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der Gesellschaft. Hausbesetzungen und Atomwaffenfreie Zonen als alternative Raumpraktiken

Im Dokument 98 »All we ever wAnted ...« (Seite 54-74)

Eine Schildkrötenformation von Polizisten, gefolgt von einem Wasserwerfer, kommt vor einem Zaun zum Stoppen. »Hier beginnt die AWF-Zone«, informiert eine Hinweistafel über den Sinn der Abzäunung. Den Blick ins Innere der »Zone« ge-richtet, melden sich von einem nahen Häuserdach unterdes Medienvertreter »haut-nah vom Ort des Geschehens, wo das konspirative Gehabe der Zonesier fast ins terroristische lappt«. In ihrem Blickfeld, im Inneren des Häuserblocks, entfaltet sich derweil die große Vielfalt raumorientierter Handlungsmuster des links-alter-nativen Milieus der frühen 1980er Jahre: Vom besetzten Haus mit Bioladen zur atomwaffenfreien Schule, von feministischen Transparenten zur Unterschriften-sammlung für den »Krefelder Appell«, von der Kleindemonstration zum »Anar-chie«-Graffiti.1

Die Karikatur, die 1983 auf dem Höhepunkt der Nachrüstungsdebatte in einer lokalen Friedenszeitung erschien, verdichtet in selbstironischer Prägnanz die Be-deutung nahraumorientierter Handlungsmuster für die alternativ-politischen Bewegungen um 1980. Das Agieren mit Räumen und Orten war eines der mar-kantesten Charakteristika des Protestes dieser Zeitphase. Hierbei stellten Räume und Orte nicht bloß die »Bühne« dar, auf der gesellschaftliche Konflikte ausgetra-gen wurden. Sie waren vielmehr selber Geausgetra-genstand der Auseinandersetzung,2 in-dem die Arbeit am Nahraum und der Versuch, lokale Räume zu verändern, mit dem Ziel gesamtgesellschaftlicher Veränderungen verbunden war: Der (erwartete) Einfluss auf den Nahraum des Hauses, der Straße, der Kommune oder der Region galt als ein entscheidender Faktor in der Formation von Protest.

In diesem Beitrag werden wir am Beispiel von »Atomwaffenfreien Zonen«

und Hausbesetzungen vertiefen, welche Erwartungen Aktivisten an die Bezug-nahme auf den nahräumlichen Kontext hatten und welche Praktiken sich in die-sem Zusammenhang herausbildeten: Welchen sozialen Sinn erfüllten politische

1 Widerstand ‘83 (Poster), Beilage zu: taubenschlag. Zeitschrift der Duisburger Friedensinitiativen, 2 (1983) Nr. 6 [Thannhäuser Graphik Duisburg], Archiv für alternatives Schrifttum Duisburg (afas).

2 Zur Gegenüberstellung von politischem Arbeiten »in« der Stadt und »an« der Stadt vgl. auch Detlef Siegfried:

»Urbane Revolten, befreite Zonen. Über die Wiederbelebung der Stadt und die Neuaneignung der Provinz durch die ›Gegenkultur‹ der 1970er Jahre«, in: Adelheid von Saldern (Hg.): Stadt und Kommunikation in bun-desrepublikanischen Umbruchzeiten, Stuttgart 2006, S. 351-366, S. 351 f.; vgl. auch Werner Lindner: Jugend-protest seit den fünfziger Jahren. Dissens und kultureller Eigensinn, Opladen 1996, S. 414 ff.

Raumkonstitutionen nach Ansicht der links-alternativen Akteure? Welche Rolle spielten dabei speziell Nahräumlichkeit, Lokalitätsbezug und das Arbeiten »an der Stadt«? Warum strebten Aktivisten Interventionen im Nahraum an – gerade auch bei Themen, deren Reichweite eindeutig jenseits des örtlichen Horizonts lag? Und wie stellten sie sich vor, über Raumkonstitutionen und Eingriffe in Raumstrukturen im eigenen Lebensumfeld weiter übergreifende Veränderung her-beiführen zu können?

