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I. Grundlagen der Gesundheitsförderung

4. Gesundheit und Gesundheitsförderung im Schulsport

4.1 Historischer Rückblick

Da hier keine genaue Widerspiegelung geschichtlicher Verhältnisse geleistet werden kann und soll, scheint es sinnvoll, sich wie Schulz57 exemplarisch auf wenige, aber besonders be-deutende Stationen seit dem 18. Jahrhundert zu beschränken. Auch Balz58 reduziert seine

56 Vgl. Balz, 1990.

57 Vgl. zu den in diesem Kapitel folgenden Ausführungen Schulz, 1991. Schulz betont darin, dass auch keine umfassenderen Vorarbeiten zu dieser Thematik existieren und beruft sich damit auf Klein, 1986, S. 7.

58 Balz, 1995, S. 20-40. Hier finden sich auch weitere hilfreiche Literaturverweise für eine detailliertere Betrach-tung.

trachtungen auf vier Entwicklungsphasen der Schulsportgeschichte seit der offiziellen Einfüh-rung des Schulturnens in Preußen 1844, betrachtet aber den Gesundheitsaspekt stärker und detaillierter vor einem schulsportspezifischen Hintergrund.

Wird auch der Beginn einer gezielten Gesundheitserziehung überwiegend bei den Philanthro-pen angesetzt, so überzeugt doch Schulz’ Auffassung, dass Jean-Jacques Rousseau’s Werk gleichsam als „Original-Idee“ angesehen werden kann. Grundlage bildet dabei Rousseau’s, als Abkehr von der Aufklärung zu verstehende Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus frei sei. Demnach geht es in seiner Erziehungslehre vorwiegend darum, wie das Individuum zu einer glücklichen Existenz finden kann und zwar trotz oder entgegen der gefährdenden gesellschaftlichen Verhältnisse oder Abhängigkeiten. Dies gelingt einerseits durch Fernhalten von Wünschen und Bedürfnissen, die das Kind aufgrund seines Vermögens nicht erreichen kann. Andererseits müssen Fähigkeiten gefördert werden, die zu einem glücklichen Dasein in der Gesellschaft befähigen. Dies alles wiederum gründet sich auf einen ganzheitlichen Erzie-hungsbegriff, der sich gleichermaßen an die sinnlich-physische, die vernünftige und die mora-lische Dimension des Menschen richtet.

Genau dies trifft auch auf die terminologisch nicht immer eindeutig heraustrennbare Auffas-sung von Gesundheitserziehung zu, weshalb sie vor dem gesamten bisher behandelten Hinter-grund erstaunlich modern anmutet. Körperliche Kraft und Gesundheit sollten nach Möglich-keit bereits das „Startkapital“ des Kindes im Erziehungsprozess sein und auch im weiteren Leben gewissermaßen als Widerstandsquelle gegen äußere negative Einflüsse dienen. Damit sind weniger objektiv messbare Schädigungen, sondern negative gesellschaftliche oder kultu-relle Abhängigkeiten gemeint. Demnach ist auch Gesundheit für Rousseau kein rational ob-jektiv bestimmbarer Wert, im Gegenteil bevorzugt er, sein „Zögling wäre manchmal krank als unaufhörlich auf seine Gesundheit bedacht“59.

Gesundheit ist bei Rousseau Voraussetzung und Bestandteil der Fähigkeit zum Genuss der eigenen Existenz und manifestiert sich in Daseinserfüllung und –freude im Hier und Jetzt und nicht als sorgenvolle Vorwegnahme zukünftiger Eventualitäten. Der Umgang mit dem Körper soll möglichst ohne fremdbestimmte Einflussnahme erfolgen, um ihn gegen diese abzuhärten und ihm zu größerer Unabhängigkeit zu verhelfen. Bewegung dient der Bewahrung und Stei-gerung der Gesundheit, ist aber eingebettet in einen größeren diätetischen Rahmen traditionell anmutender hygienischer Maßnahmen. Damit soll eine Habitualisierung des Zöglings erreicht werden, indem die physische Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit erprobend gesteigert wird.

59 Rousseau, 1969, S. 375.

Dies kann, und hiermit begibt man sich auf eine konkretere didaktische Ebene, nur ohne dis-ziplinierende und autoritäre Führung gelingen. Das Kind soll frei und nicht durch zweckratio-nales Training seine Kräfte erproben, denn nur so erlangt es die Motivation, auch gesund werden und bleiben zu wollen. Dem Erziehenden bleibt somit nur die Aufgabe, stets für ge-nügend Bewegungsaktivitäten durch die Bereitstellung geeigneter Situationen in möglichst optimaler Passung zu sorgen.

Zweifelsfrei wirft ein solches Verständnis von Gesundheitserziehung auch viele Fragen und Probleme, zumal für den praktischen Sportunterricht, auf. Dennoch ist vor allem die ganzheit-liche, auf das Individuum ausgerichtete Auffassung von Gesundheit und Verwehrung gegen eine Instrumentalisierung der Gesundheit(serziehung) äußerst beachtenswert, und Rousseau war damit seiner Zeit weit voraus.

