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Handlungsempfehlungen zur Bewältigung und Abfederung der Auswirkungen

Im Dokument COVID-19: Analyse der sozialen (Seite 79-83)

Karin Heitzmann (Forschungsinstitut Economics of Inequality, INEQ, WU)

5.3 Handlungsempfehlungen zur Bewältigung und Abfederung der Auswirkungen

Mit Beginn des Lockdown Mitte März 2020 wurden etliche Prozesse in Gang gesetzt, die – wie gezeigt worden ist – auch Konsequenzen auf die künftige Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung haben könnten. Und die Aus-nahmesituation ist nicht vorbei. Zwar sind mittlerweile die meisten Betriebe wieder geöffnet. Auch die Schulen wollen ab Herbst wieder in Normalbetrieb gehen. Nichtsdestotrotz ist die Situation nicht mit jener vor März 2020 vergleichbar. Die Unsicherheit bleibt hoch. Ein Impfschutz gegen das Virus wird – im besten Fall – erst mit Ende 2020/Anfang 2021 erwartet. Wirtschaftsforscher*innen rechnen daher mit weiteren Herausforderungen, etwa einer Zunahme von Firmenpleiten und einer neuerlichen Zunahme der Arbeitslosigkeit ab Herbst 2020.

Wie kann unter diesen (unsicheren) Voraussetzungen eine Gegensteuerung gelingen?

Klar ist, dass eine Bewältigung der Krise schwierig ist. Erstens ist der politische Spielraum für Reformen auf Grund (zunehmender) budgetärer Beschränkungen enger geworden. Zweitens wurde die Akutphase der Krise mit dem

Bekenntnis zu einer allumfassenden Solidarität bereits durch eine Phase abgelöst, in der Partikularinteressen stärker in den Vordergrund rücken und damit das Ringen um politische Wahrnehmung – und letztlich um die Verteilung der (knappen) staatlichen Mittel. Vor diesem Hintergrund schlagen unterschiedliche Akteur*innen unterschiedliche Reformnotwendigkeiten vor, von denen etliche auch positive Effekte für die Armutsbekämpfung hätten31. Es mehren sich aber auch die Stimmen, welche die Zeit für eine umfassende Systemreform gekommen sehen, jüngst etwa die Kirchen mit Überlegungen zu einem bedingungslosen Grundeinkommen32. Im Folgenden werden einige Vorschläge skizziert, die mittel- bzw. kurzfristig eine Eindämmung bzw. Reduktion der Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdungsrate bewirken könnten (Kapitel 5.1). Im Anschluss daran wird auf spezifische Unter-stützungsmaßnahmen für die oben angeführten von Armut oder sozialer Ausgrenzung besonders betroffenen Gruppen fokussiert (Kapitel 5.2).

5.3.1 Empfehlungen zur Reduktion der Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdungsrate

Wie oben angeführt, wird Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung durch drei Indikatoren erfasst: durch die Armutsgefährdungsrate, die erhebliche materielle Deprivation und das fehlende oder sehr geringe Ausmaß der Erwerbsintensität (vgl. Box 1 im Anhang). Die ersten beiden Indikatoren hängen stark vom verfügbaren Einkommen in einem Haushalt ab. Im Fall der Armutsgefährdung muss dieses Einkommen schlicht über der für den jeweiligen Haushalt berechneten Armutsschwelle liegen33. Im Fall der erheblichen materiellen Deprivation muss das Einkommen aus Sicht der Haushaltsmitglieder jedenfalls ausreichen, um regelmäßige Zahlungen (z.B.

Miete) aber auch andere (inkl. unerwartete) Ausgaben vornehmen zu können: neben der tatsächlichen Höhe des Einkommens spielen bei diesem Indikator damit auch subjektive Einschätzungen zu Finanzierungs- bzw.

Konsum möglichkeiten eine Rolle, welche in der gegenwärtigen Situation der Unsicherheit mitunter pessimistischer ausfallen könnten als zuvor. Beim Indikator des fehlenden oder sehr geringen Ausmaßes der Erwerbsintensität steht schließlich die Arbeitsmarktbeteiligung der Erwachsenen (20-59 Jahre) im Fokus. Jede erwachsene Person müsste im Jahresdurchschnitt mindestens 8 Wochenstunden erwerbstätig gewesen sein um bei diesem Indikator als nicht betroffen ausgewiesen zu werden34.