In Anlehnung an Martina Löw begreifen wir Raum dabei als eine »relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen«; dieser wird konstituiert durch die Prozesse des »Spacings« – als »Plazieren von sozialen Gütern und Menschen«

bzw. als »das Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen« – sowie durch Pro-zesse der Syntheseleistung.3Räume werden an Orten lokalisiert; diese sind »Ziel und Resultat der Plazierung«, ohne selber plaziertes Element zu sein.4 Links-alter-native Eingriffe in Raumstrukturen und Praktiken der Raumkonstituierung kön-nen als Handlungsansätze gedeutet werden, welche Regelmäßigkeiten sozialen Handelns betreffen und etablierte Sinnkonstitutionen sowie Handlungssanktionie-rungen in Frage stellen.5Denn die untersuchten raumorientierten Praktiken bezo-gen sich darauf, wie gesellschaftliche Strukturen im repetitiven Alltag rekursiv reproduziert werden; sie zielten darauf ab, institutionalisierte Räume sowie Raumstrukturen zu modifizieren und auf diese Weise umfassendere Veränderun-gen zu ermöglichen.6

Am Beispiel der Atomwaffenfreien Zonen und der Hausbesetzungen lässt sich ein äußerst breites Spektrum verräumlichter Protestpraktiken analysieren. In Atomwaffenfreien Zonen und besetzten Häusern manifestierte sich sowohl die Erwartung, Gesellschaft durch »kleinste Schritte« verändern zu können, als auch Räume zu schaffen, in denen eine andere soziale Ordnung bereits im Hier und Jetzt möglich sein sollte. Beide Handlungsformen können verdeutlichen, wie weit die symbolische Besetzung, physikalische Aneignung und Konstitution von Räu-men und Orten das Protestgeschehen im Wechselspiel mit den lokalen Kontexten konturierte. Auf diese Weise kann die Diskussion dieser Beispiele nicht zuletzt aufzeigen, wie die Verflechtung zwischen Protest und lokalen Raumkonstitutio-nen genauer analysiert und über einzelne Protestformen hinaus vergleichbar ge-macht werden kann.

3 Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/Main 2001, S. 158 ff.

4 Ebd., 198 ff.

5 Zur Raumstruktur vgl. ebd., S. 166 ff.

6 Ebd., S. 163 f.

Nahräumliches Handeln: Erfahrungen und Deutungsmuster

Praktiken wie Hausbesetzungen und die Schaffung Atomwaffenfreier Zonen ord-neten sich in einen umfassenden Kontext raumbezogener Handlungsweisen ein.

Diese waren um 1980 nachhaltig von einem Bündel an Faktoren geprägt: von der Ebene der Alltagserfahrungen, der Identität und Authentizität, über das Streben nach Erfahrbarmachungen bis hin zu Gestaltbarkeit und Einflussnahme im Nah-raum.7

Die explizite Thematisierung nahräumlicher Zusammenhänge durch Protestbe-wegungen in Folge von »1968« erfolgte in größerem Stile zuerst in den frühen 1970er Jahren. Mit der Hinwendung neo-marxistischer Aktivisten zum sogenann-ten Reproduktionsbereich rücksogenann-ten etwa die Orte des Wohnens, der Freizeit und der Ausbildung in den Fokus. Verortbare Räume wurden in diesem Kontext so-wohl als bedeutend begriffen, um die kritisierte Durchdringung der Lebenswelt durch »Macht« und »Kapital« greifbar zu machen, als auch, um Widerstand zu generieren.8Der Glaube an eine unmittelbare, lebensweltliche Evidenz und Rele-vanz identifizierter Problemlagen paarte sich hierbei mit dem Ziel, diese Problem-lagen im Sinne konkreter »Betroffenheiten« überhaupt erst erfahrbar zu machen und aus ihnen heraus mögliche Gegenstrategien zu entwerfen.9Raumgebundene Identitätskonstruktionen bildeten einen wesentlichen Teil dieses politischen Handlungsansatzes, gerade etwa in den zur Sanierung vorgesehenen Vierteln, in denen um 1980 vermehrt Häuser besetzt wurden.10Besetzte Häuser, in den 1970er Jahren häufig mit der Etablierung sozial-kultureller Zentren verknüpft,11 fungier-ten dabei als eng umgrenzte Räume, in denen authentische Identität erfahrbar werden sollte. Als Schlüssel dazu galt ein selbstbestimmtes Zusammenleben, das

7 L. A. Kauffman: »Small Change. Radical Politics since the 1960s«, in: Marcy Darnovsky (Hg.): Cultural Politics and Social Movements, Philadelphia 1995, S. 154-160.

