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Aus allen Himmelsgegenden wird die Bevölkerung durch den gebotenen Erwerb herbeigelockt. Italienische Immigration

Italienische Arbeitsmigranten in Düdelingen und die Anfänge der luxemburgischen

1. Aus allen Himmelsgegenden wird die Bevölkerung durch den gebotenen Erwerb herbeigelockt. Italienische Immigration

nach Düdelingen vom Beginn der luxemburgischen Industrialisierung bis zur Weltwirtschaftskrise

Wie im gesamten Großherzogtum spielte die italienische Zuwanderung in Dü-delingen vor dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts kaum eine Rolle. Zur Jahrhundertwende jedoch lebten dort bereits nahezu 1.800 Italiener und Italiene-rinnen, bis 1910 wuchs die Zahl auf über 2.000. Die Gesamteinwohnerzahl betrug zu diesem Zeitpunkt ungefähr 10.500. Damit stellten die Italiener die eindeutig stärkste ausländische Zuwanderergruppe. Nach einem durch Krieg und Nach-kriegskrise bedingten zwischenzeitlichen Einbruch lebten 1930, kurz vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in Luxemburg, wieder über 1.800 Italiener in Düdelingen.4 Wohl war die italienische Zuwanderung im Betrachtungszeitraum ein überwiegend männlich geprägtes Phänomen, blieben die Familien der auslän-dischen Arbeitskräfte doch oftmals in der Heimat zurück; dennoch hielten sich laut Benito Gallo, einem kenntnisreichen Chronisten der italienischen Zuwande-rung nach Luxemburg, wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg immerhin fast 600 Italienerinnen in Düdelingen auf, also eine durchaus beachtliche Zahl, die auch darauf hindeutet, dass viele Familien sich auf ein dauerhaftes Bleiben einrichte-ten.5 Wie sah es auf dem lokalen Hüttenwerk, dem größten Arbeitgeber für die Zuwanderer, aus? Mit 586 Personen stellten die Italiener am Vorabend des Ersten Weltkriegs hinter den Luxemburgern die mit Abstand stärkste Landsmannschaft,

4 Das Datenmaterial entspricht den Angaben in Gallo, Benito, Les Italiens au Grand-Duché de Luxembourg. Un siècle d’histoires et de chroniques sur l’immigration italienne, Luxemburg 1987, S. 113 und 392. Zur Entwicklung der italienischen Zu-wanderung in Luxemburg im Allgemeinen sowie den damit zusammenhängenden Problemstellungen vgl. Trausch, Gilbert, L’immigration italienne au Luxembourg des origines (1890) à la grande crise de 1929, in: Hémecht 33 (1981), S. 443–471.

5 Siehe Gallo, Les Italiens (Anm. 4), S. 392.

sie übertrafen die Deutschen, die mit weniger als 400 Personen vertreten waren, bei weitem.6

Bei sämtlichen hier angegebenen Zahlen und Daten ist Vorsicht geboten. Ge-rade innerhalb der italienischen Community herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, die Fluktuation war beachtlich. Piero Galloro spricht zutreffender Weise von einer „culture de la mobilité“.7 Oftmals blieben die Italiener nur kurze Zeit an einem Industriestandort, um saisonal ins Heimatland zurückzukehren oder aber an einem anderen Ort eine Anstellung zu finden. Die Daten bilden also lediglich Momentaufnahmen ab, ohne die demographischen Schwankungen vollständig abzubilden. Trotz der unzureichenden Datengrundlage lässt sich aller-dings an dieser Stelle festhalten, dass die italienische Präsenz in Stadt und Werk während des Betrachtungszeitraums, sieht man vom kriegsbedingten Einbruch ab, beachtlich war.

Das Gros der italienischen Luxemburgwanderer stammte aus Mittel- und Norditalien, die Zuwanderung aus dem Süden der Halbinsel spielte kaum eine Rolle.8 Selten spielte sich die Immigration isoliert ab; vielmehr entwickelten sich feste Migrationspfade und -systeme zwischen einzelnen Ortschaften und Regionen sowie dem Minettebezirk.9 Vor allem Venetien und Umbrien bildeten

6 Diese Daten stammen aus einer umfangreichen Personalstatistik des Hüttenwerks, welche im AnLux innerhalb des Fonds ARBED gelagert ist: AnLux, ADU-U1-93.

7 Galloro, Piero, Le comportement migratoire des Cafoni dans les Bassins industri-els luxembourgeois et lorrains (1880–1914), in: Montebello, Fabrice (Hg.), Un siècle d’immigration au Luxembourg. Actes du colloque organisé par le CLAE / Revue Pas-serelles 22(2001), S. 47–65, hier S. 47; vgl. dazu auch Trausch, L’immigration italienne (Anm. 4), S. 450. Die hohe Mobilität der unterbürgerlichen Migranten war durchaus ein allgemein gültiges, auch über Luxemburg hinaus verbreitetes Phänomen. Siehe dazu u.

a. Bade, Klaus J., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2002.

