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Greater Britain: Das Empire der Zeitgenossen

In seinen 1883 erstmals ver¨offentlichten Vorlesungen ¨uber

”The Expansion of England“

bemerkte der erste Regius Professor of Modern History der Universit¨at Cambridge, John R. Seeley:

”Greater Britain is an extension of the English State and not merely of the English nationality. But it is an equally striking characteristic of Greater Britain that nevertheless it is an extension of the English nationality.“1

Die Ausbreitung der englischen Nationalit¨at war f¨ur Seeley synonym mit der Ausbreitung englischen Blutes, der englischen Rasse. Greater Britain, so Seeley weiter, sei dem Schicksal anderer Imperien bisher entronnen,

”and the great question now is whether she can modify her defective constitution in such way as to escape them for the future.“2 Der Historiker aus Cambridge brachte mit seinen Ausf¨uhrungen ¨uber die Vergan-genheit, Gegenwart und Zukunft des britischen Empire keine neue Thematik auf die Tagesordnung gesellschaftlicher Debatten in Großbritannien, sondern reagierte auf das Interesse seiner Zeitgenossen an der Zukunft des Weltreichs. Diese schien aufgrund seiner fehlerhaften Verfassung nicht gesichert. Das Empire war auch kein einheitliches und festgef¨ugtes System. Staatliche Uniformit¨at existierte nicht, da es innerhalb des Reiches unterschiedliche Verwaltungs- und Rechtseinheiten gab, die kaum miteinander

1 Seeley, J.R.,The Expansion of England: Two Courses of Lectures, London21897, S. 54, Hervorhebung im Original.

2 Ebd., S. 51 und 60, Zitat: S. 65.

1

vergleichbar waren. Neben dem Mutterland gab es die Kolonien ohne eigene Verwal-tungsrechte, die aus dem LondonerColonial Office gef¨uhrt wurden, und die Dominions, die Gebiete weißer Siedlungen, die sich zu einem bestimmten Grad selbst verwalteten und regierten, sowie Indien, dem ein eigener Status zugestanden wurde. Br¨uchig erschien dieses System vor allem an den Verbindungsstellen, welche die Gebiete mit ¨uberwiegend britischen und europ¨aischen Siedlern mit dem Mutterland verbanden. Eine erstarkende politische Lobby in den Dominions pochte auf ihre Freiheitsrechte und begann mehr Selbstst¨andigkeit einzufordern, aber auch in der Metropole wurden Stimmen laut, die eine neue Verfassung des Reiches forderten, um das Empire in seiner Gr¨oße zu erhalten.

Ein Beispiel f¨ur eine Organisation, deren Arbeitsfeld die Einheit des Weltreiches war, ist das 1868 gegr¨undeteRoyal Colonial Institute. In der 1882 verliehenen Royal Charter wurden dessen Ziele mit der Bef¨orderung

”[of] the increase and diffusion of knowledge respecting as well Our Colo-nies, Dependencies and Possessions, as Our Indian Empire, and preservation of a permanent union between the Mother Country and the various parts of the British Empire“3

festgeschrieben. Um diese Union zwischen Mutterland und Empire zu realisieren, for-derte die Organisation ¨uber lange Zeit ein imperiales Parlament mit Repr¨asentanten aus dem ganzen Reich und mit legislativer Macht.4 Das System der Imperial and Colonial Conferences der Jahre nach 1897 war der Versuch, ein solches Parlament einzusetzen und damit diesem Raum ein neues Gef¨uge zu geben.

Greater Britaingalt Seeley aber nicht nur als eine Erweiterung des englischen Staates, sondern auch der englischen Nation. Wer es sich leisten konnte, begab sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auf eine Reise durch die Dominions und das restliche Empire.