8 Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Frankfurt/Main 2001, S. 340-345; Margit Mayer: »Städtische Soziale Bewegungen«, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.): Die sozia-len Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt/Main 2008, S. 293-318, S. 298; Sigmar Gude: »Der Bedeutungswandel der Stadt als politischer Einheit«, in: Hermann Korte (Hg.): Zur Politisierung der Stadtplanung, Düsseldorf 1971, S. 85-125, S. 118.

9 Vgl. etwa zur Kritik an der Sanierung ehemaliger »Arbeiterviertel« Georg Wagner-Kyora: »›Das Zweck-mäßige ist fast immer auch schön‹. Stadtplanung, Wohnkultur und Lebensstile in der Bundesrepublik der sechziger Jahre«, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, S. 615-645; Phil Cohen:

»Sub-Cultural Conflict and Working Class Community«, in: Stuart Hall (Hg.): Culture, Media, Language.

Working Papers in Cultural Studies, 1972–79, London 1992, S. 78-87.

10 Adelheid von Saldern: Häuserleben. Zur Geschichte städtischen Arbeiterwohnens vom Kaiserreich bis heute, Bonn 1995, S. 25 f.; Sebastian Haumann: »Protest auf Kölsch. Lokale Identität und Mobilisierung in der Köl-ner Südstadt 1970–1980«, in: Geschichte im Westen 22 (2007), S. 251-268; vgl. ders.: »Schade, daß Beton nicht brennt…« Planung, Partizipation und Protest in Philadelphia und Köln 1940–1990, Stuttgart 2011.

11 Detlef Siegfried: »›Einstürzende Neubauten‹. Wohngemeinschaften, Jugendzentren und private Präferenzen kommunistischer ›Kader‹ als Formen jugendlicher Subkultur«, in: AfS 44 (2004), S. 39-66; vgl. Egon Schewe: Selbstverwaltete Jugendzentren. Entwicklung, Konzept und Bedeutung der Jugendzentrumsbewe-gung, Bielefeld 1980.

dort dem als Entfremdung wahrgenommenen Leben in der »Mehrheitsgesellschaft«

entgegengesetzt werden sollte.12Über die Erfahrung konkreter Orte hinaus, an denen Authentizität und Gemeinschaft erlebbar wurde, führten diese nahräumli-chen Interventionen zu praktisnahräumli-chen Erfolgen – sozial-kulturelle Zentren wurden in ihrem lokalen Kontext durchaus von den Autoritäten geduldet.13Auch das politi-sche Handeln des Alternativmilieus und der Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre war in vielerlei Hinsicht durch Raumbezüge geprägt;

seine Akteure begriffen den »Alltag als Lebensumfeld, die Erfahrung als Lern-modus und die Partizipation als Eingriffsmöglichkeit«.14Verbunden mit dem An-spruch auf eine umfassende Politisierung des Alltags und im Versuch, neue For-men des Lebens und Wirtschaftens zu erproben, entfalteten die Akteure des Alternativmilieus ihren politischen Handlungsansatz auch und gerade in nah-räumlichen Kontexten.15

In den frühen 1980er Jahren erreichte der Raumbezug politischen Handelns verstärkt auch den Protest gegen Rüstung, Kriegsgefahr und Militär. Im Kontext der neuen Friedensbewegung, die sich seit dem NATO-Doppelbeschluss (12.12.1979) und mit der Wiederverschärfung des Kalten Krieges zu Beginn der 1980er Jahre zu formieren begann, nahmen nahraumorientierte Praktiken eine wichtige Rolle ein. Obgleich die neue Friedensbewegung nicht allein aus »alter-nativ« geprägten Akteuren bestand, sondern auch Vertreter der orthodoxen Lin-ken, Christen, Sozialdemokraten und andere umfasste, wurde der tendenziell alternativ geprägte Handlungsansatz einer verräumlichten und betroffenheitsori-entierten Politik nun auch vermehrt in der Rüstungsdebatte verwendet. Akteure der Friedensbewegung versuchten gezielt, die Frage nach Rüstung, Krieg und Mi-litär an lokale Kontexte anzubinden. Dies war Teil einer politischen Strategie, welche die Gefahren eines als abstrakt empfundenen Rüstungswettlaufs für die einzelnen Bürger (wieder) erfahrbar machen wollte. So erklärte eine Schrift über kommunale Friedensarbeit programmatisch: »Nicht die Politik des ›Vorgarten harkens‹ ist mit der Entwicklung langfristiger Friedensarbeit auf kommunaler