Aus den Indikatoren zur Messung von Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung lassen sich somit Handlungs-empfehlungen ableiten. Zunächst ist es wesentlich darauf zu achten, dass das verfügbare Einkommen in einem Haushalt über der Armutsgefährdungsschwelle liegt. 2019 wurde die Armutslücke mit 24% ausgewiesen. Bezogen auf einen Einpersonenhaushalt fehlen damit maximal € 309 pro Person und Monat um die Hälfte der Armutsge-fährdeten über die Armutsschwelle zu heben. V.a. die schon aufgezeigte Erhöhung der Langzeitarbeitslosigkeit durch die COVID-19 Krise, aber auch die – mit zunehmender Dauer der Krise – ungleicher werdende Verteilung der Arbeitslosigkeit (mit einer überproportionalen Betroffenheit von jungen Erwerbstätigen, Ausländer*innen und

31 Vgl. z.B. http://www.armutskonferenz.at/news/news-2020/massnahmen-gegen-die-soziale-krise-hausaufgaben-fuer- die-regierung.html

32 Vgl. z.B. https://religion.orf.at/stories/3002757/

33 2019 belief sich die Armutsschwelle in Österreich auf € 1.286 pro Monat in einem Einpersonenhaushalt, auf € 1.672 bei einem Einelternhaushalt mit einem Kind oder auf € 3.087 bei einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und drei Kindern (https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/armut_und_soziale_eingliede-rung/022861.html). Die Armutsschwelle wird auf Basis der herrschenden Einkommensverteilung jährlich neu berechnet:

die Schwelle kann sich also auf Grund der COVID-19 Pandemie und ihrer Konsequenzen für 2020 und 2021, evtl. sogar deutlich, verschieben.

34 Ist von zwei erwachsenen Personen im Haushalt eine ganzjährig nicht erwerbstätig, dann müsste die zweite Person zumindest 16 Wochenstunden erwerbstätig gewesen sein.

Langzeitarbeitslosen) lässt vermuten, dass Einmalzahlungen (wie sie bereits getätigt worden sind), zumindest in diesen Fällen nicht ausreichen werden, um die Armutslücke mittelfristig zu schließen.

Wie schon gezeigt worden ist, decken die Sozialversicherungsleistungen bei Arbeitslosigkeit das fehlende Erwerbseinkommen nur unzureichend ab. Dies ist eine Konsequenz der niedrigen Ersatzraten von Arbeitslosen-geld und Notstandshilfe. Wenig überraschend würde eine generelle Erhöhung dieser Ersatzraten – wie vielfach gefordert35 – aber auch die Festlegung einer garantierten Mindesthöhe bei den Tagsätzen (ähnlich wie beim Ausgleichszulagenrichtsatz in der Pensionsversicherung) die Lücken zwischen Erwerbseinkommen und Arbeits-losengeld schließen helfen und das verfügbare Einkommen in einem Haushalt erhöhen. Schließlich müsste auch die monetäre Unterstützung durch die Sozialhilfe bzw. die Bedarfsorientierte Mindestsicherung erhöht werden, um Einkommenslücken zu schließen. Denn schon bisher liegt die Höhe dieser Transferleistungen deutlich unter den errechneten Armutsgefährdungsschwellen.

Neben einer Erhöhung sozialer Transferleistungen ist es aber v.a. notwendig, Maßnahmen zu setzen, um mög-lichst viele Personen im Erwerbsalter (wieder) in den Erwerbsarbeitsmarkt zu integrieren. Damit würde auch der Wert für den Indikator der fehlenden oder zu geringen Erwerbsintensität in einem Haushalt geringgehalten. Die COVID-19 Pandemie hat gezeigt, dass externe Schocks Arbeitslosigkeit erhöhen können – und damit Faktoren, auf die Arbeitnehmer*innen (oder Arbeitgeber*innen) keinen Einfluss haben. Maßnahmen, die dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit trotz reduzierter Nachfrage gering zu halten (wie die Corona-Kurzarbeit) sind damit wichtige und richtige Reaktionen auf eine durch exogene Schocks ausgelöste Krise. Darüber hinaus gilt es aber auch – unabhängig von der aktuellen Krise – in das Humankapital (künftiger) Beschäftigter zu investieren bzw. es zu erhöhen. Besonders Personen mit max. Pflichtschulabschluss aber auch (chronisch) kranke oder behinderte Menschen sind überproportional oft von Arbeitslosigkeit betroffen und ihr Risiko langzeitarbeitslos zu werden, ist hoch. Interventionen, welche diese Benachteiligungen beseitigen bzw. abmildern, werden daher schon seit Jahren als notwendige Investitionen zur Reduktion der Arbeitslosigkeit und in weiterer Folge der Armut emp-fohlen. In Österreich gibt es schon viele Erfahrungen zur Integration besonders arbeitsmarktferner Gruppen in den (noch zu etablierenden Dritten,) Zweiten oder Ersten Arbeitsmarkt. Eine Ausweitung des entsprechenden Angebots und eine Einbindung der Expertise der Sozialwirtschaft in diesem Bereich könnten daher auch in der aktuellen Phase der Pandemie erfolgsversprechend sein.

