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Die elit¨aren Diskurse, politischen Entscheidungen und verfassungsrechtlichen Regelun-gen geben jedoch noch keine Auskunft dar¨uber, wie andere gesellschaftliche Schichten zum Empire standen und welchen Nutzen sie diesem beimaßen oder in welchem Raum sie Politik dachten.

In der Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten 30 Jahren ein Perspektiven-wandel zugetragen, der zur Folge hatte, dass dem Raum als Kategorie ein h¨oherer Stel-lenwert zugeordnet wird. Prominentes Beispiel ist dabei der Historiker Karl Schl¨ogel, der in und mit seinem Buch

”Im Raum lesen wir die Zeit. ¨Uber Zivilisationsgeschich-te und Geopolitik“ daf¨ur pl¨adiert, dass Raum, Zeit und Handlungen wieder zusammen gedacht werden m¨ussen, um ein angemessenes Bild von der Welt gewinnnen zu k¨ on-nen.17 Ausgehend von den Arbeiten Henri Lefebvres, David Harveys, Derek Gregorys und Edward W. Sojas fand vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften eine Um-orientierung und sie begleitende Debatten statt, die unter dem Begriff

”spatial turn“

zusammengefasst werden k¨onnen.18 Die Chronologie der Ereignisse wird dabei von der Betrachtung des Raumes an die Seite gedr¨angt, oder sogar ganz verdr¨angt.19Gerade in der Debatte ¨uber die Globalisierung sind kulturelle Reaktionen und Vernetzungen von großer Bedeutung. Matthias Middell weist dabei daraufhin, dass der Raum mit der Glo-balisierung und im Schatten des Konstruktivismus nicht verschwinde,

”sondern er wird erzeugt, indem individuelle und kollektive Akteure Raumbez¨uge f¨ur ihr Tun herstellen und sprachlich ausdr¨ucken.“20 Andrew Herod zeigt wiederum die Bedeutung des Raum-es nicht nur f¨ur das Verst¨andnis des Kapitalismus, sondern auch f¨ur das der Arbeiter und der Arbeiterbewegungen auf.21

17 Schl¨ogel, Karl,Im Raum lesen wir die Zeit. ¨Uber Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, M¨unchen 2003, S. 24.

18 Lefebvre, Henri, The Production of Space, Oxford 1991; Gregory, Derek, Geographical Imaginations, Cambridge, Mass. 1994. Siehe dazu auch: Csaky, Moritz and Christoph Leitgeb (Hrsg.),Kommunikation, Ged¨achtnis, Raum. Kulturwissenschaften nach dem

”Spatial Turn“, Bielefeld 2009; D¨oring, J¨org and Tristan Thielmann, Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: D¨oring, J¨org and Tristan Thielmann (Hrsg.),Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 7-45; Soja, Edward W., Vom ,Zeitgeist‘ zum ,Raumgeist‘. New Twists on the Spatial Turn, in: D¨oring, Spatial Turn, S. 241-262.

19 Siehe dazu Assmanns Konzept des Palimpsests, Assmann, Aleida, Geschichte findet Stadt, in: Cs´aky, Moritz and Christoph Leitgeb (Hrsg.),Kommunikation, Ged¨achtnis, Raum.

Kulturwissenschaften nach dem

”Spatial Turn“, Bielefeld 2009, S. 13-27.

20 Middell, Matthias, Der Spatial Turn und das Interesse an der Globalisierung in der Geschichtswissenschaft, in: D¨oring, Spatial Turn, S. 103-123, hier: S. 118 f.

21 Herod, Andrew, Workers as Geographical Actors, in: Labor History 53 (2012), S.

335-Der Raum ist auch in den Ideen eines Greater Britain oder Oceana sowie den De-batten ¨uber eine einheitliche Verfassung f¨ur das britische Empire von Bedeutung, zumal hier das Bild eines einheitlichen, zusammengeh¨orenden Empire suggeriert wird, welches f¨ur viele eine Erweiterung des englischen Staates und der englischen Nationalit¨at, aber auch des Bewegungs-, Wirtschafts- und Arbeitsraumes bedeutete. Jedoch ist dies, vor allem in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht, zumeist das Bild der politischen Eliten.

