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3 Fragestellung und Forschungsdesign

4.2 Zusammenhänge

4.2.5 Herstellung von Alltäglichkeit in Fernbeziehungen

Die zentrale Frage dieser Arbeit bleibt weiterhin, wie Alltäglichkeit in Fernbeziehungen hergestellt wird. Die Fallanalysen haben gezeigt, dass mehrer Prozesse und Teilbereiche hierzu beitragen: Polarität in Verbindung mit Integration an den Orten der Polarität, Haushaltsintegration, gemeinsame Zukunftsperspektiven, Entwicklung einer Wirtschaftsgemeinschaft, gemeinsame Projekte, Alltagsrhythmus und nicht zuletzt sprachliche Konstruktion und Markierung von Alltag. Der Einfluss dieser Faktoren auf die Herstellung von Alltäglichkeit soll im Weiteren näher erläutert werden.

In der Literatur wird unterschieden zwischen Living-apart-together-Paaren und Shuttle-Paaren. Der Unterschied liegt darin, dass LATs zwei getrennte Haushalte, Shuttle-Paare hingegen einen gemeinsamen Hauptwohnsitz und -haushalt führen und einer der Partner am Arbeitsort eine Zweitwohnung besitzt. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass diese Einteilung nicht funktioniert. Paare, die eindeutig ein Shuttle-Verhalten zeigen, haben dennoch nicht immer einen gemeinsamen Hauptwohnsitz. Als Shuttle-Paar qua definitionem kann lediglich das Ehepaar Mayer bezeichnet werden, alle anderen Paare sind in Hinsicht ihrer Wohnsitze keine Shuttle-Paare, verhalten sich aber als solche, da sich eine Polarität zu einer der Wohnungen entwickelt hat. Diese Polarität führt dazu, dass man sich an den Wochenenden vor allem in einer der Wohnungen trifft und sich dort der Partner, der zu Gast ist, „Stück für Stück“ heimisch fühlt, da er sich in der Wohnung, im Haushalt und auch im Freundeskreis integriert. So wird eine der Wohnungen am Wochenende inoffiziell zum gemeinsamen Hauptwohnsitz. Die deutliche Entwicklung vom LAT-Paar über die Polarität zum Shuttle-Paar zeigt sich besonders bei Fall Berghaus. Klaus Berghaus beschreibt eindrücklich diesen Prozess, angefangen bei der Unterbringung diverser Gegenstände über die Anmeldung zunächst des Zweit- und dann des Erstwohnsitzes bis hin zur Beschriftung des Klingelschildes.

Folgt man der Alltagsdefinition von Norbert Elias (1978), so entsteht durch die Polarität für einen der Partner am Wohnort des anderen ein neuer Erlebnisbereich des täglichen Lebens, da er dort nahezu immer das Wochenende verbringt. Durch die Bewertung der Wohnung einer der Partner als solchen alltäglichen Erlebnisbereich entsteht Alltag. Man fühlt sich nicht mehr als Gast und verhält sich auch nicht so: „ich fühl mich auch nicht als Gast“ (Fall 2, Daniel, Zeile 833). Dazu gehört auch der Bereich der Haushaltsintegration. An den Wochenenden entwickeln die Paare Kooperationsmodi zur Bewältigung der anfallenden Hausarbeiten. Der gemeinsam bewältigte Haushalt konstruiert die Gemeinschaft der Paare.133 Dies trifft auch auf Fernbeziehungen zu. Am offensichtlichsten passiert dies bei Daniel und Cornelia (Fall 4). Daniel übernimmt an den Wochenenden nahezu alleine den Haushalt, er wäscht, putzt und kocht, obwohl es nicht seine Wohnung ist, in der sich das Paar aufhält, sondern die von Cornelia. Dadurch findet eine starke Haushaltsintegration statt, man kann annehmen, dass sich Daniel fast besser in Cornelias Wohnung und mit ihrem Haushalt auskennt als sie selbst.

Durch die Polarität entsteht für die Paare ein Wochenrhythmus, der für Gleichmäßigkeit, Regelmäßigkeit und Kontinuität sorgt, welche wiederum nach Max Weber (1984) Merkmale von Alltag sind. Laut Kaufmann ist mit dieser Wiederholung des Alltäglichen die subjektive Wahrnehmung als Paar verknüpft. Als ein wichtiges Beispiel dient hier das gemeinsame Essen134. Auch Fernbeziehungspaare weisen eine alltägliche, regelmäßige Wiederholung von gemeinsamen Mahlzeiten auf, besonders freitagabends. Gefragt nach dem Ablauf der Wochenenden erzählt vor allem das Paar Berghaus vom gemeinsamen Abendessen am Freitagabend. Es wird die „rituelle Flasche Sekt geöffnet“, es gibt besondere Speisen, es wird der Beginn des gemeinsamen Wochenendes gefeiert135. So verknüpfen sich in diesem gemeinsamen Essen zwei Funktionen: Zum einen wird der Übergang zum Wochenende rituell gerahmt und der gemeinsamen Zeit eine besondere Bedeutung zugesprochen, zum anderen wird auch Gleichmäßigkeit geschaffen, weil jeden Freitag gemeinsam gegessen und getrunken wird. Ähnliches findet sich bei Cornelia und Daniel, hier ist jedoch die herausgehobene Mahlzeit das Frühstück am Sonntagmorgen136. Bei Gaby und Heiner ist die Konstruktion von „Zuhause“ und gemeinsamer Identität neben dem gemeinsamen Essen auch im gemeinsamen Wäsche waschen am Freitagabend zu erkennen137.