12 Sven Reichardt: »Authentizität und Gemeinschaftsbindung. Politik und Lebensstil im linksalternativen Milieu vom Ende der 1960er bis zum Anfang der 1980er Jahre«, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 21 (2008), S. 118-130.

13 Christian Heppner: »Von der ›Stadtkrone‹ zum Jugendfreizeitheim. Integrations- und Desintegrationsprozesse in der Gründungsphase eines Kommunikationszentrums in Garbsen«, in: von Saldern (Hg.): Stadt und Kom-munikation, S. 328-349; Sebastian Haumann: »Hausbesetzungen in Hilden 1980–1982. Protest im Kontext lokaler Ambitionen und Realität«, in: Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Mittelstadt. Urbanes Leben jenseits der Metropole, Frankfurt/Main 2010, S. 207-222.

14 Detlef Siegfried: »Die Rückkehr des Subjekts. Gesellschaftlicher Wandel und neue Geschichtsbewegung um 1980«, in: Olaf Hartung/Katja Köhr (Hg.): Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Hein-rich Pohl, Bielefeld 2008, S. 125-146, S. 132.

15 Sven Reichardt/Detlef Siegfried: »Das Alternative Milieu. Konturen einer Lebensform«, in: dies. (Hg.): Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Eu-ropa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 9-24; Detlef Siegfried: »Superkultur. Authentizität und politische Moral in linken Subkulturen der frühen siebziger Jahre«, in: Habbo Knoch (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl. Politi-sche Moral und solidariPoliti-scher Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 251-268.

Ebene und unter Einbeziehung kommunalpolitischer Instrumente gemeint, son-dern eine Politik, die die Verplanung für den nächsten Krieg sichtbar machen will, dort, wo die Menschen es am besten nachvollziehen können: in ihren unmittelba-ren Lebensbereichen. Friedensarbeit auf kommunaler Ebene setzt dort an und ent-wickelt zugleich die politische Perspektive der Abrüstung, eines atomwaffen-freien Europas, des Stops und Abbaus der neuen US-Atomraketen usw.«16

Sinnzuschreibungen: »Freiräume« und das Streben nach Gesellschaftsveränderung

Die Plausibilität, politische Veränderungen entlang nahräumlicher Praktiken an-zustreben, entfaltete sich für die Aktivisten in einem Spannungsfeld von Ab-schließung einerseits, Öffnung und gezielter Durchdringung der Gesellschaft von diesen Räumen ausgehend andererseits. Die Attraktivität nahraumorientierter Handlungsformen schien sich so zum einen aus der Möglichkeit zu speisen, eine

»andere« Gesellschaft bereits im Hier und Jetzt zu verwirklichen: Alternativen Wertvorstellungen konnten in kleinen und kleinsten Räumen Geltung verschafft, abweichende Formen sozialer Organisation gelebt werden. Die Handlungsformen waren aber zum anderen auch mit dem Anspruch verbunden, von den geschaffe-nen Kleinräumen ausgehend, in die Gesamtgesellschaft hineinzuwirken. Diese latente Spannung zwischen dem Rückzug auf einen Raum, den Aktivisten selbst strukturieren konnten, und dem Anspruch, nach außen zu wirken, wurde zeit-genössisch intensiv diskutiert.17Dabei entstand ein spezifischer nahraumbezoge-ner Ansatz, um diese Spannung aufzulösen.