Das wirft die Frage auf, ob auch in anderen Schichten das Empire als eine Art einheit-licher Raum angesehen und erfahren wurde. Dabei kann gefragt werden, inwieweit das Empire von der Arbeiterschicht f¨ur eine L¨osung der Arbeitslosigkeit in Großbritannien in Betracht gezogen und akzeptiert wurde, entweder durch Emigration oder durch Z¨ ol-le? Entwickelte die Arbeiterbewegung ihre Vorschl¨age zur Verbesserung ihrer Situation nur auf nationaler Ebene oder bezog sie die Gebiete jenseits der Grenzen Großbritan-niens in ihre ¨Uberlegungen mit ein, nahm sie Erfahrungen aus diesen Gebieten in ihre Theorien auf? Wurde das Empire auch von diesen Schichten als ein politischer Raum erfahren, in dem gesellschaftliche und politische Themen zusammen kamen, in dem Gesellschaft gedacht wurde? Und schließlich: Was kann ¨uberhaupt als Raum in diesem Sinne verstanden werden?

Raum in diesem Sinne hat wenig mit dem physikalischen, kartographierbaren Raum zu tun. Der Raum in diesem Sinne beinhaltet eine gesellschaftliche Komponente, die in den Theorien von Lefebvre und anderen entwickelt wurden. Dabei wird zwischen unterschiedlichen Raumkategorien unterschieden. Lefebvre entwickelte die Kategorien material space, representation of space und spaces of representation sowie perceived, conceived und lived space;22 Cassirer spricht von organic, perceptual und symbolic space,23 Harvey wiederum kategorisiert einen absoluten, einen relativen und einen rela-tionalen Raum.24Allen gemeinsam ist, dass sie die bin¨are Perspektive der traditionellen Geographie aufbrechen und eine dritte Kategorie hinzuf¨ugen. Lefebvre entwickelte seine 353.

22 Lefebvre, Production; Lefebvre, Henri, Die Produktion des Raumes (1974), in: D¨unne, J¨org and Stephan G¨unzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kul-turwissenschaften, Frankfurt 2012, S. 330-342; siehe auch: Gottdiener, Mark, Ein Marx f¨ur unsere Zeit. Henri Lefebvre und die Produktion des Raumes, in:An Architektur 01 (2002), S. 22-26, hier: S. 23; Soja, Zeitgeist, S. 250 ff.

23 Cassirer, Ernst, What Is Man?, in: Cassirer, Ernst (Hrsg.), Gesammelte Werke. Ham-burger Ausgabe, Bd. 23, Darmstadt 2006, S. 1-69, hier: S. 42 ff.

24 Harvey, David, Space as a Key Word, in: Gebhardt, Hans and Peter Meusburger (Hrsg.), Spaces of Neoliberalization: Towards a Theory of Uneven Geographical Development, Stutt-gart 2005, S. 93-115.

Theorien ausgehend von ¨Uberlegungen zur Verr¨aumlichung von Produktionsverh¨ altnis-sen in der marxistischen Theorie, die dann von Harvey aufgenommen, mit der Frage nach einer historischen Geographie von Raum und Zeit erweitert und mit dem Fokus auf die Sozialwissenschaften von Gregory und Giddens weiterentwickelt wurden. Allen gemeinsam ist die Tendenz, dass sie