Erm¨oglicht wurde dies auch von dem ReiseveranstalterThomas Cook, der 1879 erstmals auch Australien und Neuseeland in seinen Reisekatalog aufnahm.5 Die Reisen ins Empire wurden immer mehr zu einem Ersatz f¨ur die Grand Tour des 17. und 18. Jahrhunderts und die Forschungsreisen der Generationen danach. Bereits Anthony Trollope wollte mit seinen Reiseberichten ¨uber die aktuellen sozialen und politischen Zust¨ande seiner

3 Reese, Trevor R.,The History of the Royal Commonwealth Society, 1868-1968, London 1968, S. 28.

4 Ebd., S. 19 ff. und 32.

5 Brendon, Piers,Thomas Cook: 150 Years of Popular Tourism, London 1991, S. 187.

Reisel¨ander berichten und fand dabei auch in den sp¨atviktorianischen Reisenden seine Gefolgschaft. Loyalit¨at zu den Normen und Werten der Heimatgesellschaft war diesen Touristen wichtig und passenderweise konnte dem geneigten Leser eine – wenn auch nicht sehr objektive – kulturelle Einheit des Empire und seiner Bewohner vor Augen gef¨uhrt werden.6

James Anthony Froude, ebenso wie Seeley Historiker, begab sich am 6. Dezember 1884, ein Jahr nach der Ver¨offentlichung von Seeleys

”The Expansion of England“, gemeinsam mit seinem Sohn auf das Dampfschiff Australasia mit dem Ziel S¨udafrika und Australien. Sechs Wochen sp¨ater in Adelaide angekommen erstaunte ihn nicht nur

”the pure English spoken there“,7 sondern auch das Verhalten seiner Gastgeber, der Familie des Leiters des Hafens vor Ort:

”[The] ladies were engaged over the national five-o’clock tea. We were 12, 000 miles away from England, yet we were in England still, and England at its best, so far as I could gather from the conversation.“8

Die Familie erkundigte sich

”about ,home‘ and what was going on there.“9 Home, das war f¨ur diese Australier England und bei der Lekt¨ure von Froudes Reisebeschreibung

”Oceana Or England and Her Colonies“, trifft der Leser immer wieder auf Beschreibun-gen der emotionalen Bindung der Siedler an England und ihrerEnglishness.

Viele Zeitgenossen legten besonderen Wert auf die kulturellen angels¨achsischen Grund-lagen, welche das K¨onigreich mit seinen Kolonien verband. Unter ihnen war auch Seeley, dem die Bezeichnung ,Empire‘ zu militaristisch und despotisch klang. Daher bevorzug-te er die schon von Charles Dilke eingef¨uhrte Bezeichnung ,Greater Britain‘.10 James Anthony Froude f¨uhrte seine Reise durch Australien, Neuseeland, S¨udafrika und Nord-amerika durch ein Territorium, das er mit ,Oceana‘ umschrieb, sich an James Har-ringtons Bezeichnung aus dem 17. Jahrhundert anlehnend.11 Allen gemeinsam ist ihre

6 Korte, Barbara, Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne, Darmstadt 1996, S. 133.

7 Froude, James Anthony, Oceana Or England and Her Colonies, London 31886, S. 84.

Der Reinheit des australischen Englisch stellt Froude das unreine amerikanische Englisch gegen¨uber.

8 Ebd., S. 88 ff.

9 Ebd.

10Seeley, Expansion, S. 44; Dilke, Charles Wentworth,Problems of Greater Britain, London

41890, S. vii.

11 Froude, Oceana, S. 1 f.

Betonung der kulturellen Gemeinsamkeiten und daraus abgeleitet die Bedeutung dieses Bundes, der damit vor allem die weißen Siedler in den Kolonien mit den Bewohnern der britischen Inseln verband. Diese ¨Ubereinstimmungen werden durch das Fehlen Indiens in Seeleys Konzept des Greater Britain deutlich, w¨ahrend die nicht vorhandene rassi-sche Homogenit¨at in solch heterogenen Gesellschaften wie Kanada und S¨udafrika mit ihren frankophonen und burenst¨ammigen Einwohnern ¨uberhaupt nicht angesprochen wird. Doch spiegelte dieses Konzept einerseits die Bem¨uhungen vieler Personen und Organisationen wie demImperial Federation Movement wider und diente ihnen gleich-zeitig als wissenschaftliche Best¨atigung ihrer Bem¨uhungen um St¨arkung der imperialen Beziehungen auf der Grundlage von Rasse und Kultur.