Zeitlich schließt sich die Pädagogik der Philanthropen wie Basedow, GutsMuths, Salzmann und Vieth unmittelbar an Rousseau an und wird von diesem auch nachhaltig beeinflusst. Was allerdings den Aspekt der Gesundheitserziehung betrifft, so ergeben sich doch erhebliche Abweichungen. Während für Rousseau Gesundheit vor allem im subjektiv-individuellen und zweckfreien Gefühl gelungenen Daseins gipfelt, kommt es bei den Philanthropen zu einer Instrumentalisierung eines gesunden Körpers zum Zwecke bürgerlicher Brauchbarkeit.60 Zwar stellt beispielsweise GutsMuths sein System der Gymnastik in einen diätetischen Rahmen der Körper- und Gesundheitspflege, getragen vom Prinzip der Mäßigkeit, gerät aber nicht selten in den Bereich der mechanistischen Leibeszucht.61 Gleichzeitig wird die Ganzheitlichkeit des Gesundheitsbegriffes aufgegeben, indem Körper und Geist hierarchisch getrennt werden. Mit eigens erdachten körperlichen Übungen und dem Bestreben, deren Wirkung objektiv nachzu-messen, entfernen sich die Philanthropen weiter von Rousseau. In diese Entwicklung fällt auch der Beginn des Turnens nach Jahn mit Errichtung des Turnplatzes auf der Hasenheide 1811 als „ein neues System von Leibesübungen“, die sich am „Vaterlands-, Volkstums- und Wehrtüchtigkeitsgedanken“62 orientieren. Aufgrund widerständiger und unkonventioneller Ideen wird zwar 1820 die Turnsperre verhängt, 1842 aber offiziell wieder aufgehoben, nach-dem der Wert der Leibesübungen als Ausgleich und zur Förderung körperlicher Leistungsfä-higkeit erkannt und in den Schulen auch während der Turnsperre betrieben wurde. Nach der

60 Vgl. Emrich, 1989.

61 Vgl. Balz, 1995, S. 21.

62 Begov, in Balz, 1995, S. 22.

offiziellen Aufhebung avanciert Gymnastik nun zum Unterrichtsfach, in dem es am 7. 2. 1844 als gleichberechtigter Teil des regulären Unterrichts an höheren Schulen eingeführt wird.63 Diese Ent-Individualisierung setzt sich in den Ansätzen Adolf Spiess’, weithin als Begründer deutschen Schulturnens anerkannt, fort, indem er zum ordnungsstarken Untertanen erziehen will. Er kritisiert zwar die „sittliche Verweichlichung und geistige Verfeinerung“ als „Krank-heit der neuen Zeitbildung“64 und spricht sich für eine Wiederbelebung einer gesunden Men-schenerziehung aus, bei der leibliche und geistige Natur des Menschen gleichmäßig ausgebil-det werden. Diese ganzheitlich anmutenden Äußerungen und Auffassungen relativieren sich aber, wenn Spiess die Absicht seiner Erziehung darin sieht, den „Leib als Tempel des Geistes wohnlich zu machen und rein zu halten“65. Dann wird deutlich, dass das Leibliche sehr wohl dem Geistigen unterzuordnen ist. Sehr deutlich wird eine gesellschaftspolitische Instrumenta-lisierung, wenn er darauf hinweist, „wie sehr die Dienstfähigkeit vieler von zweckmäßig an-geordneter leiblicher Erziehung in der Jugend abhängig ist, und wie sehr das Turnen beitragen muss, die Zahl der Dienstunfähigen immer mehr zu vermindern“66. Auch Balz67 fasst diese Entwicklungsphase der Schulsportgeschichte von der allmählichen Einführung des Schultur-nens bis zu seinem vorläufigen Ende im Ersten Weltkrieg dahingehend zusammen. Während die Förderung der Gesundheit zunächst vorrangige Aufgabe gewesen ist, kristallisierten sich im Laufe der Kaiserzeit mehr und mehr Elemente der Wehrertüchtigung heraus, so dass der gesundheitsfördernde Aspekt zwar deutlich zu erkennen, aber im Wesentlichen auf militäri-sche Zwecke beschränkt ist.

Nach dem Ersten Weltkrieg setzt eine pädagogische Gegenbewegung ein, die sich ebenfalls in den schulischen Leibesübungen niederschlägt. Wie so häufig, führt diese Reform zu einer Rückbesinnung, in diesem Fall in Form einer Wiederentdeckung der Individualität des Men-schen und zu seiner Befreiung aus politischer Inanspruchnahme.

Diese radikale Gesinnungsänderung macht auch vor der Leibes- und Gesundheitserziehung nicht Halt. Haben sie ihren Ursprung zwar in Österreich, so bilden wohl die Ansätze Gaulho-fers und Streichers doch den größten Einfluss auch in Deutschland zu dieser Zeit.