”das Physische, das Mentale und das Soziale“

miteinander verbinden.25

An den ersten beiden Kategorien von Harvey kann die Grundlage der hier ange-f¨uhrten Ans¨atze erkl¨art werden. Der absolute Raum, der first space, ist fixiert, es ist der Raum der Kartographie, des direkten Erlebens. Im relativen Raum, second space, treten f¨ur Harvey weitere Komponenten wie zum Beispiel die Zeit hinzu. Hier k¨onnen unterschiedliche Karten gezeichnet werden in Bezug auf Distanz gemessen durch Zeit, Kosten, Fortbewegungs- oder Kommunikationsmittel, aber auch durchbrochene Raum-bez¨uge in Bezug auf Netzwerke oder topologische Relationen, wenn zum Beispiel die optimale Route eines Brieftr¨agers errechnet werden soll. Dabei spielt auch der Stand-punkt des Beobachters eine wichtige Rolle.26Harvey f¨ugt diesen beiden Kategorien noch eine dritte hinzu, die sich auf die Gef¨uhle, Assoziationen, Erinnerungen, Imaginationen und Relationen in Hinblick auf den/einen Raum bezieht.27

Dieses Aufgeladensein des Raumes neben dem Vorhandensein von Personen und Dingen innerhalb des Raumes beschreibt Foucault: Wir

”leben nicht in einer Leere, in-nerhalb derer man Individuen und Dinge einfach situieren kann [. . . ], sondern in einem Raum, der mit Qualit¨aten aufgeladen ist, der vielleicht auch von Phantasmatiken be-v¨olkert ist“, mit einer

”Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren.“28 Bei Anwendung dieser Kategorien l¨asst sich das Empire wie folgt darstellen: Der absolute Raum des Empire l¨asst sich anhand der rot gef¨arbten Karten ermessen, die ein Empire zeigen ,in dem die Sonne nie untergeht‘. Ver¨anderungen im Raum treten auf, wenn die Krone ein neues Territorium unter ihren Schutz stellt, die Dominions etwas weiter in ihr Hinterland vordringen oder sp¨ater, sobald ein neuer Staat in die

25 Gottdiener, Marx, S. 23, ¨uber Lefebvres Raumtheorie, die auch auf die nachfolgenden Theorien zutreffen.

26 Giddens verweist in diesem Bezug auf die Raum-Zeit-Konvergenz von Janelle, Giddens, Anthony, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundz¨uge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt 1984, S. 165.

27 Siehe hierzu exemplarisch Harvey, David, Monument and Myth, in:Annals of the Asso-ciation of American Geographers 69 (1979), S. 362-381.

28 Foucault 1999, S. 148, zitiert nach: Maresch, Rudolf and Niels Werber, Permanenzen des Raums, in: Maresch, Rudolf and Niels Werber (Hrsg.),Raum. Wissen. Macht, Frankfurt 2002, S. 7-30, hier: S. 14.

Unabh¨angigkeit entlassen wird. Die Topographie selbst jedoch bleibt immer gleich.

Der relative Raum des Empire ist im 19. Jahrhundert vielen Ver¨anderungen un-terworfen. Der Bau des Suezkanals, die Verbreitung der Eisenbahn und der Dampf-schifffahrt, die Einf¨uhrung derimperial penny post und die Verlegung von Telegraphen-leitungen – sogar auf dem Meeresgrund zwischen den Kontinenten – verschieben die Raumbez¨uge, vor allem die der Raum-Zeit-Relation und der Raum-Zeit-Kosten-Relation in hohem Maße. Die ersten Gr¨undungsmitglieder derAmalgamated Society of Engineers in Australien ben¨otigten 1852 auf dem Segelschiff Frances Walker 17 Wochen f¨ur die Uberfahrt von London nach Sydney. 1920 ben¨¨ otigte ein Royal Mail Steamer f¨ur die gleiche Strecke 43 Tage und einLancastrian Mail Plane 1945 nur noch 63 Stunden.29 Die Kategorie des ,dritten‘ Raumes scheint komplexer: Das britische Empire muss dabei als ein Geflecht von Erinnerungen, Assoziationen und Gef¨uhlen gesehen werden, die einerseits von staatlicher Seite propagiert, andererseits durch direkte Erfahrungen oder indirekt, durch Erz¨ahlungen oder durch Imagination, erworben und weiterverbreitet wurden. F¨ur einige Gruppen ist dieser Raum aufgef¨ullt mit der Idee einer gemeinsamen Rasse oder einer politischen Verfassung.