Dies zeigt sich exemplarisch in den Vorlesungen John F. Seeleys. Er sah das Empire auf stabilem Grund, da zwei Bedingungen stabiler Staaten mit der

”community of race, community of religion“ auch bei diesem gegeben waren. Er sagte eine weitere St¨arkung des Empire durch die Gemeinschaft der Interessen voraus.12 Doch neben

”blood and religion“ war seit dem Sieg des Freihandels in den 1840er Jahren auch die Bedeutung von Geschichte, Sprache und Literatur zur Begr¨undung des Kolonialbesitzes gestiegen.

Auch die Distanz hatte nicht mehr den gleichen Einfluss auf das Funktionieren oder Scheitern dieses großen Systems, denn durch die neuen Errungenschaften einer

”new circulation, which is steam and a new nervous system, which is electricity“13 waren diese H¨urden teilweise abgebaut worden.

Uber die verbesserten Handelswege wurden neben Rohstoffen und Produkten auch¨ die Produzenten dieser Waren verbreitet: Emigranten, welche die wachsende Nachfra-ge nach Arbeitern in Fabriken und Minen in den ¨Uberseegebieten erf¨ullten. Auch sie versuchten ihre britisches Umfeld zu bewahren und so gelangten mit ihnen britische Ausbildungspraxis, Gewerkschaften, Traditionen und Organisationen in Gebiete weitab der heimatlichen K¨uste. Die britische GewerkschaftAmalgamated Society of Engineers (ASE) hatte 1901, f¨unfzig Jahre nach ihrer Gr¨undung, Zweigstellen in Kanada, den USA, S¨udafrika, Australien, Neuseeland, aber auch auf Malta, in Indien, Gibraltar und

¨uber das Empire hinaus in der T¨urkei, Frankreich und Spanien. Ein Mitglied der Ge-werkschaft war Tom Mann, der 1883 f¨ur ein paar Monate seinen Arbeitsplatz in einer Londoner Maschinenfabrik mit dem in der New Yorker Zuckerfabrik Havermeyer and

12 Seeley, Expansion, S. 13.

13 Ebd., S. 60 und 86 f.

Elder vertauschte. Knapp zwanzig Jahre sp¨ater, inzwischen ein anerkannter Arbeiter-f¨uhrer in Großbritannien, weitete er den Raum seiner politischen Aktivit¨aten ¨uber die Grenzen seines Heimatlandes aus und wirkte knapp zehn Jahre als Arbeiterf¨uhrer, Ak-tivist, Gewerkschafter und Politiker in Australien, Neuseeland und S¨udafrika.

Die Zukunft des Empire war aber nicht nur von der Verbesserung der Kommunika-tions- und Handelswege abh¨angig, sondern noch mehr von der politischen Verfassung des Reiches, die auf einer Interessengemeinschaft gr¨undete. Ein Ziel der am Erhalt des Empire interessierten Zeitgenossen war somit, aus der Patchwork-Verfassung des 19.

Jahrhunderts eine einheitliche, von gemeinsamen Interessen geleitete Verfassung des 20. Jahrhunderts zu schaffen.

Vor allem im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gab es viele gesellschaftliche Dis-kurse dar¨uber, wie das politisch und wirtschaftlich sehr unterschiedlich aufgeteilte Em-pire enger verbunden werden k¨onne. Nachdem in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Einf¨uhrung des responsible government und dem Colonial Law Validity Act der Grad der Selbstverwaltung in den nordamerikanischen Kolonien und den Antipoden sowie das Verh¨altnis zwischen Großbritannien und seinen Dominions festgeschrieben worden war,14 wurden in Großbritannien die Stimmen derer lauter, die sich f¨ur eine Konsolidie-rung des Raumes des Empire aussprachen. Zur gleichen Zeit pl¨adierten einige Gruppen in den Dominions f¨ur eine Neujustierung der Beziehung mit Großbritannien. Im Gespr¨ach waren dabei Vorschl¨age verschiedener Lobbygruppen, darunter der Imperial Federation League, des Round Table Movement, sowie von Einzelpersonen wie Joseph Chamber-lain, die von Modellen einer Imperial Union oder einer F¨oderation bis hin zu einer Art Imperial Zollverein oder Military Union reichten. Insgesamt waren ¨uber 150 verschie-dene Modelle im Gespr¨ach. Die Zahl allein zeigt schon die Bedeutung, die wichtige Segmente der politischen Elite dieser Frage beimaßen.15

14 MacIntyre, William David, The Commonwealth of Nations: Origins and Impact, 1869-1971, Minneapolis 1977 (= Europe and the World in the Age of Expansion, Bd. 9), S. 24.