Der Fokus der Ausbildung von Humankapital sollte nicht nur auf Erwachsenen liegen, sondern ganz zentral auch auf Kindern und Jugendlichen, um ihnen möglichst gute Startchancen zu ermöglichen und Benachteiligungen, die in weiterer Folge auch zu Nachteilen am Arbeitsmarkt führen, gering zu halten. Es gibt seit Jahren viele Vorschläge, wie gegengesteuert werden könnte, etwa durch den Ausbau der Frühen Hilfen, ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr, die verstärkte Wahrnehmung und Nutzung von Krippen/Kindergärten als Bildungseinrichtungen, das Aufheben der frühen Segregation in der Bildungslaufbahn, das Vermeiden von frühen Schulabbrüchen, die überproportionale Finanzierung von sogenannten Brennpunktschulen, etc. Diese Art von Investitionen in das Humankapital (künftiger) Erwerbstätiger erhöht nicht nur deren künftige Erwerbs- und damit auch

Einkommens-35 Vgl. z.B. https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2020/PK0410/index.shtml, https://www.ots.at/presseaussen-dung/OTS_20200701_OTS0193/oegb-pocht-weiter-auf-erhoehung-des-arbeitslosengeldes; https://www.arbeiter-kammer.at/interessenvertretung/arbeitundsoziales/arbeitsmarkt/Erhoehung_des_Arbeitslosengeldes_jetzt.html;

https://awblog.at/corona-erhoehung-arbeitslosengeld/

chancen, sondern auch ihre Resilienz im Umgang mit (unter anderem exogen verursachten) Krisen. In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal auf die Zunahme von Unsicherheit und psychischer Belastung während der aktuellen Krise verwiesen, die sich insbesondere auch bei armutsgefährdeten Kindern während der letzten Monate feststellen ließen. Das verlangt nicht nur nach einer Ausweitung eines entsprechenden Therapie angebots.

Gerade in Zeiten der Unsicherheit gilt es – gerade auch durch ausreichende monetäre und nicht-monetäre Unterstützung – Zuversicht zu vermitteln. Dies wirkt sich nicht nur positiv auf die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen aus, sondern könnte auch die große Verunsicherung von Familien mit (armutsgefährdeten) Kindern evtl. etwas abmildern.

Neben einer Erhöhung des Humankapitals v.a. von bildungs- und arbeitsmarktfernen Gruppen, gilt es zudem, weitere Beschäftigungshemmnisse abzubauen. Besonders Mütter mit kleinen Kindern sind entweder gar nicht oder bestenfalls teilzeitbeschäftigt, weil einerseits Betreuungsangebote für ihre Kinder (später dann auch für ältere pflegebedürftige Angehörige) fehlen, andererseits aber auch herrschende Werturteile den Platz der Mütter bei den Kindern sehen und nicht (ganztägig) im Erwerbsarbeitsmarkt (vgl. z.B. Höllinger 2019). Dass es notwendig ist, Betreuungsmöglichkeiten auszubauen, die eine vollzeitbeschäftigte Erwerbstätigkeit ermöglichen, und konservative Werturteile abzubauen, steht daher schon seit Jahren im Forderungskatalog zur Reduktion der Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung.

Auch (chronisch) kranke oder behinderte Personen unterliegen mitunter Beschäftigungshemmnissen, die durch Investitionen (auch in den Arbeitsplatz der betroffenen Personen) beseitigt werden können. Auch dazu gibt es in Österreich schon viel Erfahrung und gute Vorzeigebeispiele: diese auszuweiten würde – einmal mehr – die Beschäftigungsmöglichkeiten von Betroffenen (nicht nur in der COVID-19 Krise) erhöhen und sollten demgemäß gefördert werden. All diese Investitionen würden nicht nur benachteiligten Bevölkerungsgruppen zugutekom-men, sondern v.a. auch Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen – und damit in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit von doppelter Relevanz sein.