Im Hinblick auf die oben angesprochene Frage aber nach dem Raum des Empire in breiten Gesellschaftsschichten kann das Konzept des dritten Raumes, des relationalen Raumes, benutzt werden um ein Raumkonzept zu entwickeln, mit dem eine Grund-lage eines politisch zusammengef¨ugten beziehungsweise zusammenzuf¨ugenden Empire diskutiert werden kann. Ein Konzept, mit dem die Frage nach dem Raum der Arbeiter-bewegung, zumindest zum Teil, beantwortet werden kann.

Craig Calhoun hat in einem Aufsatz ¨uber die M¨oglichkeiten einer Integration Europas durch eine ¨Offentlichkeit im Habermas’schen Sinne den Satz formuliert:

”If Europe is not merely a place but a space in which distinctively European relations are forged and European visions of the future enacted, then it depends on communication in public, as much as on distinctively European

29Amalgamated Engineering Union,Souvenir 25th Anniversary AEU Australia, 1945, 1945, S. 65. Zu Preissenkungen im Postverkehr im Empire siehe: Dilke, Problems, S. 629 und Thompson, Andrew,The Empire Strikes Back? The Impact of Imperialism on Britain from the Mid-Nineteenth Century, Harlow 2005, S. 58 ff. Siehe auch Belich, James,Paradise Reforged:

A History of the New Zealanders From the 1880s to the Year 2000, Auckland 2001, S. 19:

”Certainly, by the 1880s, rail, telegraph and steamships were beginning to shrink New Zealand to a size in which countrywide communities of interest could been imagined.“ Weiterhin auch:

Benians, E. A., James Butler and C. E. Carrington (Hrsg.), The Empire-Commonwealth, 1870-1919, Bd. 3, Cambridge 1959, S. 199 f.

culture, or political institutions, or economy, or social networks.“30

Ahnlich wie bei der Frage nach der Integration in einer politisch und wirtschaftlich¨ immer n¨aher zusammenwachsenden Europ¨aischen Union und dem damit einhergehen-den Ruf nach einer Europ¨aischen Verfassung, schwebte den Verfechtern der unterschied-lichen wirtschaftunterschied-lichen und politischen Reformpl¨ane f¨ur das britische Empire Zukunftsvi-sionen des Reiches vor, die sich auf die speziellen Beziehungen innerhalb dieses Raumes bezogen. Neben spezifischen Wirtschafts- und Kulturbeziehungen, sozialen Netzwerken und politischen Institutionen ben¨otigte es aber auch eine gesonderte Kommunikation in der ¨Offentlichkeit. Habermas selbst spricht mit Verweis auf eine europ¨aische De-mokratie von einem Kommunikationsnetz einer europaweiten politischen ¨Offentlichkeit und darin vorkommenden politikbezogenen Arenen der Bezugnahme auf europ¨aische Belange.31 Geht der teilweise zu elit¨are und auf ein gemeinsames politisches System gem¨unzte ¨Offentlichkeitsbegriff des Diskurses und der Partizipation noch an der obigen Fragestellung zum Empire vorbei, so findet sich im 1998 von Habermas entwickelten Arenabegriff eine bessere Hilfestellung. Dabei bezeichnet er Arenen als Kommunikati-onsnetze politischer ¨Offentlichkeit, in denen eine mehr oder weniger rationale Meinungs-und Willensbildung ¨uber gesamtgesellschaftlich relevante und regelungsbed¨urftige Ma-terien stattfinden kann.32 Weiterf¨uhrend ist diese Arena auch der Bereich, in dem eine Gesellschaft gedacht wird und dadurch real und gestaltet wird.33