In der Hausbesetzerbewegung wurde häufig auf Autonomie als Ziel der Aktio-nen rekurriert.18Die Intention, besetzte Häuser als autonome Räume zu konzipie-ren, hatte hierbei zwei Seiten: Auf der einen Seite legitimierte der Rekurs auf

»Autonomie« Praktiken der Abschirmung und der Selbstsegregation. Besetzer wollten verhindern, dass etwa die Polizei oder Sozial- und Jugendämter Einfluss auf ihr Zusammenleben nahmen. Auf der anderen Seite erwarteten sie, Autonomie als gesellschaftsstrukturierendes Prinzip durchzusetzen. Die Realität besetzter

16 Klaus Mannhardt: Stützpunkte für den Krieg – oder Orte des Friedens? Für kommunale und regionale Frie-densarbeit. Gegen Militarisierung. Die Friedensliste, Bonn 1985, S. 30. Zu den Raumpraktiken der Friedens-bewegung generell vgl. Susanne Schregel: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970–1985, Frankfurt/M. 2011.

17 Vgl. etwa Wolfgang Kraushaar (Hg.): Autonomie oder Getto? Kontroversen über die Alternativbewegung, Frankfurt/Main 1978; Freia Anders: »Wohnraum, Freiraum, Widerstand. Die Formierung der Autonomen in den Konflikten um Hausbesetzungen Anfang der achtziger Jahre«, in: Reichardt/Siegfried (Hg.): Das alterna-tive Milieu, S. 473-498, S. 485 f., S. 492 ff.

18 Thomas Stahel: Wo-Wo-Wonige! Stadt- und wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968 (Diss., Univer-sität Zürich), Zürich 2006, S. 63 und S. 75 f.; Geronimo: Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen, Berlin/Amsterdam 1997 (5. Aufl.), S. 118 f.

Häuser galt ihnen als Ausgangspunkt, um die Logik bürgerlicher Normen und der repräsentativen Demokratie zu transzendieren.19

Als Abwehrmodus war die Autonomie besetzter Häuser dem starken Interesse an der persönlichen und sozialen Selbstverwirklichung der Beteiligten geschuldet.

Darin konstruierten die Besetzer einen Raum, der durch alternative Normen und Werte um Freiwilligkeit und Solidarität strukturiert war.20Das Ausleben indi-vidueller Bedürfnisse und Wünsche wurde dabei bewusst als Gegenkonzept zur bürgerlichen Gesellschaft verstanden, deren vermeintlichen oder tatsächlichen sozialen Anpassungsdruck sie zur Bedrohung des eigenen Lebens stilisierten. So unterstellten Hausbesetzer im rheinischen Hilden den Stadtspitzen in einem zyni-schen Kommentar, sie seien »... [f]ür die Ausrottung der aufmüpfigen Jugend – Für neue Arbeitslager + für den totalen Polizeistaat!«21Besetzte Häuser mussten aus Sicht der Aktivisten gegen die invasiven Eingriffe von Behörden und den schleichenden Einfluss kapitalistischer Durchdringung geschützt werden, um dem Konformitätsdruck der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft zu widerstehen.22

Häufig hielten Besetzer nicht nur nonkonformes Verhalten für ein positives Attribut der Selbstverwirklichung, sondern tendierten dazu, auch selbstschädigen-des und kriminelles Verhalten als Ausdruck von Selbstverwirklichung und als Strategie der Abgrenzung zu dulden.23Allerdings führten Kriminalität, Drogen-konsum und Gewalt in besetzten Gebäuden auch in der Wahrnehmung der poli-tisch motivierten Aktivisten zu Problemen. Eine Gruppe, die 1980 das Kölner

»Stollwerck« besetzt hielt, machte dafür jedoch die Gegenseite verantwortlich:

»... diese Gewalt haben wir nicht erfunden. Sie existiert tagtäglich, manchmal of-fensichtlich, manchmal verdeckt in unserer Stadt. Wir sind nicht für diese Gewalt verantwortlich, wir fangen sie auf.«24Dennoch war es für etablierte Politiker ein Leichtes, besetzte Häuser in der Öffentlichkeit als »rechtsfreie Räume«, etwa als

»Wallfahrtsort für Rauschgiftabhängige und Dealer«25darzustellen und ein hartes Durchgreifen zu fordern. Klaus Hübner, Polizeipräsident von West-Berlin, stellte

19 George N. Katsiaficas: The Subversion of Politics. European Autonomous Social Movements and the Decolo-nization of Everyday Life, Atlantic Highlands, NJ 2006, S. 6; Laszlo A.Vaskovics: »Subkulturen und Subkul-turkonzepte«, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 8 (1995) Nr. 2, S. 11-23, S. 18.

