

27 Hierbei handelt es sich um bunte Tücher, die mit einem Spruch in Kiswahili versehen sind. In der Regel werden diese nach der Bedeutung des Spruches ausgesucht und sind ein beliebtes Geschenk.

Sie finden vielerlei Verwendung, unter anderem als Kleidungsaccessoire um den Oberkörper oder die Hüfte gewickelt, als Tragetuch für kleine Kinder, als Kopftuch oder Betttuch.

28 Hierbei handelt es sich um einen weit geschnittenen, bodenlangen und schwarzen Mantel, oft mit Strasssteinen und Perlen verziert, der in Tansania von muslimischen Frauen getragen wird. Das Wort

“buibui” (Kiswahili) steht wörtlich übersetzt für “Spinne“ und wird synonym für die Bezeichnung des Gewands (oft in Kombination mit einem Niqab, einem schwarzen Gesichtsschleier) verwendet.

29 Hierbei handelt es sich um einen von Hand bestickten Hut, der insbesondere an der Küste des tansanischen Festlandes und auf Sansibar von muslimischen Männern getragen wird.

löchern durchzogene Straße führt zum Bombo Regional Hospital. Am Rand des Weges sitzen Patienten, ihre Familienmitglieder oder Freunde, die ihre Angehöri-gen pfleAngehöri-gen. Am äußersten Ende des Gebäudekomplexes befindet sich im zweiten Stock die HIV-Station des Krankenhauses. Es riecht stark nach einer Mischung aus Desinfektionsmittel und Körperflüssigkeiten von der darunterliegenden chi-rurgischen Station. Oben angekommen sortiert eine Krankenschwester auf einem Tisch die kleinen, bereits speckigen und abgegriffenen Kartonecken, die mit der Nummer 37 beginnen. Es ist noch früh und die Bänke im Flur der Abteilung sind bereits von unzähligen Frauen und Männern besetzt, die auf eine Konsultation bei einem der zwei Ärzte warten. Vor den zwei Räumen, in denen abwechselnd HIV-Tests durchgeführt werden, sind die Bänke hingegen gähnend leer.

Es klopft leise und zögerlich an der Tür und Mariamu30 betritt unser kleines Interviewzimmer. Ihre Haare sind mit einem schwarzen Tuch umhüllt, das im Nacken durch einen Knoten zusammengebunden ist. Ihr Kopf und ihre Schultern werden zusätzlich von einem bunten Khanga bedeckt. Darunter trägt sie ein rotes, knielanges Kleid, an ihren Füssen sind einfache und abgelaufene Flipflops. Sie stellt ihre kleine Handtasche auf den Tisch, setzt sich und faltet ihre Hände.

Mariamu ist 40 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder. Sie besuchte die Grundschule und verdient mittlerweile ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf von Seife an ihre Nachbarn. Mit ihren Einnahmen unterstützt sie ihren Haushalt von neun Personen – insgesamt stehen ihr etwa 20 Euro im Monat zur Verfügung.

Sie sei schwanger und lange krank gewesen, bevor sie einen HIV-Test in einer kleinen Gesundheitseinrichtung in ihrer Nachbarschaft durchführen ließ. Die be-handelnde Krankenschwester habe ihr mitgeteilt, dass sie HIV-positiv sei und habe sie gebeten, nach der Geburt ihres Kindes und der darauf folgenden 40-tägigen Zeremonie, in der sie das Haus nicht verlassen darf, für eine weitere Konsultation das regionale Krankenhaus in Tanga31 aufzusuchen.

Nach der Rückkehr vom Krankenhaus habe sie ihrem Ehemann von ihrer Di-agnose berichtet. Bis zum Zeitpunkt unseres Interviews habe er ihr nicht geglaubt und ihr befohlen: „Du darfst keinem davon erzählen!“ Die Reaktion ihres Ehe-manns habe ihr große Angst bereitet und sie beschloss, zu ihren Eltern zurückzu-ziehen. Sie habe sich gefragt: „Wenn ich es keinem erzähle, woher soll ich dann die nötige Unterstützung bekommen?“ Sie kehrte zu ihren Eltern zurück und erzählte es ihrem Bruder und zwei ihrer Schwestern.

Mariamu wurde zunächst mit pflanzlichen Mitteln behandelt, bevor sie auf an-tiretrovirale Medikamente umgestellt wurde, die seit dem Jahr 2006 kostenlos in Tansania zur Verfügung stehen. Seit ihrer Diagnose erlebte sie unzählige Formen von Diskriminierung und ist überzeugt, dass die Familie ihres Mannes ohne ihre

30 Zum Schutz der von uns interviewten Frau wurde ihr richtiger Name durch einen anderen Namen ersetzt.

31 Hierbei beziehe ich mich auf die Stadt Tanga – Hauptstadt der Region Tanga in Tansania.

Erlaubnis weitererzählt hat, dass sie HIV-positiv ist. Nachbarn tratschten und sie fürchtete ausgegrenzt zu werden, wie es einer ihrer Freundinnen passiert war.

