und
sie dadurch sich selbst kennen lernen, wie weit sie in derTugend gekommen
sind,und was
ihnen zu tun übrig ist.Dieser Geist der
Wahrheit geht,
nachdem Worte
Jesu inunserem Texte,
vom Vater aus;
er ist ein Geschenk der Gott-heit,von
welcher alle guteGaben kommen, und
das Edelste,was
sie der Menschheit gab.
Aber
Gott gab dieses Geschenk nicht etwa nur einigenund
versagte es anderen, er gab die Anlage dazu allen; gab sie gewiß auch jedem, der hier gegenwärtig ist.—
Oh, meine Brüder,
warum
kann ich nicht mit jedem unter euchin die geheime Geschichte seines Herzens zurückgehen;
warum
kann ich nicht jedem Schritt für Schritt die Vorfälle aufzählen, bei denen die bessere Seele in ihm lauterwurde?
Denkt
zurück an die innigeBewegung,
mit der die meisten unter euch das erstemal beim Nachtmahle erschienen; an die Tränen der Rührung, mit denen ihr damals vor denAugen
Gottesund
denAugen
derGemeinde
angelobtet, derStimme
eures Ge-wissens stets zu gehorchen; an dieernsthaftenVorsätze der Besse-rung, mit denen ihr dieseHandlung
oft wiederholt habt; an die43
Predigten.
noch ernsthafteren Vorsätze, die ihr faßtet,
wenn
Krankheit oder eine andereNot
euch veranlaßte, einen Blick in euer Innerstes zu tun; an den Schauderund
das Herzklopfen, das auch den Verdorbensten unter uns übermannte,wenn
er eineSünde
tun wollte, die ihm neuund
größer war, als seine vorhergehenden;an das Entsetzen, das uns alle befällt,
wenn
wir von einer harten Ungerechtigkeit, von einer großen Schandtat hören—
alles das waren und sind Spuren dieser besseren Seele in uns.Und nun
ist es unsere Sache uns zu prüfen, wieviel von dieser ursprünglichen Wahrheitsliebe wir in uns übriggelassen haben.Und
diese Prüfung, meine Brüder, ist nicht schwer; auf der Stelle können wir unserHerz
aufdem
Betrüge ergreifen,wenn
es uns betrügt.Der
gemeinste Begriff, den selbst der Unausgebildetste von seinerBestimmung
hat, ist der,Gott zu gefallen und
,,inden Himmel zu komme
n“.Wer
ist unter euch, der das nicht hoffe?Worauf
gründen wirnun
diese Hoffnung,—
nicht vonGottes
Seite, davon ist hier nicht die Rede,—
sondernvon der
unsrigen,
oder,was
denkenw
ir zu tun,um
„in denHimmel
zukommen“?
Tröstet ihr euch' etwa eures Kirchen-und
eures Nachtmahlsgehens—
oder wohl gar einer kalten Reue, die ihr einst aufdem
Sterbebette empfinden wollt—
tröstet ihr euch irgendeines Dinges, außer der gewissenhaften Erfüllung aller euer Pflichten,und
des ernstesten Entschlusses nichts zu tun,was
ihr für unrechthaltet, sohat euch bisher euerHerz
betrogen, denn es hat euch an ein anderes Gesetz angewiesen, als an euerGewissen. . >;
Ihr habt alle irgendein Vorhaben; ihr habt vielleicht un-längst irgendein anderes ausgeführt.
— Könnt
ihr im Ernste wünschen, daß jeder eurerNebenmenschen
stetsund immer
so handle, daß er auch gegen euch so handle, wie ihr gehandelt habt, oder zu handelnim
Begriffe steht; könnt ihrwünschen
in einerWelt
zu leben,wo
jeder so handelt? Solltet ihr dieses nicht wünschen können,—
haltet ihr demungeachtet eureHandlung
noch für gerechtund
billig? Haltet ihr sie dafür, so seidver-44 J. G. Fichte.
sichert, daß euer
Herz
euch betrügtund
daß dieEntschuldigungen, die es euch darbieteb eitelTäuschungen
sind.Es
ist,wenn
wir in dieserPrüfung
unserHerz
nicht ganz lauter befunden haben sollten,nun
unsere Sache, zu sehen, wie wir diese Wahrheitsliebe in uns wieder hersteilen wollen,— wenn
wir anders nicht länger jeden Blick, den wir in unseren Busen werfen, mit Erröten wieder zurückreißen wollen; nicht länger vondem Auge
des ehrlichenMannes
uns gedrückt fühlenund
schüchtern suchen wollen, unserHerz
vorihm
zu verbergen, daß er nicht durch irgendeine Spalte desselben unsere Schande ent-decke; nicht längerdem Gedanken
an Gott, den Herzenskündiger,und
an die Zukunft, mitAngst
ausweichen wollen.Dazu
gibt esnun
leider kein Mittel,was
nicht wenigstens einen Teil dieser Warheitsliebe voraussetzte, die dadurch erst hervorgebracht werden soll.Wer
gar keinemehr
hat, der istohne Rettungverloren; treibt ihn in die Enge, soviel ihr wollt,
—
er wird stets recht haben,
und
nie wird esihm
an Entschul-digungenund
Ausflüchten fehlen; er wird, wie Jesus sagt, nicht glauben,und wenn
die Toten auferstündenund ihm
die Wahrheit predigten; daher denn auch die Gottesgelehrten diesen Zustand sehrpassend dasGericht der Verstockung
genannt haben.Aber
sollte es viele, sollte es überhauptMenschen
geben, dieso
tief verfallen seien?
Auf
das verdorbensteHerz
geschehen zu-weilen noch gute Eindrücke,wenn
ihnen ihr ganzer trauriger Zustand rechtnachdem
Leben vorAugen
gemalt wird; oderwenn
sie in ein großes
Unglück
verfallen, ausdem
sie mit ihrer ganzen Kraft sich nicht retten können; oderwenn
sie das Schauspiel einer großen Untat erblickenund
sich gestehen müssen, daß sie aufdem
geradenWege
zudem
gleichen Verbrechen sind; oder, welches das letzteund
härteste Rettungsmittel in derHand
derVorsehung
ist,— wenn
sie selbst in eine große Missetat fallen, über die sie hinterher sich selbst entsetzen.Gott gebe, daß keiner in unserer Mitte sei, der solcher Mittel bedürfe; er gebe, daß keiner, der ihrer bedarf, auch diese un-genützt lasse.
Amen
!
No. III.
Im Dokument
Johann Gottlieb Fichte
(Seite 48-51)