5.3.2 Empfehlungen zur Unterstützung der von Armut oder sozialen Ausgrenzung besonders betroffenen Gruppen

In Kapitel 5.1 wurde festgestellt, dass spezifische Bevölkerungsgruppen besonders stark von Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung betroffen sind, allen voran Einelternhaushalte, mittel- und langfristig Arbeitslose und Personen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft. Sie weisen nicht nur Gefährdungsquoten um die 40%

oder höher auf. Informationen zur Entwicklung der Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung seit 2008 weisen zudem auf ihr „chronisches“ Risiko hin. Wie können diese Risikogruppen unterstützt werden? Zunächst würden sie von etlichen der bislang bereits vorgeschlagenen Maßnahmen profitieren, etwa von Investitionen in ihr (und ihrer Kinder) Humankapital, vom Abbau von Beschäftigungshemmnissen etwa durch einen Ausbau von (qualitativ hochwertiger) Kinderbetreuungseinrichtungen, von (höherer) Unterstützung im Fall der Arbeitslosigkeit oder von arbeitsmarktpolitischen oder sozialpädagogischen Programmen zur Unterstützung ihrer (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt.

Darüber hinaus könnten weitere Maßnahmen dazu beitragen, diese Risikogruppen nachhaltiger zu unterstützen:

Vorschläge dazu liegen nicht erst seit der Corona-Krise vor. So müssten etwa monetäre Transfers von nicht-(mehr)-erwerbsfähigen Arbeitslosen und ihrer Familien erhöht werden. Integrationsmaßnahmen von Personen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft müssten weiter ausgebaut und insbesondere ihre Bildungs- und

Arbeitsmarktchancen verbessert werden. Familien von Alleinerziehenden sollte durch unbürokratische Unter-stützung bei (und Erhöhung der) Unterhaltszahlungen bzw. einer staatlichen Übernahme dieser Zahlungen geholfen werden. Gerade mit Blick auf die Risikogruppen ist darüber hinaus anzudenken, auch verstärkt auf selektive Maßnahmen zu setzen. In der Mindestsicherung bzw. Sozialhilfe wird jeder Antrag individuell bewertet um zu entscheiden, ob Unterstützung gebührt. Mit derselben Selbstverständlichkeit und Akribie, mit der dabei Einkommens- und Vermögensverhältnisse geprüft werden, könnten individuelle Unterstützungsangebote gestaltet und betroffenen Risikohaushalten nicht nur durch monetäre Ressourcen, sondern v.a. auch durch soziale Dienst-leistungen, wie etwa sozialpädagogischer Betreuung und Beratung, geholfen werden. Denn auch wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen überproportional von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen sind, ist ihr spezifisches Risikoprofil jeweils einzigartig. Ziel der Interventionen sollte jedenfalls die Unterstützung in der gegenwärtigen Krisensituation sein, aber auch der nachhaltige Ausweg aus der Armuts- oder Ausgrenzungsbetroffenheit.

Neben Unterstützungen von armuts- und ausgrenzungsgefährdeten Menschen bzw. spezifischen Risiko gruppen gilt es schließlich, die Unterstützungssysteme im Blick zu behalten, insbesondere die Einrichtungen des österreichischen Sozialstaats. Diese Institutionen haben ganz wesentlich dazu beigetragen, dass Österreich die aktuelle Gesundheitskrise bislang sehr gut bewältigen konnte. Die COVID-19 Krise wird nicht die letzte Krise sein, mit der wir umgehen müssen. Daher sollte die mittel- und langfristige Steuerung dieser Krise auch unter dem Aspekt der langfristigen Effektivität bzw. „Resilienz“ der Sozial- und Wirtschaftssysteme erfolgen: um für künftige Krisen gewappnet zu sein. Die schon eingesetzten bzw. geforderten (Reform-)Maßnahmen aber auch die relevanten sozialstaatlichen Institutionen, etwa die Arbeitslosenversicherung oder die (unterschiedlichen) Systeme der Mindestsicherung bzw. Sozialhilfe, sollten dazu einer entsprechenden „Nachhaltigkeitsprüfung“

unterzogen werden, insbesondere mit Bezug auf ihre „Armutsfestigkeit“ – und bei Bedarf entsprechend adap-tiert werden. Damit stünden nicht nur ihre kurzfristigen Effekte zur akuten Krisenbewältigung im Vordergrund, sondern auch ihre langfristigen ökonomischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen. Einen diesbezüglichen Diskurs zu führen und entsprechende Analysen vorzunehmen wäre eine lohnende und v.a. relevante Aufgabe für Forschung, Politik und Praxis.

Im Dokument COVID-19: Analyse der sozialen (Seite 79-83)