Aus diesen Verbindungen zwischen Raum, Zeit und Handlungen soll nun im Fol-genden ein vierdimensionaler Raumbegriff im Sinne des relationalen Raumes entwickelt werden:34 der Aktions-, der Kommunikations-, der Referenz- sowie der Probleml¨ osungs-raum. Die Bezeichnung ,Raum‘ wird dabei gegen¨uber der Bezeichnung ,Arena‘ bevor-zugt, da in dieser Arbeit ein Konzept entwickelt werden soll, welches ¨uber den ¨ Offent-lichkeitsbegriff hinaus geht. Mit dem britischen Empire soll des Weiteren ein System

30Calhoun, Craig, The Democratic Integration of Europe: Interests, Identity, and the Public Sphere, in: Berezin, Mabel and Martin Schain (Hrsg.),Europe without Borders. Remapping Territory, Citizenship, and Identity in a Transnational Age, Baltimore 2003, S. 243-274, hier:

S. 243.

31 Habermas, J¨urgen, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1999, S. 183 f.

32J¨ager, Wieland and Marion Baltes-Schmitt,J¨urgen Habermas. Einf¨uhrung in die Theorie der Gesellschaft, Wiesbaden 2003, S. 91.

33 Calhoun, Integration, S. 249.

34 Dabei geht es, wie Schl¨ogel anf¨uhrt, um eine

”gesteigerte Aufmerksamkeit f¨ur die r¨ aum-liche Seite der geschichtaum-lichen Welt“ und nicht um eine allgemeing¨ultige Theorie des Raumes.

Siehe: Schl¨ogel, Raum, S. 68.

untersucht werden, welches ein Raum im ersten (absoluten) und zweiten (relativen) Sinne ist. Diese zwei Kategorien bedingen auch den zu formulierenden Raumbegriff.

Auch in diesem Konzept existiert eine Peripherie, Distanzen sind auch hier vorhanden und ihre ¨Uberwindung oder Nicht-¨uberwindung lassen sich nicht aus den K¨opfen der Zeitgenossen herausdefinieren und spiegeln sich in deren Diskursen und Handlungen wider. Jonathan Rose fasst dieses Ph¨anomen in einem Satz ¨uber das Verh¨altnis der englischen Arbeiterklasse mit dem Empire folgendermaßen zusammen:

”Their love for England stopped at Dover.“ Bezeichnenderweise heißt das Kapitel, aus dem dieses Zitat stammt

”The World Unvisited“. In dem Unterkapitel

”A Map of the World“, analysiert er die mangelnden Geographiekenntnisse der Arbeiterkinder, deren imagin¨are Weltkar-te, die mental map, wirklich in Dover aufh¨ore, da sie von den meisten jenseits davon liegenden Gebieten entweder noch nie etwas geh¨ort h¨atten oder aber diese auf keiner Karte einordnen k¨onnten. Er illustriert dies mit den Saul Steinberg Karikaturen von New York, mit dem Unterschied, dass hier London oder Coventry als Zentrum der Welt fungieren und nach Dover die große Leere anf¨angt, die vielleicht noch von einem weit entfernten Australien oder Afrika durchbrochen wird.35

Die ¨Uberschneidungen und Differenzen dermental map der Arbeiterklasse mit dem absoluten und dem relativen Raum sind von Bedeutung bei der Frage nach dem po-litischen Raum der Arbeiterbewegung und damit nach der Grundlage eines erneuerten Greater Britain in den unteren Schichten der britischen Gesellschaft.

Der Aktionsraum soll den Radius aktiven Handelns abbilden, w¨ahrend im Kommu-nikationsraum das Ausmaß und die Grenzen des kommunikativen Handelns aufgezeigt werden. Beide zusammen k¨onnen Aufschluss dar¨uber geben, ob die ¨Offentlichkeit ¨uber die staatlichen Grenzen des demokratischen Willensbildungsprozesses und der demo-kratischen Partizipation hinausgeht. Sind der Kommunikations- und der Aktionsraum

¨aquivalent zum staatlichen Raum oder wie weit wagen sich die B¨urger aus dessen Grenzen heraus? Wie weit geht die Imagination und was unterst¨utzt diese ¨Offnung der Grenzen? Kommunikation ben¨otigt keine Anwesenheit, die Ver¨anderungen im re-lativen Raum, vor allem die Zeit-Kosten-Relation durch Dampfschifffahrt und penny post, erm¨oglichen eine Ausweitung und Intensivierung des Kommunikationsradius. Die

35 Rose, Life, S. 338 und 342. Auch Catherine Hall spricht zum Beispiel von

”implicit maps of empire“ der Chartistbewegung, ohne auf diese jedoch weiter einzugehen, Hall, Catherine, Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination, 1830-1867, Cambridge 2002, S. 282.