20 Reichardt: »Authentizität und Gemeinschaftsbindung«, S. 126; Matthias Manrique: Marginalisierung und Mi-litanz. Jugendliche Bewegungsmilieus im Aufruhr, Frankfurt/Main 1992, S. 152 f.

21 Westdeutsche Zeitung – Lokalteil Hilden, 1.7.1982: »Die Seitenfassade ...«

22 Thomas Balistier: Straßenprotest. Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland zwi-schen 1979 und 1989, Münster 1996, S. 88 f.; Renate Mulhak: »Der Instandbesetzungskonflikt in Berlin«, in:

Peter Grottian/Wilfried Nelles (Hg.): Großstadt und neue soziale Bewegungen, Basel 1983, S. 205-252, S. 220 f.; Peter Schulz-Hageleit (Hg.): Lieber Instandbesetzen als Kaputtbesitzen! Unterrichtsmaterialien zur Wohnungspolitik, Berlin 1981, S. 142 f.

23 Vgl. Volkmar Gessner/Winfried Hassemer (Hg.): Gegenkultur und Recht, Baden-Baden 1985; Heppner, S. 341-345.

24 Initiative »Wohnen im Stollwerck«: Stollwerck Zeitung Nr. 3, 14.6.1980, Historisches Archiv der Stadt Köln (HAStK), Best. 7740, 1437.

25 Rheinische Post – Lokalteil Hilden: »Benrather Straße gestern geräumt«, 2.6.1982. Vgl. zur Figur des »rechts-freien Raumes« generell: Anders, S. 488 f.

1982 den Zusammenhang zwischen den Autonomiebestrebungen der Besetzer und dem Konflikt mit dem staatlichen Gewaltmonopol heraus, als er analysierte:

»Die Ordnungs- und Regellosigkeit, in der Szene zur Lebensform geworden, hat zwangsläufig den Konflikt mit den gesellschaftlichen Spielregeln, also auch den Strafgesetzen zur Folge. Dies wiederum löst das Einschreiten der Polizei aus...«26

Eine »andere« Gesellschaft in den besetzen Häusern zu verwirklichen, war aber nur ein Aspekt des leitenden Autonomiekonzepts. So reflektierte der Kölner

»Häuserrat« im Januar 1981 über den Sinn von Besetzungen: »Wir sind auf der Suche nach einem anderen Leben. Ein Leben gegen die uns vorgesetzte Gesell-schaft, bestehend aus Konkurrenzdenken, Arbeitshetze, Konsumzwang, Opportu-nismus, kaputter Zwischenmenschlichkeit und Chauvinismus. Vielen von uns ist klar, daß wir unser Leben nur dann gestalten können, wenn wir das System abge-schafft (sic!), dem System unsere Macht entgegensetzen, es mit allen Mitteln und auf allen Ebenen bekämpfen. Wir geben uns nicht damit zufrieden, wenn die Stadt und die Hausbesitzer alle leerstehenden Häuser zur Verfügung stellen. [...] Solche Freiräume kann das System leicht schlucken, sie sind leicht integrierbar.«27Der bloße Rückzug und das Leben in autonomen Räumen wurden als Abkehr von ge-sellschaftsverändernden Zielen angegriffen. »Wir kritisieren nicht unsere relati-ven Freiräume an sich, sondern Freiräume als Ziel. Für uns sind sie Ausgangs-punkte in unserem Kampf. ›Freiräume‹ erobern, absichern ... das ist klassischer Reformismus! Das bringt kein System ins Wanken ...«28Die Schaffung autonomer Freiräume sollte also nicht Selbstzweck sein, sondern mit einer gesellschaftsver-ändernden Kraft gepaart werden. Vor dem Hintergrund des Konzeptes der Auto-nomie, wie es von Besetzern bemüht wurde, war es das Ziel, durch Subversion die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zu transzendieren.29Konkret konnten be-setzte Häuser Verunsicherung über die flächendeckende Geltung von Werten und Normen schaffen. Es ging hierbei auch darum, scheinbar unumstößliche Wertun-gen und Regeln der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft aus dem Nahraum heraus als wandelbar darzustellen und damit ihre generelle Validität anzugreifen.30