Die Gleichmäßigkeit des Wochenrhythmus wird auch sprachlich betont.

Ausdrücke wie „immer“, „normalerweise“, „meistens“ und ähnliche markieren Regelmäßigkeiten:

„Freitag Abend da ist äh da versuchen wir immer ein gemeinsamen gemeinsames Abendessen einzunehmen und äh je nach dem wenn wir um 19 Uhr immer unseren Skat-Abend haben also wir sind äh Mitglied im Skatclub Singen und da ist jeden Freitag und Dienstag Spielabend. Und da versuchen wir natürlich immer rechtzeitig äh hinzukommen“ (Fall 3, Ela, Zeile 47 ff)

Neben der Polarität, der Haushaltsintegration und einem gleichmäßigen Alltags-Rhythmus sorgen auch gemeinsame Projekte, Zukunftsperspektiven und die Entstehung von einer Wirtschaftsgemeinschaft für Alltäglichkeit und Dauerhaftigkeit der Beziehungen. Die Gegenstände, welche man „Stück für Stück“ beim anderen hinterlässt, erinnern den einen Partner nicht nur an den anderen, sondern sie schaffen auch die erste Bindung des Paares an gemeinsame Objekte. Fortgesetzt wird diese Entwicklung durch gemeinsam angeschaffte Gegenstände, seien dies Küchengeräte,

134 Kaufmann (2006): S. 173.

135 Siehe hierzu Fall Berghaus, Einzelinterview Klaus Berghaus: Z. 186; Paarinterview: Z. 169 ff.

136 Paarinterview Fall 2: Z. 887 ff.

137 Paarinterview Fall 4: Z. 18 ff.

Möbel, Geschirr oder ähnliches. Die Maximierung dieser kollektiven Gegenstände ist das Eigenheim138. So zu sehen bei Ehepaar Mayer. Diese Gegenstände sind materielle Beweise für die Existenz der Beziehung und der Wirtschaftsgemeinschaft.

Zu diesen gemeinsamen Projekten gehören auch die Pläne für die Zukunft. Alle Paare sagen von sich, dass sie in absehbarer Zeit zusammenziehen möchten. Ehepaar Berghaus hat die Zusammenführung von getrennten Haushalten über Polarität zu einem gemeinsamen Haushalt bereits hinter sich, Cornelia und Daniel haben am neuen Arbeitsort von Cornelia eine gemeinsame Wohnung gemietet, Anna und Bernd möchten ebenfalls so schnell wie möglich in einer gemeinsamen Wohnung zusammenziehen. Ein wichtiges gemeinsames Projekt kann auch die Familiengründung sein. Dies hat sich retrospektiv für das Ehepaar Berghaus gezeigt, aktuell können die Pläne für eine gemeinsame Familie bei Anna und Bernd verfolgt werden. Diese Pläne schaffen Gemeinsamkeit und sind Belege dafür, dass die Beziehungen auf Dauer angelegt sind.

Alltag ist folglich auch für Fernbeziehungspaare „ein sich immer wiederholender Rhythmus von Arbeit und Freizeit, eingebetet in den Wechsel von Werktag und Wochenende“139. Der Wochenrhythmus von fünf Arbeitstagen und zwei Tagen Wochenende ist normal und wird auch als solches empfunden. Fernbeziehungspaare leben so einen ähnlichen Alltag wie Paare mit einem gemeinsamen Haushalt, aus der Erfahrung des Ehepaars Mayer kann man ablesen, dass es wesentlich anspruchsvollere und ungleichmäßigere Rhythmen von Arbeit und Freizeit geben kann, als Beispiele seien hier Konti-Schicht, Wechselschicht oder Dauernachtschicht erwähnt140.

138 Kaufmann (1999b): S. 73.

139 Jurczyk (1993): S. 11.

5 Z

USAMMENFASSUNG UND

B

ILANZ DER EMPIRISCHEN

B

EFUNDE

Im voran gehenden Kapitel wurden die Paare nicht nur einzeln analysiert, sondern auch miteinander in Kontrast gesetzt, um so Gemeinsamkeiten und Gegensätze ausfindig machen zu können. Die so gewonnenen Ergebnisse sollen nun in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebunden werden. Wie sich bereits eingangs dieser Studie gezeigt hat, sind Fernbeziehungen ein multiperspektivisches Phänomen.

Mobilität, Individualisierung und Lebensentwürfe im Spannungsfeld zwischen Beruf, Beziehungsideal und Zukunftswünschen sind eng verzahnte Themenbereiche, die allesamt mit dem Phänomen Fernbeziehung zusammenhängen. Es hat sich gezeigt, dass sich Fernbeziehungen nicht auf die Dichotomie zwischen Beruf und Privatleben reduzieren lassen und dass die Entscheidungsprozesse, die die Paare durchlaufen, enorm von den jeweiligen Stationen in der Berufs- und Beziehungsbiographie abhängen. Die Entscheidungen für Fernbeziehungen müssen immer auf der Basis der Einzelfälle untersucht werden, obwohl es übergreifende Motive gibt.

Auf den folgenden Seiten soll deshalb drei gesamtgesellschaftlich relevanten Themenkomplexen bzw. Fragen noch einmal besondere Aufmerksamkeit zukommen:

Sind Fernbeziehungen ein Ergebnis einer größeren Bestrebung nach Individualisierung?

Sind Fernbeziehungen eine neue, eigenständige, deutlich abzugrenzende Lebensform?

Welche Rolle spielen Ambivalenzen im Feld der Fernbeziehungen?

5.1 Fernbeziehung in Folge von Individualisierung und