15 Kendle, John Edward, The Colonial and Imperial Conferences 1887 - 1911: A Study in Imperial Organization, London 1967 (= Imperial Studies, Bd. 28), S. 3. Zu den verschie-denen Modellen siehe vor allem: Cheng, Seymour Ching-Yuan, Schemes for the Federation of the British Empire, New York 1931 [ND 1968]; Kendle, John, Federal Britain: A Histo-ry, London 1997, Kendle, Conferences; Kendle, John E., The Round Table Movement and Imperial Union, Toronto 1975; Hancock, William K.,Problems of Nationality 1918-1936, Ox-ford 1936 [ND 1964] (= Survey of British Commonwealth Affairs), S. 31 ff.; Browne, Harry, Joseph Chamberlain, Radical and Imperialist, London 1974, v.a. S. 52 ff.; Mock, Wolfgang, Imperiale Herrschaft und nationales Interesse. ’Constructive Imperialism’ oder Freihandel in Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1982 (= Ver¨offentlichungen des

Deut-Sp¨atestens mit dem Statute of Westminster von 1931, welches die Bezeichnung Commonwealth und das Grundprinzip der Gleichberechtigung in einem Gesetzestext festschrieb, war die Hochzeit der florierenden Verfassungsentw¨urfe zur Neubegr¨undung eines Greater Britain oder einer British World vor¨uber. Unterschiedliche Vorstellungen der Kolonien und des Mutterlandes ¨uber die Interessensgemeinschaft sowie das Aussehen der zuk¨unftigen Zusammenarbeit und die Machtverteilung darin waren ausschlaggebend f¨ur das Scheitern der meisten Vorschl¨age. Auch waren die Dominions mehr an ihren je-weilig individuellen Beziehungen mit dem Mutterland interessiert und weniger an einem einheitlichen imperialen Raum multilateraler Beziehungen auch an der Peripherie des Empire.

Trotz des Scheiterns darf die Bedeutung der Idee eines Greater Britain f¨ur das po-litische Denken und Handeln nicht untersch¨atzt werden. Ihr lag die Vorstellung einer auf gemeinsamer Kultur und Herkunft basierenden Einheit zugrunde, welche durch ver-fassungsrechtliche Elemente aneinander gebunden werden sollte. Aufgrund dieser Vor-schl¨age kann davon ausgegangen werden, dass in der politischen und gesellschaftlichen Elite Großbritanniens diese Vorstellung weit verbreitet war. Auch kann ein Austausch mit den Eliten in der Peripherie des Empire nachgewiesen werden; die genannten Or-ganisationen, die ihre Mitglieder im ganzen Empire rekrutierten, sind daf¨ur nur ein Beispiel. Bisher wurde davon ausgegangen, dass diese Verbundenheit mit den ,Br¨udern und Schwestern‘ in ¨Ubersee von der britischen Mittel- und Unterschicht nicht geteilt wurde.16Dies liegt aber vor allem daran, dass dieser Teil der Empiregeschichte f¨ur lange Zeit ein verwaistes Dasein f¨uhrte. Seit einigen Jahren werden jedoch auch die bisher vernachl¨assigten Schichten in Untersuchungen bedacht, so dass die M¨oglichkeit einer gesamtgesellschaftlichen Analyse n¨aherr¨uckt.

schen Historischen Instituts London, Bd. 13), S. 59 ff.; Thompson, Andrew S., Tariff Reform:

An Imperial Strategy, 1903-1913, in: Historical Journal 40 (1997), S. 1033-1054, hier v. a.

S. 1042, findet die Zollvereinsidee in geschichtlicher Interpretation ¨uberbewertet. Semmel, Bernard, Imperialism and Social Reform: English Social-Imperial Thought 1895-1914, Lon-don 1960, S. 115 und 123.

16 So zum Beispiel Rose, Jonathan, The Intellectual Life of the British Working Classes, New Haven 2001; Porter, Bernhard, The Absent-Minded Imperialists: Empire, Society, and Culture in Britain, Oxford 2004.