8 Die gesamte Halbinsel sowie die vorgelagerten Inseln waren von Emigration stark betroffen, wobei sich klare Migrationssysteme abzeichneten: Während viele Südita-liener und Sizilianer nach Übersee auswanderten, zog es die meisten OberitaSüdita-liener über die Alpen, ins Deutsche Reich, nach Lothringen und eben auch nach Luxemburg.

Vgl. hierzu folgendes voluminöse zweibändige Werk: Storia dell’emigrazione italiana.

Bd. 1: Partenze, Rom 2001; Storia dell’emigrazione italiana. Bd. 2: Arrivi, Rom 2002.

Zur Situation im Deutschen Reich vgl. Del Fabbro, René, Italienische Wanderarbeiter im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 76 (1989), S. 202–228.

9 Dieser Prozess entfaltete im Laufe der Jahre eine immer stärkere Eigendynamik, wäh-rend zu Beginn noch gezielt vom Werk Agenten ausgesandt wurden, die Arbeitskräfte anwerben sollten. Zu den auch andernorts gültigen Mechanismen der Migration im

wichtige Herkunftsgebiete. Kaum der Erläuterung bedarf der Umstand, dass die Zuwanderung während der Industrialisierung nichts mehr mit der frühneuzeit-lichen Luxemburgwanderung einiger weniger italienischer Kaufleute, wie etwa der Familie Pescatore10, gemein hatte. Es handelte sich um eine proletarische Massenwanderung, verarmte Landbewohner auf der Suche nach Beschäftigung stellten das Gros der Immigranten.

Die Lebensbedingungen innerhalb der italienischen Gemeinde waren dabei zum Teil verheerend. Ging es den Unternehmern um die rasche Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte, so wurde in infrastruktureller Hinsicht eine dezidierte lais-sez-faire-Politik betrieben. Eine Wohnungsenquete aus dem Jahr 1906 resümierte mit Blick auf die italienischen Wohnbezirke in Düdelingen: Die ungemein rasche Entwicklung, wir möchten sagen das plötzliche Emporschießen der Großindustrie hat inbetreff der Wohnverhältnisse unverkennbar etwas beklemmendes an sich: aus allen Himmelsgegenden wird die Bevölkerung durch den gebotenen Erwerb her-beigelockt, doch denkt niemand, vordran dieser neuen Bevölkerung auch nur ein einigermaßen genügendes, menschenwürdiges Obdach zu sichern und so kommt es denn, daß Viehställe primitivster Bauart zu Menschenwohnungen benutzt werden müssen. Die Benutzung dumpfer, ungesunder Kellerwohnungen gehört dann nicht mehr zu den Ausnahmen.11 Diese für sich selbst sprechende Beschreibung stammt wohlgemerkt nicht aus der Feder eines Funktionärs der Arbeiterbewegung, son-dern geht aus einer staatlichen Wohnungsenquete hervor. Führt man sich vor Au-gen, dass gerade gelernte einheimische Arbeiter in der Eisen- und Stahlindustrie einen ordentlichen Lohn erzielen konnten und zudem nicht selten betriebliche

Zeitalter der Industrialisierung vgl. Hoerder, Dirk / Lucassen, Jan / Lucassen, Leo:

Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung, in: Bade, Klaus J. u. a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 28–53.

10 Vgl. dazu Pescatore, Théo H.A., Joseph Antoine Pescatore, un „Italien“ à Luxembourg, in: Reuter, Antoinette / Scuto, Denis (Hg.), Itinéraires croisés. Luxembourgeois à l’étranger, étrangers au Luxembourg, Esch-sur-Alzette 1995, S. 58–61.

11 Zitiert nach Lehners, Jean-Paul, Wohnen in Düdelingen zu Beginn des 20. Jahrhun-derts, in: Hudemann, Rainer / Wittenbrock, Rolf (Hg.), Stadtentwicklung im deutsch-französisch-luxemburgischen Grenzraum (19. und 20. Jh.) (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung, 21), Saarbrü-cken 1991, S. 35–58, hier S. 42. Die Wohnraumsituation offenbart besonders plastisch die sozialen Verhältnisse in zahlreichen Industriegemeinden während des Betrach-tungszeitraums, nicht nur in Luxemburg.

Sozialleistungen empfingen,12 so deuten sich angesichts derartiger Schilderungen tiefe Risse innerhalb der lokalen Arbeiterbevölkerung an, welche nicht zuletzt national begründet waren. Wie aber reagierten die lokalen Gewerkschaften auf die Problematik der Zuwanderung im Allgemeinen? Dies soll nun im Folgenden diskutiert werden.

2. Unter der Vielsprachigkeit der Belegschaften der Hüttenwerke