„Das Denken über körpererziehliche Fragen wurde in ungeahntem Maß vertieft und erweitert. Welche Stellung hat das Leibliche im menschlichen Leben? Welche Stellung hat daher die Leibeserziehung?

Was kann sie wirken, wie muß sie gestaltet werden, damit sie den Menschen ´leben lernen` hilft?“68

Solche Anliegen wären noch wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen. Leibeserziehung wird als untrennbarer Teil der Gesamterziehung verstanden. Sie setzt zwar am Körper an, hat aber immer die Erziehung des ganzen Menschen zum Ziel. Dabei geht sie von einer unlöslichen Einheit von Leib und Seele aus. Angestrebt wird nicht lediglich eine Setzung biologischer Reize, sondern eine gesunde Lebensweise im umfassenden Sinn, ein „körperliches Gewis-sen“69. Daher muss bei der Gesundheitserziehung auf unterschiedliche Erziehungsmittel zu-rückgegriffen werden. Dies wird bei Gaulhofers Vorstellungen über Schule deutlich, wenn er schulärztlichen Dienst, feste Hygieneregeln, entsprechende Gestaltung der Stundenpläne u. ä.

fordert.70 Von konkreten Ausführungen zum Wandern als „vollkommenste und allseitigste Leibesübung“71 abgesehen, kritisiert Schulz ansonsten den seltenen Verweis auf konkrete Übungsarten und, falls vorhanden, deren vornehmliche Konzentration auf den physiologisch-orthopädischen Bereich. Trotz dieser Kritik scheint der Wert Gaulhofers und Streichers An-sätze in der Ganzheitlichkeit des Konzepts von Gesundheit und Gesundheitserziehung zu lie-gen. Außerdem ließe sich auch bei aktuellen Gesundheitserziehungs-Konzepten das Fehlen konkreter Übungsvorschläge kritisieren bzw. ist es fraglich, ob dies überhaupt die Aufgabe der (Sport-)Pädagogik ist oder die Umsetzung den Methodikern vorbehalten bleibt.

Der Vollständigkeit wegen darf aber eine konservativere Strömung nicht unerwähnt bleiben, die der eben genannten fast entgegen läuft. Neuendorffs Konzeption orientiert sich in erster Linie am Leistungsgedanken, dem sich der Gesundheitsgedanke unterordnet, um einer Ge-fährdung der Volksgesundheit entgegen zu wirken. Neben den schlechten institutionellen (personal und materiell) Bedingungen, zeichnet sich die Zeit der Weimarer Republik also ge-rade durch eine gewisse Ambivalenz aus.72

Das oben genannte Zitat von Spiess gibt bereits einen Vorgeschmack auf die nächste histori-sche Station, in der die politihistori-sche Verzweckung der Gesundheitserziehung nicht nur

gert, sondern pervertiert wird: Die Zeit des Nationalsozialismus. Jetzt tritt sogar der Geist in den Hintergrund, und das Menschenbild ist biologistisch und rassistisch geprägt. Was dies für die Erziehung bedeutet, wird anhand von Zitaten in seinem gesamten menschenverachtenden Ausmaß deutlich, nämlich,

„daß ein zwar wissenschaftlich wenig gebildeter, aber körperlich gesunder Mensch mit gutem, festem Charakter, erfüllt von Entschlußfreudigkeit und Willenskraft, für die Volksgemeinschaft wertvoller ist als ein geistreicher Schwächling“73.

Und noch unverhohlener formuliert:

„Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden [...] Eine gewalttätige, herri-sche, unerschrockene, grausame Jugend will ich“74.

Das Individuum verliert seine Bedeutung:

„Seine gesamte Erziehung und Ausbildung muß darauf angelegt werden, ihm die Überzeugung zu geben, andern unbedingt überlegen zu sein. Er muß in seiner körperlichen Kraft und Gesundheit den Glauben an die Unbesiegbarkeit seines Volkes wiedergewinnen“75.

Entsprechend hoch war die Bedeutung der Leibeserziehung während dieser Zeit und obgleich eine allgemeine Gesundheitsförderung, tägliche Sportstunden u. ä. pädagogisch noch vertret-bar wären, so ist es die absolute Politisierung und Pervertierung des Gesundheitsgedankens, die die Gesundheitserziehung in das wohl dunkelste Kapitel der Geschichte einziehen lässt.

Vor diesem Hintergrund ist es fast erstaunlich, dass die Leibeserziehung nach dem Zweiten Weltkrieg, trotz anfänglicher Skepsis gegenüber der ideologisch vorbelasteten Körperertüch-tigung und dem desolaten Zustand des Schulwesens, relativ bald wieder als unverzichtbares Unterrichtsfach anerkannt wird. Dabei tritt der Gesundheitsaspekt als willkommener Nebenef-fekt hinter primär bildungstheoretische Begründungen der Leibesübungen zurück.76

73 Hitler, 1933, in Bernett, 1966, S. 21.

74 Rausching, 1940, in Bernett, 1966, S. 25.

75 Hitler, 1933, in Bernett, 1966, S. 23.

76 Vgl. Balz, 1995, S.35ff.