Mariamu war eine von insgesamt 61 Frauen, die wir im Jahr 2008 im Rahmen einer qualitativen Forschungsstudie zur Enthüllung des HIV-positiven Status in-terviewten. Die Interviews fanden auf der dortigen HIV-Station statt. Die kleine Stadt mit etwa 230 000 Einwohnern ist am indischen Ozean im Nord-Osten von Tansania gelegen und weitläufig von ländlichem Gebiet umgeben. Fast jede von uns interviewte Frau erhielt zum Zeitpunkt der Studie kostenlose antiretrovirale Medikamente. Doch hiermit waren auch Verpflichtungen von Seiten des Kran-kenhauspersonals verbunden: Medikamente erhielt nur, wer insgesamt drei mehr-stündige Gruppensitzungen über sich ergehen ließ und anschließend einige Fragen zur Erkrankung und der Therapie richtig beantwortete. Zudem war Bedingung, eine offizielle Begleitperson zu den Gruppensitzungen mitzubringen.32 Zur Zeit der Studie waren über 6000 Patienten registriert, davon weit über zwei Drittel Frauen. Im November 2013 zählte die Station bereits über 10 000 registrierte Per-sonen.

Die HIV-Prävalenz des Landes liegt bei ca. 6%33, wobei hier starke regionale Unterschiede zu verzeichnen sind. Der Großteil der hiervon Betroffenen sind Frauen: in Tanga sind etwa 10,4 % der Frauen im Alter zwischen 30 - 34 Jahren HIV-positiv im Gegensatz zu ca. 7,4 % der Männer.

Die interviewten Frauen (im Durchschnitt 39 Jahre alt) gehörten folglich zur besonders vulnerablen Gesellschaftsschicht Tansanias. Über 90 % der von uns Interviewten hatten entweder keine Schule oder nur die Grundschule besucht. Fast alle Frauen waren angewiesen auf das Geld ihres Partners oder anderen Familien-mitgliedern, mit denen sie zusammen wohnten. Die Hälfte ging aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation ihrer Privathaushalte neben ihren Aufgaben im Haushalt und Feldarbeit noch einer weiteren Beschäftigung im informellen Sektor nach: Eine Frau verkaufte gekochte Eier, eine andere holte noch während des Interviews abgekochte Milch ab, die sie weiterverkaufte. Die Erträge waren angesichts des Gesamtaufwands dieser verschiedenen Erwerbstätigkeiten beschei-den. Das mittlere Einkommen eines gesamten Privathaushalts betrug 52 US Dollar im Monat, wovon in der Regel meist mehrere Menschen ernährt werden mussten.

Im Schnitt teilten sie sich mit mehr als vier Personen zwei Zimmer. Die große

32 Siehe hierzu auch den Beitrag von Dominik Mattes, „’We are just supposed to be quiet’: the pro-duction of adherence to antiretroviral treatment in urban Tanzania” Medical Anthropology 30(2) (2011):

158–182.

33 Tanzanian Comission for AIDS (TACAIDS) et al., Tanzania HIV/AIDS and Malaria Indicator Survey 2007-08, Dar es Salaam. (2008) Available at:

http://www.google.de/#sclient=psy-ab&hl=de&source=hp&q=tanzanian+commission+for+AIDS+2008&pbx=1&oq=tanzanian+com

missi-si-on+for+AIDS+2008&aq=f&aqi=&aql=&gs_sm=3&gs_upl=1561l16266l0l16471l40l22l5l12l16l0l22 9l1531l19.2.1l39l0&bav=on.2,or.r_gc.r_pw.,cf.osb&fp=ed23bee3837b8629&biw=1280&bih=588 [Accessed February 23, 2012].

Mehrzahl der von uns interviewten Frauen, wie auch Mariamu, lebten deutlich unterhalb der von der Weltbank festgelegten Armutsgrenze34.

HIV und AIDS sind in Tansania – wie auch anderswo auf der Welt – mora-lisch beladen und stark stigmatisiert. Alle von uns interviewten Frauen berichteten von erlebter Diskriminierung, die oft zu sozialer Marginalisierung führte35. Ma-riamu und weitere Frauen berichteten, dass sie nach Bekanntwerden ihrer Diagno-se das Haus ihres Mannes verlasDiagno-sen mussten und zurück zu ihren Eltern gezogen seien. Die überwiegende Mehrzahl der interviewten Frauen (70 %) lebte zum Zeit-punkt des Interviews von ihrem Lebenspartner getrennt, geschieden oder war bereits verwitwet.

Im Dokument Armut und Gesundheit (Seite 126-130)