Wie genau diese Beziehung zwischen »Freiräumen« und weiter übergreifender Gesellschaftsveränderung vorgestellt wurde, können Debatten über den Sinn Atomwaffenfreier Zonen weiter verdeutlichen. Diese wurden von friedensbeweg-ten Aktivisfriedensbeweg-ten als eine Möglichkeit propagiert, eigenen Wertvorstellungen und Ansichten über Verteidigungspolitik gerade in alltäglichen sozialen Zusammen-hängen Ausdruck zu verleihen. In der eigenen Nahumgebung kleine und kleinste

26 Klaus Hübner: Hausbesetzungen aus polizeilicher Sicht, Berlin 1982, S. 15.

27 Kölner Häuserrat: Häuserrat Info, Januar 1981, HAStK, ZS V 238, 8.

28 Radikal Nr. 1 1982, zitiert nach: Geronimo, S. 120.

29 Vgl. dagegen Siegfried: »Revolten«, S. 362 ff.

30 Helmut Willems: Jugendunruhen und Protestbewegungen. Eine Studie zur Dynamik innergesellschaftlicher Konflikte in vier europäischen Ländern, Opladen 1997, S. 262; Roland Roth: »Neue soziale Bewegungen und liberale Demokratie. Herausforderungen, Innovationen und paradoxe Konsequenzen«, in: Ansgar Klein (Hg.):

Neue soziale Bewegungen. Impulse, Bilanzen und Perspektiven, Opladen 1999, S. 47-63, S. 50.

Räume als Atomwaffenfreie Zonen zu deklarieren, erfüllte nach der Überzeugung der Akteure einen mehrfachen Zweck. So sollte die Praxis zum einen die über-lokal relevante Drohung eines atomaren Krieges in konkreten, erfahrbaren Zu-sammenhängen anbinden. Zum anderen war der Ansatz zugleich mit der Erwar-tung verbunden, aus dem Nahraum heraus neue Handlungspotenziale für die Einzelnen erschließen zu können.31Die Forderung nach atomwaffenfreien Kom-munen – erklärte in diesem Sinne ein Aufsatz über Atomwaffenfreie Zonen –

»macht deutlich, daß jeder Ort, jede Straße, jedes Haus durch die schon vorhande-nen und geplanten Atomwaffen betroffen ist und sich aus der konkreten Betrof-fenheit im Rahmen seiner Möglichkeiten für eine andere Politik einsetzen muß«.32 Anders als etwa im Kontext der sozial-kulturellen Zentren konnten auf diese Weise unmittelbare Erfolge kaum erzielt werden. Dennoch begriffen die Verfech-ter Atomwaffenfreier Zonen diese als eine Möglichkeit, die Perspektive mög-licher Erfolge alltagswirksam zu verankern. Atomwaffenfreie Regionen und Kommunen erfüllten den Zweck, »die für viele zunächst abstrakte politische Idee von einem atomwaffenfreien Europa konkret zu machen«, erklärte so ein Rat-geber der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste: »An die Stelle der abstrakten

»macht deutlich, daß jeder Ort, jede Straße, jedes Haus durch die schon vorhande-nen und geplanten Atomwaffen betroffen ist und sich aus der konkreten Betrof-fenheit im Rahmen seiner Möglichkeiten für eine andere Politik einsetzen muß«.32 Anders als etwa im Kontext der sozial-kulturellen Zentren konnten auf diese Weise unmittelbare Erfolge kaum erzielt werden. Dennoch begriffen die Verfech-ter Atomwaffenfreier Zonen diese als eine Möglichkeit, die Perspektive mög-licher Erfolge alltagswirksam zu verankern. Atomwaffenfreie Regionen und Kommunen erfüllten den Zweck, »die für viele zunächst abstrakte politische Idee von einem atomwaffenfreien Europa konkret zu machen«, erklärte so ein Rat-geber der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste: »An die Stelle der abstrakten

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