Kosten- und Zeitersparnis durch die Einf¨uhrung der Dampfschifffahrt wirken sich auch auf den Aktionsradius aus. Nun war es nicht mehr nur der obersten Schicht oder dem Staat m¨oglich, den Preis f¨ur Hin- und R¨uckfahrten in die Kolonien aufzubringen. Wel-che anderen Faktoren die Kommunikations- und Aktionsr¨aume der Arbeiterbewegung beeinflussen und welche Grenzen dadurch erreicht werden, sind weitere Fragen, die hier gestellt werden m¨ussen. Es ist aber auch interessant zu sehen, welche ¨ Ubereinstimmun-gen zwischen den beiden R¨aumen bestehen. Ist f¨ur das aktive Handeln die k¨orperliche Anwesenheit notwendig oder kann dieser aktive Teil in der Arbeiterbewegung auch von der Kommunikation ¨ubernommen werden?

Die aktive und kommunikative Interaktion unterscheidet die vorgestellten R¨aume vom Referenzraum, der den Bereich abbildet, aus dem in gesellschaftlichen Debatten Vergleiche herangezogen werden. Die ¨Offentlichkeit ist hierbei nur insofern vorhan-den, als es um die Inhalte ihrer Debatten geht. Bei der Frage nach sozialstaatlichen Ver¨anderungen w¨aren auf einer Karte aus englischer Perspektive am Ende des 19. Jahr-hunderts neben den europ¨aischen L¨andern Frankreich und Deutschland die Dominions Neuseeland und Australien, aber auch die USA ¨uberproportional vertreten, w¨ahrend die s¨udamerikanischen und asiatischen L¨ander kaum oder nur, als terrae incognitae, in Umrissen vorkommen w¨urden. Diese Perspektive kann Aufschluss dar¨uber geben, in welchem Raum von den Protagonisten der Debatte Bez¨uge, sei es kultureller oder po-litischer Art, gesehen werden. Die Interpretation der Relevanz der Bez¨uge, angezeigt durch die Topographie der Bezugsstellen, sagt etwas ¨uber das Raumgef¨uhl der Debattie-renden aus. Weitergehend zeigt diese Karte, welchen Gebieten kulturelle oder politische Gemeinsamkeiten zugesprochen werden.

Die vierte Dimension bezieht sich wieder mehr auf das aktive Handeln, oder zumin-dest die M¨oglichkeiten aktiven Handelns. Der Probleml¨osungsraum bildet den Bereich ab, in dem L¨osungen f¨ur aktuelle oder zuk¨unftige Missst¨ande gesehen oder ausgef¨uhrt werden. Um den Probleml¨osungsraum auszuloten muss danach gefragt werden, welche Bereiche f¨ur die L¨osung verschiedener gesellschaftlicher Probleme in Betracht gezogen wurden. Sollten L¨osungen auf substaatlicher, auf staatlicher oder suprastaatlicher Ebene angesiedelt werden, welche Gebiete wurden einbezogen und auf welche Kriterien wurde dabei Bezug genommen? Dabei spielt es keine Rolle, ob dies staatliche Probleml¨osungen oder wirtschaftliche oder private L¨osungsans¨atze waren, wie sie zum Beispiel von Inter-essengruppen, Sozialorganisationen oder Gewerkschaften angestrebt oder durchgef¨uhrt

wurden.

1.3 British World: Das Empire in der neueren